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Synnöve Solbakken: Erzählung

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6

Synnöve hatte es am Tage darauf erfahren, daß Thorbjörn zur Hochzeit gewesen war. Sein jüngerer Bruder war mit der Nachricht nach der Alm hinaufgekommen. Ingrid aber hatte ihn gerade noch draußen im Vorbau erwischt, als er gehn wollte, und sie hatte ihm eingeschärft, was er sagen sollte. Synnöve wußte deswegen nichts weiter, als daß Thorbjörn umgeworfen hatte und dann nach Nordhaug gegangen war, um Hilfe zu suchen, daß Knud und er dort aneinandergeraten waren und daß Thorbjörn leicht zu Schaden gekommen wäre und jetzt zu Bette liege, ohne daß indessen die Sache gefährlich sei. Die Nachricht war derart, daß Synnöve sich mehr darüber ärgerte als betrübte. Und je mehr sie darüber nachsann, um so verzagter wurde sie. Wie viele Versprechungen er ihr auch machte, immer betrug er sich doch wieder so, daß die Eltern etwas gegen ihn zu sagen hatten. ›Aber trotzdem lassen wir uns nicht auseinanderbringen,‹ dachte Synnöve.

Es kam nicht häufig Nachricht auf die Alm hinauf, und deswegen währte es eine ganze Weile, ehe Synnöve wieder etwas erfuhr. Die Ungewißheit lastete schwer auf ihrem Gemüt, und Ingrid kam nicht wieder herauf, folglich mußte sich irgend etwas ereignet haben. Sie war nicht mehr imstande, ihre Kühe des Abends heimzusingen, so wie sie es früher getan hatte, und des Nachts schlief sie nicht gut, da Ingrid ihr fehlte. So kam es, daß sie am Tage müde war, und das machte ihr den Sinn nicht leichter. Sie ging umher und arbeitete, sie scheuerte Milcheimer und Tonnen, machte Käse und setzte Milch an, aber es geschah alles ohne Lust, und Thorbjörns jüngerer Bruder und der andre Junge, der zusammen mit ihm das Vieh hütete, glaubten jetzt steif und fest, daß zwischen ihr und Thorbjörn etwas los sei, was ihnen Stoff zu mancher Unterhaltung gab oben auf den Halden.

Am Nachmittage des achten Tages, nachdem Ingrid nach Hause geholt worden war, fühlte sie den Druck mehr als je auf sich lasten. Nun war so lange Zeit verflossen, und noch immer keine Nachricht da. Sie ließ ihre Arbeit liegen und setzte sich und sah über das Tal hin; das war ihr, als hätte sie Gesellschaft, und sie wollte nun einmal nicht mehr allein sein. Wie sie so dasaß, wurde sie müde, legte den Kopf auf ihren Arm und schlief ein; die Sonne aber stach, und es war ein unruhiger Schlaf. Sie war drüben auf Solbakken, oben auf der Bodenkammer, wo ihre Sachen standen, und wo sie zu schlafen pflegte; die Blumen aus dem Garten sandten einen süßen Duft zu ihr herauf, wenn auch nicht den, an den sie gewohnt war, sondern einen andern, fast wie von Heidekraut. ›Woher mag das wohl kommen?‹ dachte sie und beugte den Kopf zum offnen Fenster hinaus. Ja, da stand Thorbjörn unten im Garten und pflanzte Heidekraut. – »Aber, Liebster, weshalb tust du denn das?« fragte sie. – »Ach, die Blumen wollen nicht wachsen,« erwiderte er und arbeitete weiter im Garten. Da tat es ihr leid um die Blumen, und sie bat ihn, sie ihr doch heraufzubringen. – »Ja, das will ich gern tun,« meinte er, und dann sammelte er sie auf und brachte sie ihr; aber es war nicht mehr in der Bodenkammer, wo sie saß, denn jetzt konnte er geradeswegs zu ihr hereinkommen. Gerade da kam die Mutter herein. »In Jesu Namen! Soll der abscheuliche Bursche von Granliden zu dir hereinkommen?« sagte die Mutter, sprang hinzu und stellte sich ihm gerade in den Weg. Aber er wollte dennoch herein, und nun begannen die beiden miteinander zu ringen. – »Mutter, Mutter, er wollte mir ja nur meine Blumen bringen,« bat Synnöve und weinte. – »Ja, das hilft nichts,« sagte die Mutter und rang weiter. Und Synnöve war so erschrocken, so erschrocken, denn sie wußte nicht, wem sie den Sieg wünschen sollte, unterliegen aber sollte keins von ihnen. – »Nimm meine Blumen in acht!« rief sie, aber sie rangen jetzt heftiger als zuvor, und all die schönen Blumen wurden ringsumhergestreut. Die Mutter trat darauf, und er auch; Synnöve weinte. Als aber Thorbjörn die Blumen hatte fallen lassen, wurde er so häßlich, so häßlich; das Haar wurde lang, und das Gesicht wurde ganz groß, die Augen blickten so böse, und mit langen Krallen packte er die Mutter. – »Nimm dich in acht, Mutter! siehst du nicht, daß es ein andrer ist? – nimm dich in acht!« schrie sie und wollte der Mutter helfen, konnte sich aber nicht vom Fleck rühren. Da rief jemand nach ihr – und noch einmal hörte sie ihren Namen rufen. Sofort aber stürzte Thorbjörn hinaus, und die Mutter ihm nach. Abermals hörte sie ihren Namen rufen. – »Ja!« sagte Synnöve und erwachte.

