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Mary, Erzählung

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Am ändern Tage kam sie erst kurz vor der Abfahrt des Dampfers nach unten, mit dem sie zu Onkel Klaus wollten. "Heute bist Du richtig la grande dame",—Jörgen musterte sie bewundernd; sie stand in ihrer elegantesten Pariser Besuchstoilette vor ihm. "Du willst Onkel Klaus wohl imponieren?"—"Das auch. Aber es ist doch heute Sonntag.—Sag' mal," sie wurde plötzlich ernst, "weiß Onkel Klaus von Vaters Unglück?"—"Von seiner Krankheit?"—"Nein, von der Ursache der Krankheit?"—"Das weiß ich nicht. Ich komme von Hause.—Ich habe nichts gesagt. Nicht mal zu Hause."—Das gefiel ihr. Deshalb wurde auch der Gang zum Dampfer hinunter und nachher die Fahrt gemütlich und fröhlich. Sie sprachen leise von der Hochzeit, von dem Urlaub für den ersten Monat nachher, von dem Leben in Stockholm, von ihrer Reise dahin, von seinem Weihnachtsbesuch zu Hause, von einem kleinen Abstecher nach Kristiania jetzt gleich—kurz, an ihrem Himmel waren keine Wolken.

Onkel Klaus trafen sie in seiner Rauchhöhle, wo sie ihn mehr ahnten, als daß sie ihn sahen. Er war selber ganz erschrocken, als Mary in ihrer ganzen Herrlichkeit vor ihm stand. Er eilte ihnen in den großen steifen Salon voran. Noch ehe sie saßen, sagte Jörgen: "Ja, Onkel, heute kommen wir, um Dir zu erzählen—" er kam nicht weiter; denn Onkel Klaus sah an ihren Gesichtern, was für eine strahlende Neuigkeit sie brachten. "Ich gratuliere, ich gratuliere!" Der große Mann streckte jedem eine Hand hin: "Ja, das sagen alle," triumphierte er, "Ihr beide seid das schmuckste Paar, das je in der Stadt war. Denn", fügte er hinzu, "wir andern haben Euch ja lange verlobt!" Kaum hatten sie sich gesetzt, als sich sein Gesicht verfinsterte. Er sah Mary mitleidig an: "Dein Vater, armes Kind!"—"Vater geht es jetzt besser", antwortete sie ausweichend.—Onkel Klaus blickte sie forschend an: "Er kann ja wohl nicht mehr …" er hielt inne, er konnte es wirklich nicht über sich gewinnen, das auszusprechen, auch Mary nicht. Sie saßen also eine Weile schweigend da.

Als das Gespräch wieder in Fluß kam, redeten sie über die ungewöhnlich schlechten Zeiten. Es mache den Eindruck, als wollten die kein Ende nehmen. Die Aktien hätten keinen Wert, die Schiffahrt liege darnieder, keine neuen Unternehmungen, das Geld arbeite nicht. Während sie hierüber sprachen, blickte Onkel Klaus Jörgen mehrmals an, als wolle er nach etwas fragen, wenn er erst fort sei: Sie bemerkte es und gab Jörgen einen Wink, er stand auf und entschuldigte sich: er habe sich mit einigen Kameraden in der Stadt verabredet. Es war zwischen Mary und ihm ausgemacht, daß sie allein mit Onkel Klaus reden solle. Aber was mochte Onkel Klaus mit ihr zu besprechen haben? Sie war gespannt.

