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Mary, Erzählung

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Sie hörte ein dumpfes Brausen von etwas Gewaltigem. Sie wandte sich nach der Richtung. Ein Ozeansteamer kam ihnen entgegen, so unvermutet und so ungeheuer groß, daß sie den Atem anhielt. Er wuchs aus dem Meer heraus ohne Warnungssignal. Er schoß in rasender Fahrt auf sie zu, wurde größer und immer größer, ein Feuerberg von großen und kleinen Lichtern. Unter schäumendem Brausen kam er und zog er vorbei. Nur einen Augenblick, und er war ein Bild in der Ferne.

Wie das sie ergriff!

Dies vorüberrauschende Leben, das von Erdteil zu Erdteil eilt, voll Arbeit und Gedanken in ewigem, fruchtbarem Austausch.

Während sie hier in einer kleinen Tonne umherschwamm, die von den Wellen des Weltkolosses geschaukelt wurde, daß man sich festhalten mußte.

Sie stand wieder allein in der großen Wüste. Wie verraten. Es war doch wie ein Verrat, wenn alles, was sie in drei Erdteilen gesehen und gehört hatte an Volksleben und Festen, kirchlichen wie nationalen, an Kunstwerken und an Musik,—gewissermaßen zurückblieb, wo sie es gesehen und gehört hatte, während sie einsam in einer unheimlichen, bewegungslosen Einöde stand.

* * * * *

Daheim

Es kam erstaunlich anders.

Schon als sie an Land stieg, sah sie bei Jung und Alt die ungeheucheltste Freude über das Wiedersehen. Alle Gesichter strahlten. Ebenso auf dem Wege zum Marktplatz; jeder freute sich; jeder grüßte. Während sie keinen Gedanken für diese Leute gehabt hatte, hatten sie ihrer gedacht. Vom Haus am Markt wollten sie später am Tage mit dem Küstendampfer nach Krogskog weiterfahren. In der Zwischenzeit bekamen sie Besuch von ihren Verwandten. Die mußten ihnen doch sagen, wie froh sie seien, sie endlich wiederzusehen. Sie mußten auch von der Freude berichten, die das spanische Bild Marys hervorgerufen hatte, erst hier, dann in der Hauptstadt und jetzt auf einer Rundreise durch das Land mit anderen Bildern. Man schreibe,—ja, sie habe doch gelesen, was man schreibe?—Nein, sie habe überhaupt keine Zeitungen gelesen, nur hier und da ein Blatt, das an ihrem jeweiligen Aufenthaltsort erschienen sei. "Liest Du denn keine hiesigen Zeitungen?"—"Doch, wenn Vater sie mir zeigt." Ob ihr denn ihr Vater nichts davon erzählt habe, und Frau Dawes auch nicht?—"Nein."—"Ja, nun sei sie in ganz Norwegen bekannt. Dies sei doch das dritte Bild von ihr; oder gar das vierte? Und dies sei das schönste. Die illustrierten Zeitschriften hätten es gebracht. Ein englisches Kunstjournal, "The Studio", habe es auch reproduziert. Ob sie das nicht wisse?"—"Nein."—Die Jugend sei ganz stolz auf sie. Darum hätten sie mit ihrem Frühlingsfest bis zu ihrer Heimkehr gewartet. "Da soll Staat mit Dir gemacht werden."—"Mit mir?"—"Wir wollen nach Marielyst, der Dampfer von hier und einer aus der Nachbarstadt, wir treffen uns dort. Jörgen Thiis hat von Paris aus den ganzen Plan entworfen."—"Jörgen Thiis?"—"Ja, hat er nichts davon gesagt?"—"Nein."

Kaum war sie allein, so ging sie zu ihrem Vater ins Zimmer, der im Begriff war, einige Kunstgegenstände auszupacken, die er gekauft hatte, und die hier aufgestellt werden sollten. "Vater, hast Du die Bilder von mir ausstellen lassen?" Er lächelte und sagte unschuldig: "Ja, allerdings habe ich das getan, liebes Kind. Und viele haben ihre Freude daran gehabt. Man hat mich übrigens darum gebeten. Man hat mich jedesmal darum gebeten." Er sagte es so nett. Daß er ihr nichts davon gesagt hatte und auch Frau Dawes und gleichzeitig wohl auch Jörgen Thiis es verboten hatte, fand sie reizend. Sie tat etwas, was sie sonst sehr selten tat, sie ging hin und gab ihm einen Kuß.