»Synnöve!« rief es. – »Ja,« antwortete sie und sah auf. – »Wo bist du?« fragte eine Stimme. – ›Das ist die Mutter, die mich ruft,‹ dachte Synnöve, erhob sich und ging nach dem Weideplatz, wo die Mutter mit einem Eßkorb in der einen Hand stand, während sie sich mit der andern die Augen beschattete und zu ihr hinübersah.

»Hier liegst du und schläfst auf der bloßen Erde!« sagte die Mutter. – »Ich war so müde,« entgegnete Synnöve, »daß ich mich einen Augenblick niederlegte, und ich bin eingeschlafen, ehe ich michs versah.« – »Davor mußt du dich in Zukunft hüten, mein Kind. Hier ist etwas für dich in dem Korbe; ich habe gestern gebacken, da Vater eine lange Reise antreten will.« – Synnöve fühlte aber, daß die Mutter nicht deswegen allein gekommen war, und sie meinte, daß sie nicht ohne Grund von ihr geträumt habe. Karen, so hieß die Mutter, war, wie schon vorher gesagt worden ist, klein und fein gebaut, mit blondem Haar und blauen Augen, die ihr lebhaft im Kopfe herumgingen. Sie lächelte ein wenig, wenn sie sprach, aber nur, wenn sie mit fremden Leuten redete. Ihre Züge waren mit der Zeit ein wenig scharf geworden, sie war rasch in ihren Bewegungen und war immer sehr geschäftig. – Synnöve dankte ihr für das Mitgebrachte, hob den Deckel ab und sah nach, was es war. – »Ach, das hat Zeit bis später.« sagte die Mutter; »ich habe vorhin bemerkt, daß deine Milchkübel noch nicht gescheuert waren, mein Kind, das mußt du immer tun, ehe du dich zur Ruhe legst.« – »Ja, das war heute auch nur ausnahmsweise.« – »Komm jetzt, dann will ich dir helfen, da ich nun einmal hier bin,« sagte die Mutter und stürzte die Röcke auf. »Du mußt dich an Ordnung gewöhnen, du magst unter meiner Aufsicht sein oder nicht.« – Sie ging voraus nach der Milchkammer, und Synnöve folgte ihr langsam. Sie nahmen alles heraus und wuschen es ab; die Mutter sah das Geschirr nach und fand alles in gutem Zustande vor, sie erteilte fleißig Ratschläge und half beim Ausfegen; so vergingen ein paar Stunden. Während der Arbeit hatte sie Synnöve erzählt, was sie daheim trieben, und wieviel sie zu tun gehabt habe, um alles für die Abreise des Vaters fertigzumachen. Dann fragte sie, ob Synnöve auch daran denke, Gottes Wort zu lesen, ehe sie sich am Abend schlafen lege; »denn das darfst du nicht vergessen,« sagte sie, »sonst geht die Arbeit am nächsten Tage schlecht.«