Jörgen war kaum aus der Tür, da sagte Onkel Klaus mit bekümmerter Miene: "Armes Kind, ist es wahr, daß Dein Vater in Amerika große Verluste gehabt hat?"—"Er hat alles verloren", antwortete sie. Blaß und entsetzt fuhr der große Mann in die Höhe: "Er hat alles verloren?"—Er starrte sie mit weit offnem Mund an, wurde dunkelrot und rief: "Ja, Gottsdonnerwetter, da kann ich verstehen, daß man den Schlag bekommt."—Er begann im Zimmer auf und ab zu rennen, als sei außer ihm niemand da. Die weiten Hosen schlotterten ihm um die Beine, mit den langen Armen fuchtelte er in der Luft herum. "Er ist doch schon immer so ein leichtgläubiger Tropf gewesen! Ein richtiger Dussel! Wenn man sich vorstellt, einer hat ein so großes Vermögen im Geschäft eines ändern stecken, und er kümmert sich dann nicht weiter drum! Das ist doch eine verdammte—" er hielt jäh inne und fragte in höchstem Erstaunen: "Auf was wollt Ihr denn heiraten—?"

Mary war tief verletzt, noch ehe diese Frage kam. In ihrer Gegenwart sich so zu benehmen, vor ihren Ohren so etwas von ihrem Vater zu sagen!

Trotzdem antwortete sie mit ihrem reizendsten Lächeln und voll Schelmerei: "Auf Dich, Onkel Klaus!"

Seine Verblüffung war nicht zu beschreiben. Sie versuchte sie zu dämpfen, ehe sie zum Ausbruch kam, sie bedauerte ihn scherzend—und zwar auf englisch—was für ein armer Mann er sei. Aber das prallte ab wie Vogelgezwitscher an einem Bären. "Das sieht dem Jörgen, diesem Satan, ähnlich," brach er schließlich hervor, "gleich auf mich zu spekulieren!"—Er rannte wieder durch die Stube, schneller als bisher: "Haha! das konnte ich mir ja denken! Wenn was in die Quere kommt, muß ich herhalten! In diesen Zeiten, wo ich kaum mein Essen verdiene! Solche Unverschämtheit ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen!" Er sah sie nicht, er sah überhaupt nichts. Dieser reiche Mensch hatte seinen Launen, seiner Wut, seiner Unverschämtheit immer freien Lauf gelassen. "Schockschwerenot, Jörgen verdiente, daß ich ihm auch das entzöge, was er jetzt bekommt. Immer will er mehr haben! Und nun sollte ich—ha, ha! Ja, das ist ein Prachtbengel!"—

Mary saß totenblaß da. Sie war nie bisher gedemütigt worden; nie bisher hatte ein Mensch sie anders als eine Bevorzugte behandelt.

Aber den Kopf verlor sie nicht. "Ich führe jetzt Vaters Bücher," sagte sie kühl; "daraus habe ich ersehen, daß auch Ihr Geschäfte zusammen gemacht habt."—"Oh ja," sagte er, ohne stehen zu bleiben und ohne sie anzusehen: "Oh ja—mit ein paar Hunderttausend. Aber wenn Du die Bücher führst, weißt Du wohl auch, daß sie in diesen Zeiten fast nichts einbringen."—"Das ist nun wohl übertrieben", antwortete sie. "Ja, was willst Du mit den Papieren?" fragte er und blieb stehen. Aus einer plötzlichen Eingebung heraus rief er: "Hat Jörgen Dich beauftragt, sie zu verkaufen?"—"Jörgen hat mich zu nichts beauftragt", sagte sie und stand auf.

Wie sie blaß und groß und stattlich vor ihm stand und ihn mutig ansah, war er der Unterlegene. Er starrte sie nur an. Sie sagte: "Ich bedaure, daß ich nicht eher gewußt habe; was für ein Mensch Du bist." Alle Überlegenheit fiel von ihm ab,—er stand dumm und schwerfällig da. Er war nicht imstande zu antworten, ja nicht einmal sich zu rühren. Er ließ sie gehen. Und das wollte er gerade am wenigsten.

Durch das Fenster sah er ihr nach, sah sie nach dem Markt hinuntergehen.

Wie schön und stolz sie war, wie ein Bild.