Also das war es, worüber ihr Vater so eifrig mit Frau Dawes und Jörgen Thiis getuschelt und geflüstert hatte? Deshalb waren die Zeitungen aus der Heimat ihr vorenthalten worden. Alles war verabredet,—sogar der Vorschlag, gerade jetzt nach Hause zu reisen! Sie hatte Jörgen Thiis beinahe lieb.

Als sie nach Krogskog abfuhren, hatte sich eine Menge Jugend auf der Brücke eingefunden. Sie riefen: "Auf Wiedersehen am Sonntag!"

Sie fand die Landschaft hinreißend schön. Die kleine halbe Stunde bis Krogskog war wie ein Begrüßen guter alter Bekannter, ein fortwährendes Begrüßen. Jetzt war auch die partielle Verlegung der Strandstraße an der Küste entlang fertig. Es war wirklich lustig, wie sie sich um die Landzungen herumschlängelte und oft in die Felsen hineinschnitt. Über Krogskog führte der Weg wie früher durch die Ebene von einer Landspitze zur andern, dicht an der Landungsbrücke vorbei und dicht unter der Kapelle mit dem Kirchhof.

Nein, wie behaglich Krogskog dalag: Sie hatte behalten, wie einsam es lag; aber sie hatte vergessen, wie reizvoll es war! Diese stille, blanke Bucht mit den Seevögeln! Das Gekräusel da hinten, wo der Fluß mündete, die große Ebene hoch oben zwischen den Hügeln, und die Höhen so grünbewachsen. Waren die Bäume vor dem Wohnhause wirklich nicht höher? Wie gut sich das langgestreckte Haus machte mit den schwarzen Fenstern und der schwarzen Grundmauer. Aus dem einen Schornstein stieg dichter Rauch auf; er wirbelte ein lustiges Willkommen in die Luft. Sie sprang vor den andern an Land und lief hinüber. Ein Mädchen von neun, zehn Jahren kam heruntergerannt, blieb, als sie Mary gewahrte, stehen, machte Kehrt und rannte all was sie konnte zurück. Mary aber holte sie vor der Treppe ein. "Jetzt hab' ich Dich!" sie drehte sie zu sich herum: "Wie heißt Du?" Es war ein hellhaariges, lachendes Ding, das nicht antwortete. Auf der Treppe standen die Mädchen und eine von ihnen sagte, sie heiße Nanna und sei hier Laufmädchen. "Dann sollst Du mein Mädchen sein!" sagte Mary und nahm sie die Treppe mit hinauf. Sie nickte jeder einzelnen zu, merkte aber, wie enttäuscht sie waren, als sie eilig weiterging, ohne mit ihnen zu sprechen. Sie sehnte sich danach, den Fuß auf die dicken Teppiche zu setzen, die seltsame Beleuchtung im Vorzimmer um sich zu fühlen, die großen, kostbaren Schränke und alle Malereien und Raritäten aus der holländischen Zeit wiederzusehen. Sie sehnte sich mehr noch danach, hinauf in ihr eigenes Gemach zu kommen. Diese Lautlosigkeit auf der Treppe und nachher auf dem langen, dämmerigen Gang—die hatte nie ein solches Flüsterspiel mit ihr getrieben wie heute. Etwas Weiches, Halbverstecktes, Vertrautes und Nahes zugleich. Das redete noch zu ihr, als sie vor der Tür zu ihrem Zimmer stand, es hielt sie so fest, daß es eine Weile dauerte, bis sie die Tür öffnete.

Ah, der Raum lag in vollem Sonnenlicht, es kam von dem Fenster an der Längswand, das auf die andern Häuser und auf die Anhöhe hinausging. Blasseres Licht vom Fenster gerade gegenüber, das auf den Obstgarten und drunten auf die Bucht sah. Die blinkte durch die Bäume. Über den Bäumen sah man die Inseln und das hellgraue Meer. Vom Hügel aber, der im schönsten Blüten- und Laubschmuck stand, zog Frühlingsduft herein. Das Zimmer selbst in seiner weißen Reinheit lag da wie ein Schoß, der all dies aufnahm. Hier drinnen scharte sich alles ehrerbietig um das Bett, das mitten in der Stube stand. Es war nicht nur wie für eine Prinzessin; es war die Prinzessin selber; alles andere neigte sich davor.