Als sie mit allem fertig waren, gingen sie auf den Weideplatz hinaus, um dort die Kühe zu erwarten. Und als sie eine Weile beieinander gesessen hatten, fragte die Mutter nach Ingrid, ob die nicht bald wieder auf die Alm heraufkäme. Synnöve wußte darüber nicht mehr als die Mutter. – »Ja, so kann es den Leuten gehn!« sagte die Mutter, und Synnöve begriff sehr wohl, daß nicht Ingrid gemeint war; sie hätte gern von etwas anderm angefangen, aber sie hatte nicht den Mut dazu. – »Wer den Herrn nicht im Herzen trägt, der wird von ihm heimgesucht, wenn ers am mindesten glaubt,« sagte die Mutter. – Synnöve erwiderte kein Wort. – »Nein, das habe ich immer gesagt, aus dem Burschen wird nichts – sich so zu benehmen! – pfui!« – Sie kauerten beide auf dem Rasen und sahn hinunter ins Tal, aber sie sahn sich nicht an. – »Hast du gehört, wie es mit ihm steht?« fragte die Mutter und sah nun schnell zu der Tochter hinüber. – »Nein,« antwortete Synnöve. – »Es soll schlecht mit ihm stehn,« sagte die Mutter. Die Brust schnürte sich Synnöve zusammen. – »Ist es denn gefährlich?« fragte sie. – »Ach ja, da ist der Messerstich in die Seite – und dann hat er auch noch arge Schläge bekommen.« – Synnöve fühlte, daß sie dunkelrot wurde; sie wandte sich hastig ab, daß es die Mutter nicht sehn sollte. – »Aber das hat wohl nicht viel zu bedeuten?« fragte sie so ruhig, wie es ihr nur möglich war; die Mutter aber hatte bemerkt, wie heftig ihre Brust arbeitete, deswegen antwortete sie: »Ach nein, das hat es wohl nicht!« – Da begann Synnöve zu ahnen, daß etwas sehr Ernstes vorgefallen sein müsse. – »Liegt er?« fragte sie. – »Natürlich liegt er! Es ist ein Jammer um die Eltern, so brave Leute! Gut erzogen ist er auch, so kann ihnen Gott das nicht zur Last legen.« – Synnöve wurde nun so beklommen, daß sie sich nicht zu helfen wußte. Da fuhr die Mutter fort: »Nun zeigt es sich, was für ein Glück es ist, daß niemand an ihn gebunden ist. Der liebe Gott führt doch alles zum besten.« – Synnöve wurde so schwindlig, als müsse sie den Berg hinabstürzen.

»Nein, ich habe es immer zum Vater gesagt, ich: Gott bewahre uns, habe ich gesagt, wir haben nur diese einzige Tochter, und für die müssen wir sorgen. Er ist ein wenig weich von Natur, der Vater, so brav er sonst ist; da ist es denn ein Glück, daß er Rat da sucht, wo er ihn findet, nämlich in Gottes Wort.«