Als Jörgen bald darauf kam, um Mary abzuholen oder vielmehr mit ihr zusammen zu Tisch dazubleiben,—denn er war überzeugt, sie würden zum Essen eingeladen werden—bekam er nicht allein dieselbe Lektion, die sie bekommen hatte, sondern eine viel saftigere, weil Onkel Klaus jetzt außerordentlich unzufrieden mit sich selbst war. Dafür mußte Jörgen büßen. "Warum, zum Donnerwetter, bist Du nicht selbst gekommen? Du warst wohl zu feig dazu?—Und dann hast Du sie veranlassen wollen, Aktien zu verkaufen, die jetzt gar keinen Wert haben! Ein verflucht leichtsinniger Kerl bist Du doch immer gewesen."—Onkel Klaus hatte unrecht; aber Jörgen kannte ihn, er wußte, daß man ihm jetzt nicht widersprechen durfte. Er machte sich auf allen vieren davon und kam zu Mary, erbarmungswürdiger als damals, wo sie ihn oben auf dem Hügel getroffen hatte, wie er in das verlorene Paradies hinunterschaute. Sie selbst hatte geweint vor Ärger und Enttäuschung; aber sie hatte Sprungfedern in sich; jetzt kam der Umschlag. Ihr Sturz aus ihrer Siegesstimmung herab, die sie noch vor einer halben Stunde gehabt hatte, war so jäh, daß die ganze Geschichte, wenn man Jörgens jämmerlichen Zustand dazunahm, lächerlich wurde. Sie lachte so ausgelassen, so köstlich befreit, daß sogar Jörgen geheilt wurde. Nach Verlauf einer Viertelstunde gingen die beiden jungen Menschen über die Straße, um sich ein leckeres Mittagessen mit Champagner zu bestellen. Während das hergerichtet würde, wollten sie einen Spaziergang machen. Aber kaum standen sie draußen in der köstlich frischen Luft, da mußte Jörgen wieder hinauf und nach Krogskog telephonieren, sie würden heimkommen und dort zu Mittag essen. Es würde ungefähr zwei Stunden dauern auf der neuen Landstraße; das sollte ein herrlicher Spaziergang werden!

Sie schritten tüchtig aus; der klare Herbsttag mit seiner frischen Brise war kühl,—so rechtes Wetter zum Wandern.

Der Weg an der See entlang durchschnitt die Landzungen; sie freuten sich über den steten Wechsel von Strand und Bergeshöhe, von Bergeshöhe und Strand. Das Meer tiefblau, bis weit hinten voller Segel und Rauchsäulen. Heut war Sonntag, daher waren auch viele Lustjachten draußen; sie krochen durch die Meerengen und wagten sich auf die offene See hinaus.

Bei ihrem schnellen Tempo waren die beiden bald aus der eigentlichen Stadt heraus. Da lag ein hübsches kleines Haus in einem Garten. "Wem gehört das?" fragte Mary. Es sah so einladend aus. "Fräulein Röy, der Ärztin", antwortete Jörgen eifrig. "Ich habe über all dem Ärger und der Enttäuschung doch vergessen, Dir zu erzählen, daß ich Franz Röy in der Stadt getroffen habe!" Ohne es zu wissen, blieb Mary stehen. Ohne es zu wollen, wurde sie rot. "Franz Röy?" fragte sie und blickte starr vor sich hin. Dann ging sie weiter, noch bevor sie eine Antwort bekommen hatte. "Er soll hier die Hafenarbeiten leiten. Du weißt, Irgens ist tot."—"Der Ingenieur? Der ist tot?"—"Und jetzt heißt es, Hauptmann Röy wird das übernehmen."—"Ist das eine Arbeit für einen Mann wie ihn?"—"So fragt gewiß mancher.—Alle fragen, was er hier will?" lachte Jörgen. Mary sah ihn an und er Mary. Dann ging er näher an sie heran: "Aber jetzt kommt er zu spät." Er hatte als Antwort einen verständnisvollen Blick erwartet, in dem vielleicht ein bißchen Glück lag. Aber sie ging weiter, ohne ihn anzusehen, auch ohne etwas zu sagen.