* * * * *

Der Ausflug nach Marielyst war in jeder Beziehung wohlgelungen. Aber an dem Tage kam zwischen Mary und Jörgen eine Verstimmung auf.

Das ging so zu. Jörgen Thiis kam mit einer großen, starken Dame an Bord—ihre breite Stirn, die warmen Augen, die kleine Nase und das vorspringende Kinn trieben ein leichtes Rot in Marys Wangen, das sie zu verbergen suchte, indem sie sich erhob und fragte: "Sie sind doch die Schwester des Hauptmanns im Geniekorps Franz Röy?"—"Ja", antwortete Jörgen Thiis; "wir haben der Sicherheit halber einen Arzt mitgenommen." –Mary: "Das freut mich sehr; ich habe natürlich durch Ihren Bruder von Ihnen gehört. Er hat Sie sehr lieb."—"Das tun wir überhaupt alle", versicherte Jörgen Thiis und entfernte sich.

Fräulein Röy selbst hatte nichts gesagt, aber ihre forschenden Augen überströmten Mary mit Bewunderung. Jetzt setzte sie sich neben sie. "Bleiben Sie lange daheim?"—"Das weiß ich nicht. Vielleicht reisen wir überhaupt nicht mehr; mein Vater ist zu schwach."—Fräulein Röys kluge Augen notierten das förmlich. Sie sagte eine ganze Weile nichts mehr. Mary aber dachte bei sich: wie taktvoll, daß sie nicht von ihrem Bruder anfängt.

Die beiden gingen während des Ausflugs einander nicht von der Seite. Sie standen auch zusammen, als nachher im Freien Erfrischungen gereicht und Reden gehalten wurden. Die Festfreude stieg Jörgen Thiis zu Kopf. Man kam zu ihm und stieß mit ihm an, und er wurde sentimental und redete. Auf das Ideal, das ewige Ideal. Glücklich der Mann, dem es schon in seiner Jugend begegne! Er trage es in seiner Brust wie einen wegweisenden, unauslöschbaren Scheinwerfer auf dem Pfade des Lebens!—Er trank das Glas bis zum Grunde aus und schleuderte es bleich und bewegt zu Boden.

Dieser fürchterliche Ernst kam den fröhlichen Menschen so unerwartet, daß sie lachen mußten. Alle miteinander!

Fräulein Röy sagte zu Mary: "Sie sind doch viel mit Leutnant Thiis zusammen gewesen?"—"Diesen Winter und im vorigen auch", antwortete Mary leichthin und aß ihr Eis.

Ein junges Mädchen stand daneben. "Es ist eine merkwürdige Sache mit Jörgen Thiis", sagte sie. "Zu uns ist er so nett; aber gegen die Soldaten soll er so schlecht sein." Erstaunt wandte Mary sich zu ihr um. "Wieso schlecht?"—"Er soll sie so quälen, soll so furchtbar streng sein und so ganz sonderbar, und um das kleinste strafen." Mary richtete ihre allergrößten Augen auf Margrete Röy. "Ja, das ist Tatsache", antwortete die leichthin; sie aß auch ihr Eis.

Als gegen Abend der Tanz zu Ende war und sie zum Schiff hinunterzogen, Mary an Jörgens Arm, da sagte sie zu ihm: "Ist es wahr, daß die Mannschaften Ihres Kommandos über Sie klagen?"—"Das kann schon sein, gnädiges Fräulein." Er lachte.—"Ist das zum Lachen?"—"Ja, zum Weinen jedenfalls nicht, gnädiges Fräulein", er war so recht vergnügt, er hätte sie am liebsten in den Arm genommen und wäre mit ihr nach der Landungsstelle hinunter getanzt; das taten viele andere auch. Aber Mary weigerte sich. "Mir hat es weh getan, das zu hören", sagte sie. Da merkte er, daß es ihr Ernst war. "Ich will Ihnen sagen, gnädiges Fräulein, der Norweger weiß im großen und ganzen nicht, was Gehorsam und Disziplin sind. In der kurzen Zeit, da wir ihn unter unserm Kommando haben, müssen wir es ihm beibringen."—"Auf welche Weise?"—"Mit Kleinigkeiten natürlich."—"Indem Sie ihn mit Kleinigkeiten quälen?"—"Ja. Ganz recht."—"Mit Dingen, deren Notwendigkeit er nicht einsieht?"—"Ja gewiß. Er soll sich das Räsonnieren abgewöhnen. Er soll gehorchen. Und das, was er tut, soll er korrekt tun. Absolut korrekt."