Als nun aber Synnöve an ihren Vater dachte, wie sanft der allezeit war, wurde es ihr noch schwerer, die Tränen zu unterdrücken, und diesmal half denn auch kein Widerstand; sie fing an zu weinen. – »Weinst du?« fragte die Mutter und sah nach ihr hin, ohne ihr jedoch ins Gesicht sehn zu können. – »Ja, ich dachte an den Vater, und da –« und nun brachen die Tränen gewaltsam hervor. – »Aber liebes Kind, was hast du nur?« – »Ach, ich weiß nicht recht – es überkam mich so – vielleicht kann es ihm übel ergehn auf dieser Reise," schluchzte Synnöve. – »Wie kannst du nur so reden,« sagte die Mutter; »weswegen sollte es ihm nicht gut gehn auf der Reise zur Stadt, die ebene Landstraße entlang!« – »Ja – aber denk doch nur – wie es – dem andern erging,« schluchzte Synnöve. – »Ja – dem! – Aber dein Vater fährt doch nicht drauflos wie ein Verrückter, sollt ich meinen! Er kehrt sicher wohlbehalten wieder heim – wenn nur Gott seine Hand über ihm hält!«

 

Der Mutter aber gaben diese Tränen, die gar nicht wieder aufhören wollten, zu denken. Und wie sie so dasaß, sagte sie plötzlich: »Es gibt viele Dinge auf dieser Welt, die schwer genug sein können, aber da muß man sich damit trösten, daß sie noch viel schwerer hätten sein können.« – »Ja, das ist ein trauriger Trost,« sagte Synnöve und weinte bitterlich. Die Mutter konnte es nicht über das Herz bringen, zu antworten, was sie dachte, so sagte sie denn nur: »Gott der Herr lenkt gar vieles für uns in sichtbarer Weise; das hat er wohl auch hier getan!« Und dann erhob sie sich, denn die Kühe fingen an oben auf dem Bergrücken zu brüllen, die Glocken erklangen, die Hirtenjungen jubelten, und die Herde kam langsam bergab, da das Vieh satt und ruhig war. Sie stand da und sah zu, dann hieß sie Synnöve mitkommen und sie in Empfang nehmen. Synnöve erhob sich jetzt auch und folgte der Mutter, aber es ging langsam.

Karen Solbakken war nun vollauf in Anspruch genommen durch die Begrüßung ihrer Herde. Da kam eine Kuh nach der andern herbei, und alle erkannten sie und brüllten. Sie streichelte sie, sprach mit ihnen und wurde wieder fröhlich, als sie sah, wie gut sie alle zugenommen hatten. – »Ach ja,« sagte sie, »Gott ist dem nahe, der sich zu ihm hält!« – Sie half nun Synnöve das Vieh eintreiben, denn bei Synnöve ging es heute nur langsam. Die Mutter sagte nichts dazu; sie half ihr auch beim Melken, obwohl sie infolgedessen länger da oben blieb, als sie beabsichtigt hatte. Als sie nun die Milch geseiht hatten, schickte die Mutter sich an, heimzukehren, und Synnöve wollte sie eine Strecke begleiten. – »Ach nein,« sagte die Mutter, »du bist sicher müde und sehnst dich nach Ruhe«; und so nahm sie denn den leeren Korb, gab ihr die Hand und sagte, indem sie sie fest ansah: »Ich komme bald wieder herauf, um zu sehn, wie es dir geht. – Halte dich zu uns, und denke nicht an andre.«

Kaum war die Mutter ihr aus dem Gesichtskreis entschwunden, als sie schon darüber nachdachte, wie sie am schnellsten einen Boten nach Granliden hinabschicken könnte. Sie rief Thorbjörns Bruder, sie wollte ihn hinabsenden; aber als er kam, konnte sie sich nicht entschließen, sich ihm anzuvertrauen, deswegen sagte sie: »Ach, es war nichts!« Dann dachte sie daran, selber zu gehn. Gewißheit mußte sie haben, und es war unrecht von Ingrid, ihr keine Nachricht zu senden. Die Nacht war ganz hell, und der Hof lag nicht so weit talabwärts, daß sie den Weg nicht hätte machen können, wenn es sie so hinabzog. Während sie dasaß und hierüber nachdachte, wiederholte sie sich in Gedanken noch einmal alles das, was die Mutter gesagt hatte, und ihre Tränen begannen von neuem zu fließen. Da aber zögerte sie nicht länger, warf ein Tuch um und wählte einen Schleichweg, damit die Jungen nichts merken sollten.