Da trat eine lange Pause ein. Sie gingen schnell. Der Herbstwind wehte erfrischend. Da wandte sie sich zu ihm, um ihm eine Freude zu machen. "Weißt Du, Jörgen, daß Vater bei Onkel Klaus zweihunderttausend Kronen stehen hat?"—"Zweihundertfünfzigtausend", antwortete Jörgen. Sie war sehr erstaunt,—einmal darüber, daß Jörgen Bescheid wußte, dann über die fünfzigtausend Kronen. "Onkel Klaus sprach von zweihunderttausend." —"Ja, die Dein Vater in seine Unternehmungen und in das Schiff hineingesteckt hat. Aber kurz bevor Dein Vater krank wurde, hat er Onkel fünfzigtausend Kronen geschickt, die frei geworden waren."—"Woher weißt Du das?"—"Onkel hat es mir gesagt."—"Ich habe nichts darüber gefunden."—"Nein, Dein Vater hat sich mit dem Verbuchen wohl nicht beeilt; das war seine Art so. Außerdem—," hier stockte Jörgen, "kennst Du alle Geschäfte Deines Vaters?" Sie wollte darauf nicht eingehen; die Frage kam ihr nicht unerwartet. Aber wie konnte Jörgen—? Vielleicht durch Frau Dawes. Jedenfalls freute sie sich. Sie war stehen geblieben, sie wollte etwas sagen. Aber der Wind hob ihr die Röcke hoch, löste ihr eine Haarsträhne und riß ihr den Schal ab. "Herrgott, wie entzückend Du aussiehst!" rief er.—"Aber dann steht ja nichts im Wege, Jörgen?"—"Wir können heiraten, meinst Du?"—"Ja", und damit ging's weiter.—"Nein, Liebste, jetzt bringen die Aktien nahezu nichts ein."—"Ja, was tut das? Wir müssen drauflosgehen, Jörgen!" Sie strahlte vor Gesundheit und Mut. "Ohne Onkels Zustimmung?" fragte er verzagt.—Sie stand wieder still: "Würde er Dich enterben?"—Ohne direkt zu antworten, sagte er schwermütig: "Wenn Du wüßtest, Mary, was ich mit Onkel ausgestanden habe. Vom ersten Tag an, da er mich zu sich nahm. Wie er mich geplagt hat. Wie er mir aufgepaßt hat. Bis auf diesen Tag bin ich wie ein ungezogener Schuljunge von ihm behandelt worden. Seine schlechte Laune hat er stets an mir ausgelassen." Auf seinem Gesicht zeigte sich eine solche Mischung von Verbitterung und Unglück, daß Mary unwillkürlich rief: "Armer Jörgen,—jetzt fange ich an zu verstehen!" Sie gingen weiter. Sie dachte daran, daß seine Fähigkeit, sich zu beherrschen in einer harten Schule erworben sei; da hatte er auch gelernt, sich zu verstellen. Seine Zähigkeit mußte sie bewundern; was hatte er nicht alles durchgesetzt! Und allein seine Musik! Die war wohl sein Trost gewesen. Jetzt verstand sie seine ungewöhnliche Höflichkeit. Jetzt verstand sie seine Sentimentalität. Sie verstand, wodurch er so streng und pedantisch geworden war und so hart gegen seine Untergebenen.