 

Mary antwortete nicht. Aber als jetzt ein Paar an ihre Seite kam, sprach sie mit denen und setzte das fort, bis sie die Landungsbrücke erreicht hatten.

Auf dem Schiff sah sie, daß Jörgen Thiis verstimmt war. Als sie von Bord gingen, stand er nicht an der Landungsbrücke. Ohne jede Verabredung begleitete die ganze Gesellschaft sie heim nach dem Haus am Markt. Sie sangen und lärmten vor der Tür, bis sie auf den Altan heraustrat und Blumen über sie streute,—die mitgebrachten und alle, die sie irgend fand. Sie gingen lachend und geräuschvoll auseinander. Aber als sie von dannen zogen, suchte sie unter ihnen nach Jörgen; er war nicht da. Das tat ihr leid; sie hatte ihm einen der schönsten Tage ihres Lebens schlecht gelohnt. Alle waren so reizend zu ihr gewesen.

Größere und kleinere gesellschaftliche Zusammenkünfte lösten jetzt einander ab; aber Jörgen Thiis war verschwunden. Zuerst war er eine Zeitlang daheim bei seinen Eltern gewesen, jetzt war er in Kristiania. Mary hatte nie weiter an Jörgen Thiis gedacht; aber nun, da er sich fernhielt, besann sie sich darauf, wieviel von jenen schönen Begegnungen mit ihren Altersgenossen auf sein Konto kam. Der wunderliche Toast, den er auf die "Treue gegen das Ideal" ausgebracht hatte, … als er sprach, da hatte sie nur gedacht: wie sentimental Jörgen Thiis doch sein kann! Jetzt dachte sie: vielleicht galt das mir? Sie war an solche Übertreibungen gewöhnt, und sie machte sich absolut nichts aus Jörgen Thiis. Aber wenn sie überlegte, wie rasend verliebt er schon bei ihrem ersten Zusammentreffen gewesen war, und daß er in all diesen Jahren genau so geblieben war, wann und wo sie sich auch begegneten, da wurde das doch ein wenig mehr. Die gierigen, verzehrenden Augen bekamen dadurch beinahe etwas Rührendes. Daß er es nicht ertrug, mit ihr zusammen zu sein, wenn sie das geringste gegen ihn hatte, bewies ja auch, wie gern er sie hatte. Daß er nichts sagte, sondern einfach fortblieb, gefiel ihr.

Da kam eines Tages Mille Falke, die hübsche, sanfte Frau des lungenkranken Oberlehrers, zu ihr heraus. Sie habe einen Brief von Jörgen Thiis bekommen. Eine Gesellschaft von zehn Personen in Kristiania habe eine Fahrt nach dem Nordkap geplant. Sie hätten schon vor zwei Monaten die Plätze bestellt,—und jetzt sei etwas dazwischen gekommen. Man habe Jörgen Thiis gefragt, ob er nicht die Billets übernehmen und zehn Personen heranholen könne, um mit ihnen diese herrliche Fahrt zu machen. Unten in den Kleinstädten lebe man in besserer Kameradschaft, da sei es leichter, eine solche Gesellschaft zusammenzubringen. Jörgen Thiis habe sich bereit erklärt,—wenn Mary Krog dabei sein wolle; er wisse, dann bekomme man die andern schon zusammen.

Frau Falke setzte Mary das in ihrer Schmeichelkatzenart auseinander, der nur wenige widerstehen konnten. Mary hatte freilich nicht die geringste Lust, in der Sommerhitze auf dem Deck eines Dampfers zu sitzen und alles abzubrechen, was hier unternommen wurde; es war gar zu nett. Aber sie wollte Jörgen Thiis nicht gern noch einmal kränken. Sie sprach mit ihrem Vater und mit Frau Dawes: sie hörte noch einmal Frau Falke an—und willigte ein.