Je weiter sie kam, um so mehr beeilte sie sich, und schließlich sprang sie den Fußpfad hinunter, daß die kleinen Steine abbröckelten, hinabrollten und ihr Schrecken verursachten. Obwohl sie wußte, daß es nur Steine waren, die rollten, war es ihr doch, als wenn jemand in der Nähe sei, und sie mußte stehnbleiben und lauschen. Aber es war nichts, und sie sprang schneller als zuvor bergab. Da geschah es, daß sie mit einem stärkern Sprung auf einen großen Stein geriet, der ein Stück aus dem Wege hervorragte, sich aber jetzt löste und an ihr vorbei hinunterrollte. Er machte argen Lärm, es knackte in den Büschen, und sie war ganz bange, erschrak aber noch mehr, als sie leibhaftig sah, wie sich da unten jemand erhob und bewegte. Zuerst dachte sie, es könne ein wildes Tier sein, sie blieb stehn und hielt den Atem an – auch die Gestalt unten am Wege stand still. »Hoi–ho!« rief es. Es war die Mutter. Das erste, was Synnöve tat, war, daß sie zur Seite sprang und sich versteckte. Sie saß eine ganze Weile da und wartete, ob die Mutter sie erkannt hätte und zurückkäme; aber das tat sie nicht. Dann wartete sie noch eine Weile, damit die Mutter einen guten Vorsprung gewänne. Als sie sich dann wieder auf den Weg machte, ging sie ganz langsam, und bald näherte sie sich den Häusern.

Sie wurde wieder ein wenig beklommen, als sie das Gehöft liegen sah, und ihre Beklommenheit nahm zu, je näher sie kam. Alles war still dort, die Arbeitsgerätschaften standen an die Wand gelehnt, Brennholz lag gehauen und aufgestapelt da, und die Axt war in den Holzblock festgeschlagen. Sie ging vorbei und auf die Tür zu; dort blieb sie noch einmal stehn, sah sich um und lauschte; es rührte sich aber nichts. Und wie sie so dastand und unschlüssig war, ob sie auf den Boden hinauf zu Ingrid gehn solle oder nicht, kam ihr der Gedanke, es müsse wohl eine solche Nacht gewesen sein, damals vor Jahren, als Thorbjörn hinübergekommen war und ihre Blumen eingepflanzt hatte. Schnell zog sie die Schuhe aus und schlich die Treppe hinauf.

Ingrid erschrak sehr, als sie erwachte und sah, daß es Synnöve war, die sie geweckt hatte. – »Wie geht es ihm?« fragte Synnöve. Jetzt fiel Ingrid alles wieder ein, und sie wollte sich ankleiden, um nicht sogleich antworten zu müssen. Synnöve aber setzte sich auf die Bettkante, bat sie, sich wieder hinzulegen, und wiederhole die Frage.

»Jetzt geht es besser,« sagte Ingrid flüsternd; »ich komme bald hinauf zu dir.« – »Liebe Ingrid, verbirg mir nichts; du kannst mir nichts Schlimmes sagen, was ich mir nicht viel schlimmer gedacht habe.« – Ingrid war noch immer bemüht, Synnöve zu schonen, deren Furcht aber drängte sie, und es blieb ihr keine Zeit, Ausflüchte zu machen. Flüsternd fielen die Fragen, flüsternd die Antworten; das tiefe Schweigen ringsumher machte sowohl Frage als Antwort noch schwerer, so daß es einer der feierlichen Augenblicke wurde, wo man es wagt, der Wahrheit gerade ins Auge zu sehn. Darüber aber wurden sich beide klar, daß Thorbjörns Schuld diesmal gering war und daß sich nichts Schlechtes von seiner Seite zwischen ihn und ihr Mitgefühl für ihn drängte. Da weinten sich beide gründlich satt, aber sie weinten leise, und Synnöve weinte am heftigsten; sie saß ganz zusammengesunken auf der Bettkante. Ingrid suchte sie zu erheitern dadurch, daß sie sie daran erinnerte, wieviel Freude sie alle drei miteinander gehabt hätten; da aber ging es hier, wie es so oft geht, daß sich jede kleine Erinnerung aus den Tagen, über denen stiller Sonnenschein liegt, jetzt im Kummer in Tränen auflöst.