 

Sie sah ein, daß auch sie vielleicht schuld gewesen, wenn es ihm schlecht gegangen war. Seine lange, schweigende Liebe zu ihr hatte ihm nur eine Last mehr aufgebürdet; denn sie hatte ihm kein aufmunterndes Wort gegönnt; im Gegenteil! Was Wunder, daß er schließlich wie verhext war? "Armer Jörgen", sagte sie noch einmal und faßte seine Hand. Das erste Liebeszeichen, das sie ihm je gewährt hatte. Sie mußte es gleich wieder zurücknehmen, weil sie die Röcke festhalten mußte, denn um die Landzunge pfiff ein scharfer Wind, und ein Segelboot schnitt gerade unter ihnen durch das Wasser. Vom Boote aus wurde heraufgewinkt, und sie winkten hinunter. Welch ein herrlicher Tag, wie schimmernd blau der Fjord mit den roten Wimpeln überall.

Als sie zur Bucht hinunterkamen, fragte sie: "Glaubst Du wirklich, er würde Dich enterben, wenn wir uns verheiraten?"—"Wir haben nichts, woraufhin wir heiraten können, Du Liebe!"—"Wir können doch diese Papiere verkaufen", sagte sie mutig. "Ja, wenn wir so vorgehen, um uns heiraten zu können, daß wir sie jetzt verkaufen, wo sie so niedrig stehen, ja, dann enterbt er mich sicher."—Aber sie wollte die Hoffnung nicht aufgeben: "Und unser Wald?"—"Der muß erst jahrelang stehen."—

Wie gut Jörgen Bescheid wußte! Wie genau er alles überlegt hatte!

Sie kamen auf die Strandstraße, die auf die letzte Landzunge bei Krogskog zuführte. Da stand ein alter wunderlicher Finnenhund. Mary war gut Freund mit ihm. Er kläffte ja immer ein bißchen, wenn jemand in seine Nähe kam; vielleicht konnte er nicht gut sehen; aber er wedelte gleich mit dem Schwanz, wenn er einen Bekannten witterte. Heute war er wie toll.

"Herrjeh," rief Mary, "ist er etwa auf Dich so wütend?" Jörgen antwortete nicht, sondern bückte sich nach einem kleinen Stein. Als der Hund das sah, rannte er, den Schwanz zwischen die Beine geklemmt, hinter einen Reisighaufen am Wege. Von dort setzte er dann das Konzert fort. "Laß ihn doch!" sagte Mary, als sie sah, daß Jörgen die Schußlinie berechnete. "Es wäre doch spaßig, wenn er sich genau auf die Stelle zurückzöge, auf die ich ziele," sagte er, "dann bekommt er den Stein nämlich gerade auf den Rücken." Dabei tat er, als werfe er; der Hund setzte davon,—da warf er erst, und der Hund bekam den Stein genau auf den Rücken. Er heulte auf. "Siehst Du!" sagte Jörgen triumphierend. "Es gibt nicht viele, die so sicher treffen, kann ich Dir sagen."—"Kannst Du ebenso gut schießen?"—"Ob ich es kann! Wirklich, Mary, alles, womit ich mich befasse—viel ist es ja nicht,—das tue ich gründlich." Das mußte sie zugeben. Das rasende Gebell des Hundes in der Ferne bestätigte es auch.

Auf dem Richtsteig zum Hause hinauf sagte er: "Meinst Du, wir sagen Frau Dawes oder Deinem Vater etwas?"—"Von Onkel Klaus?"—"Ja. Es würde sie nur betrüben. Können wir nicht sagen, er habe gemeint, wir sollten bis zum Frühjahr warten?"—Sie blieb stehen. Sie war nicht für so etwas. Aber Jörgen blieb dabei. "Ich kenne Onkel Klaus besser als Du. Ihm wird es bald leid. Freilich wird er nicht nachgeben, aber er wird selbst mit einem anderen Vorschlag kommen, ungefähr mit so etwas, wie ich jetzt meine:—er möchte, wir warteten bis zum Frühjahr."

Mary war sich längst darüber klar, wie gut Jörgen unterrichtet sei; sie mußte deshalb auch zugeben, daß er so etwas besser verstand als sie. Aber an Schleichwege war sie nicht gewöhnt. "Laß mich nur machen," sagte er, "dann erspare ich den alten Leuten eine Enttäuschung."