»Hat er nach mir gefragt?« flüsterte Synnöve. – »Er hat fast noch gar nicht gesprochen.« – Ingrid dachte an den Zettel, und der fing an, sie zu bedrücken. – »Ist er denn nicht imstande, zu sprechen?« – »Ich weiß nicht, wie es sich damit verhält – er denkt wohl um so mehr.« – »Liest er?« – »Die Mutter hat ihm vorgelesen, jetzt muß sie es jeden Tag tun.« – »Was sagt er denn?« – »Nein, er sagt nichts – das erzählte ich dir ja schon. Er liegt nur da und sieht vor sich hin.« – »Liegt er in der gemalten Stube?« – »Ja.« – »Mit dem Kopfe nach dem Fenster zu?« – »Ja!« – Sie schwiegen beide eine Weile. Dann sagte Ingrid: »Das kleine St. Johannisspiel, das du ihm einmal geschenkt hast, hängt dort im Fenster und dreht sich.«

»Ja, es ist mir einerlei,« sagte Synnöve plötzlich und mit Nachdruck; »nie im Leben soll mich jemand dahin bringen, daß ich ihn aufgebe, es mag gehn, wie es will!« – Ingrid wurde sehr beklommen: »Der Doktor weiß nicht, ob er seine Gesundheit je wieder erlangen wird,« flüsterte sie.

Da richtete Synnöve den Kopf auf, drängte die Tränen zurück, sah sie an, ohne ein Wort zu sagen, ließ den Kopf wieder sinken und blieb in Gedanken verloren sitzen; die letzten Tränen rannen ihr leise die Wangen hinab, aber es kamen keine neuen mehr; sie faltete die Hände, bewegte sich aber nicht: es war, als sitze sie da und fasse einen großen Entschluß. Dann erhob sie sich plötzlich mit einem Lächeln, beugte sich über Ingrid hinab und gab ihr einen warmen, langen Kuß. – »Erlangt er seine Gesundheit nicht wieder, dann will ich ihn pflegen. Jetzt rede ich mit meinen Eltern.«

Dies rührte Ingrid tief; ehe sie aber etwas erwidern konnte, fühlte sie ihre Hand ergriffen: »Leb wohl, Ingrid! Jetzt will ich allein hinaufgehn.« – Und sie wandte sich schnell ab.

»Da ist noch ein Zettel!« rief Ingrid ihr flüsternd nach. – »Ein Zettel?« fragte Synnöve. Ingrid war schon aus dem Bett, suchte ihn hervor und brachte ihn ihr; indem sie ihn ihr aber mit der linken Hand in den Busen steckte, schlang sie den rechten Arm um ihren Hals und gab ihr den Kuß zurück, während Synnöve ihre Tränen warm und schwer auf ihr Gesicht fallen fühlte. Dann schob Ingrid sie leise zur Tür hinaus und schloß ab, denn sie hatte nicht den Mut, das Weitere mit anzusehn.

Synnöve schlich leise auf den Socken die Treppe hinab; da aber zu viele Gedanken auf sie einstürmten, machte sie unversehens Geräusch, erschrak, eilte über die Flur, ergriff die Schuhe und lief, sie in der Hand haltend, an den Wirtschaftsgebäuden vorüber, über die Felder, bis an das Zauntor; dort hielt sie inne, zog die Schuhe an und begann nun eiligen Schrittes bergan zu gehn, denn ihr Blut war in Wallung geraten. Sie schritt dahin, summte eine Melodie, ging schneller und schneller, bis sie zuletzt müde wurde und sich setzen mußte. Da erinnerte sie sich des Zettels. –

Als der Hirtenhund am nächsten Morgen Lärm machte, als die Jungen erwachten und die Kühe gemolken und hinausgelassen werden sollten, war Synnöve noch nicht zurückgekehrt.