"Aber was soll ich denn sagen?" fragte Mary.—"Die Wahrheit, daß Onkel sich sehr über unsere Verlobung gefreut hat, und daß die Zeiten jetzt so schlecht seien, daß wir warten müßten. Das verhält sich doch tatsächlich so."

Damit war Mary einverstanden. Besonders weil es sie freute, daß Jörgen auf die Schonung der beiden Alten bedacht war. Er bekam dafür einen aufrichtigen Dank—und wieder ihre Hand. Die behielt er in seiner bis an die Treppe, ja noch die Treppe hinauf. Er dachte, das ist ein Pfand für einen Kuß im Vorzimmer. Aber dann nehme ich mir zehn!

Er machte die Tür auf und ließ Mary vorangehen. "Schönen Dank für den Spaziergang, Jörgen", sagte sie, indem sie an ihm vorbeiging und ihm fröhlich zunickte,—lief zur Treppe und nach oben. Er hörte sie in ihr Zimmer gehen.—

Wie schonend Jörgen auch seine Worte wählte, als er von dem Resultat berichtete,—es war eine schwere Enttäuschung für die alten Leute. Sowohl Krog wie vor allem Frau Dawes fanden es unerklärlich; die letztere sogar grausam. So sollte Mary den langen Winter über hier allein bleiben und Jörgen in Stockholm. Sie konnten sich vielleicht zu Weihnachten ein paar Tage sehen, aber sonst nicht. Seltsamerweise übte die Enttäuschung der beiden Alten einen Rückschlag auf Jörgen aus. Er saß wie ein flügellahmer Vogel da. Er sprach nicht, er antwortete Frau Dawes kaum, er spielte auch nicht; aber er bereitete seine Abreise für den nächsten Morgen vor. Er wollte direkt nach Stockholm; seine Zeit war um.

Nur Mary war guter Dinge. Es war, als gehe sie die ganze Geschichte nichts an. Ihr hatte der Tag nichts Schlimmes gebracht; so schien es. Das Triumphgefühl, das in ihr war, seit sie vor ihrem Vater die Verlobung zu proklamieren geruht hatte, war nicht allein ungeschwächt, es war stärker als je. Sie ging über die Flure und durch die Stuben und summte vor sich hin; sie hatte tausenderlei zu tun, als sei sie es, die eine lange, wichtige Reise vorhatte. Beim Abendessen trieb sie soviel Unsinn, daß Jörgen das unsichere Gefühl hatte, sie mache sich über ihn lustig. Er sagte ihr schließlich gerade heraus, er verstehe sie nicht. Ihm scheine, sie solle ihn lieber bedauern. Sie bleibe doch wenigstens hier in ihrem entzückenden Heim und in ihrer schönen Sorge für ihre beiden Lieben; er aber—? Jetzt habe er einen Haß auf das, was vor ihm liege, weil es ihn von ihr fernhalte. Es tue ihm leid, daß er sich vom Dienst habe beurlauben lassen. Er verabscheue Stockholm. Er wisse, wie zurückgesetzt ein junger Mann dort sei, der nicht zur höheren "société" gehöre und obendrein Norweger sei. Er war unglücklich und machte seinem Kummer Luft.