Während die Hirtenjungen noch dastanden und sich wunderten, wo sie wohl sein könnte, und herausfanden, daß sie die ganze Nacht nicht zu Bette gewesen war – da erschien Synnöve.

Sie war sehr blaß und still. Ohne ein Wort zu sagen, begann sie die Mahlzeit für die Hirtenjungen zu bereiten, packte ihnen Mundvorrat ein und half ihnen dann beim Melken.

Der Nebel hing noch schwer über den niedrigen Bergrücken, das Heidekraut auf der braunroten Weide glitzerte vom Morgentau, es war ziemlich kalt, und wenn der Hund bellte, hallte es von allen Seiten wider. Die Kühe wurden herausgelassen, sie brüllten in der frischen Luft, und eine nach der andern ging den Fußsteg entlang; dort aber saß der Hund schon, nahm sie in Empfang und hielt sie zurück, bis alle herausgekommen waren, worauf auch er sie durchließ; das Schellengeläute tönte über den Bergrücken hin, der Hund bellte so, daß es durch das Läuten drang, die Jungen versuchten, wer am lautesten jodeln könnte. Von all diesem Lärm wandte sich Synnöve ab und ging nach der Stelle auf der Alm, wo Ingrid und sie zu sitzen pflegten. Sie weinte nicht, still saß sie da und starrte vor sich hin und vernahm nur von Zeit zu Zeit das lebensfrohe Geräusch, das sich immer mehr entfernte und harmonischer ineinanderfloß, je größer die Entfernung wurde. Währenddes fing sie an, eine Melodie leise vor sich hin zu summen, dann sang sie ein wenig lauter, und schließlich erscholl mit klarer, lauter Stimme folgendes Lied. Sie hatte es einem andern nachgebildet, das sie von Kindheit an gekannt hatte.

 
»Nun habe Dank für alles, seit wir klein
Zu frohem Spiele reichten uns die Hände,
Ich dachte mir, so sollt es immer sein,
Ja, bis an unsrer Tage Ende.
 
 
Ich hoffte, daß vom Birkenbaum hinaus,
Dem schimmernden, das frohe Spiel uns führe
Bis in das sonnig helle Vaterhaus
Und zu des roten Kirchleins Türe.
 
 
Ich saß und schaute nach dem grünen Tann
Und wartete in vielen Abendstunden,
Doch Schatten schlich den dunkeln Berg hinan,
Und nie hast du den Weg gefunden.
 
 
Ich saß und wartete und hoffte noch:
Ja, morgen findet er den Weg herüber.
Und es erlosch die schwache Flamme doch,
Es kam der Tag und ging vorüber.
 
 
Das arme Auge, vom gewohnten Ziel
Wird es ihm schwer, für immer sich zu trennen;
Ach auf kein andres je der Blick noch fiel,
Heiß fühl ichs unterm Lide brennen!
 
 
Ihr meint, ich fände Trost an einem Ort:
Das Kirchlein ist es an der Bergesleite.
O schweigt! wie fände ich wohl Ruhe dort:
Da sitzet er mir ja zur Seite!
 
 
Wohlan, so weiß ich doch, wer uns so nah
Die Höfe setzte, einen bei dem andern,
Wer unserm Blicke wies die Straße da
Und ihm erlaubte, sie zu wandern.
 
 
Wohlan, so weiß ich doch, wer uns so nah
Des Kirchleins Stühle fügte wie zum Paare
Und machte, daß sie eng verbunden da
Hinüberschauen zum Altare.