"Du hast doch bei Deiner Konfirmation so gut Bescheid gewußt, Jörgen, hast Du vergessen, daß Jakob volle sieben Jahre um Rahel dienen mußte?"—"Habe ich etwa nicht lange genug um Dich gedient, Mary?"—"Weil Du gar so früh damit anfingst, sind es so viele Jahre geworden. Es ist eine schlechte Angewohnheit von Dir—zu früh anzufangen!"—"War es denn möglich, Dich zu sehen, ohne …? Du tust Dir selbst unrecht."—"Du hattest doch andere Ziele, Jörgen, als mich zu erringen?"—"Die hatte Jakob auch, der Geldjäger! Und er hatte noch den offenbaren Vorteil, daß er Rahel inzwischen sehen konnte, so oft er wollte."—"Na,—einer, der Jahre lang gewartet hat, Jörgen—" "—der kann auch noch ein halbes Jahr Iänger warten? Ja, Du hast gut reden, die nie auf etwas gewartet hat. Nicht auf das geringste!"—Sie schwieg. "Daß Du mich obendrein noch necken willst, Mary!—Der (auch wenn er bei Dir ist) auf so schmale Kost gesetzt ist!"—"Du beklagst Dich, Jörgen?"—"Ja, wahrhaftig."—"Du hast allzu früh angefangen, mußt Du bedenken." Sie lachte. Er wurde verlegen, sagte aber nach einer Weile: "Du weißt eben nicht, was warten heißt!"—"Ich weiß jedenfalls, daß einer, der auf schmale Kost gesetzt ist, sich leichter daran gewöhnen kann." Sie lachte wieder. Er war gekränkt und unsicher zugleich. Eine, die ihn wirklich lieb hatte, hätte sich kaum so benommen—am Abend vor einer mehrmonatlichen Trennung. Und bei so kläglichen Aussichten für die Ehe, wie sie sie hatten.

Sie saßen eine Weile bei ihrem Vater und sehr lange bei Frau Dawes. Jörgen war still und sagte überhaupt nichts. Mary aber war vergnügt. Frau Dawes blickte die beiden verwundert an. Sie wandte sich zu Jörgen: "Armer Junge, Du mußt zu Weihnachten herkommen!" Mary antwortete statt seiner: "Tante Eva, um Weihnachten ist es in Stockholm gerade am lustigsten."

Plötzlich stand Mary auf und wünschte sehr unerwartet "Gute Nacht", erst Jörgen, dann Frau Dawes. "Ich bin müde von unserer Tour und ich will morgen früh aufstehen, um Jörgen zu begleiten."

Jörgen fühlte, dieser unerwartete Aufbruch war ein wohlüberlegter Streich. Sie wollte dem entgehen, ihm draußen auf dem Flur gute Nacht zu sagen. Er schwur ihr Rache. Er verstand sich darauf.

Frau Dawes wollte wissen, ob zwischen ihnen etwas vorgefallen sei. Das bestritt er. Sie glaubte ihm nicht; er mußte allen Ernstes wiederholen, er wisse von nichts. Aber seine Verstimmung verbergen, das konnte er nicht. Er brachte es nicht einmal über sich, dazubleiben, und ließ sie allein. Auf dem Flur war es gegen die Gewohnheit völlig dunkel. Er tastete sich nach seiner Tür. Erst als er drinnen Licht angezündet hatte und unwillkürlich auf ein Lebenszeichen aus ihrem Zimmer lauschte, fiel ihm ein, daß sein Schloß geölt worden war. Heute morgen hatte es geknarrt. Ganz unbedeutend, aber geknarrt hatte es. Nie war er in einem Hause gewesen, wo wie hier die kleinste Kleinigkeit, die in Unordnung war, sofort repariert worden wäre. Trotzdem Sonntag war. Er konnte sich kein größeres Glück vorstellen, als später, wenn erst alles in Ordnung war, hierher zurückzukehren, hier auszuruhen, und hier solange und solcherart zu leben, wie sein tiefstes Bedürfnis nach Lebensgenuß es ihm vor Augen stellte.

Also galt es auszuhalten. Sich jetzt in ihre Launen zu finden wie früher in des Onkels Launen. Bis seine Zeit kam!—

–Er war beim Ausziehen, als lautlos die Tür geöffnet wurde und Mary in ihrem Nachtgewand hereintrat. Blendend schön. Sie schloß die Tür hinter sich und trat an die Lampe. "Du sollst nicht länger warten, Jörgen!" Sie löschte die Lampe aus.—

* * * * *