In der ersten Hälfte des Juli versammelte sich die Gesellschaft eines Nachts an Bord eines Küstendampfers, der sie nach Bergen bringen sollte. Von dort wollte man die Reise antreten. Es waren sechs Damen und vier Herren. Eine der Damen war die würdige Vorsteherin der Schule, die Mutter des einen Herrn und die ehemalige Lehrerin von drei der Damen. Sie war das moralische Zentrum. Dann war ein jungverheiratetes Paar da, das die ganze Reise über geneckt wurde. Es lohnte sich; denn beide waren sehr lebhaft und gaben es reichlich zurück. Ein junger Kaufmann schnitt zwei Damen die Kur—behauptete man wenigstens—ohne sich klar zu werden, welche er am liebsten mochte. Das zu entscheiden, half ihm die ganze übrige Gesellschaft; die beiden Damen am eifrigsten. Ein junger Philologe wurde gleich in der ersten Nacht auf dem Küstendampfer "der Verlassene" getauft. Mit Ausnahme der alten Dame machten alle anderen einen furchtbaren Radau, und keiner tat ein Auge zu. Er allein konnte nicht tanzen und auch nicht singen und auch nicht die Kur schneiden. Er konnte nicht mal vertragen, wenn man ihm den Hof machte, dann wurde er nämlich verlegen. Die Folge war, daß alle, auch Mary, "dem Verlassenen" den Hof machten, bloß um sich an seinem jämmerlichen Zustand zu weiden. Der Urheber dieser Scherze war immer Jörgen Thiis; er neckte so leidenschaftlich gern. Seine Erfindungsgabe in dieser Beziehung konnte man nicht immer frei von Bosheit nennen.

Im Anfang ging er frei aus. Aber nach und nach wagte sich sogar "der Verlassene" an ihn heran. Über seinen Appetit, seine Herrschsucht und besonders über seine untertänige Dienerrolle Mary gegenüber wurde allgemein gestichelt. Mary hatte die wachsamen Augen der Krogs für Übertreibungen, so daß sie mitlachte, auch wenn es über die Untertänigkeit gegen sie herging. Er ließ sich nicht im geringsten stören. Er aß genau soviel, war genau so pedantisch als Führer der Gesellschaft und blieb unerschütterlich Marys erfinderischer, unablässig hilfsbereiter Diener.

Das Schiff war voll Passagiere; darunter viele Ausländer. Aber die fröhliche Gesellschaft von Jörgen Thiis wurde der Mittelpunkt. Die Natur machte so häufig Anspruch auf die Bewunderung der Reisenden, daß nicht allzu große Reibungen vorkamen. Es war, als werde etwas Gewaltiges vorgetragen. Ein Wunder löste das andere ab. Dazu kam der lange Tag. Die Nächte wurden immer kürzer; schließlich gab es überhaupt keine Nacht mehr. Sie fuhren in lauter Licht hinein, und das berauschte. Sie wurden nicht müde. Sie tranken, sie tanzten und sangen; schließlich waren sie alle auf denselben Ton gestimmt. Es wurden Vorschläge gemacht, die sonst unmöglich gewesen wären; in die Wildheit der Landschaft, in den Rausch von Licht paßten sie hinein. Als Mary eines Tages bei starkem Sturm ihren Hut verloren hatte, sprangen zwei Herren ihm nach. Der eine war natürlich Jörgen Thiis. Die Gemüter waren hoch über den Alltag hinaus gespannt. Wenn einer oder der andere müde wurde, schlief er Tage und Nächte durch. Aber die meisten hielten aus, jedenfalls solange es vorwärts ging. Unter ihnen Mary.

Jörgen Thiis hatte es durch seine ehrerbietige Energie dahin gebracht, daß alle Leute Mary mehr oder weniger genau so behandelten wie er selbst. Es kam auch nicht die geringste Störung vor, was besonders ihrer eigenen formvollendeten Art und ihrer aufmerksamen Rücksichtnahme zu danken war.

Als sie von Bord gingen und wieder den Küstendampfer bestiegen, forderte sie aus dem Gefühl aufrichtiger Dankbarkeit Jörgen Thiis auf, mit ihr nach Krogskog zu kommen. "Ich kann nicht so plötzlich Schluß machen", sagte sie.

Und er blieb mehrere Tage dort. Alles fand er schön und behaglich. Der Kunstsinn, der ihm eigen war, ging mehr aufs kleine; er schwärmte z.B. für ethnographische Schnurrpfeifereien, und deren gab es hier eine Menge. Die Zimmer und ihre Einrichtung waren so ganz nach seinem Geschmack. Frau Dawes, der gegenüber er frei heraus redete, vertraute er sich an; dies Behagliche, Gedämpfte stimme ihn erotisch, sagte er. Er phantasierte viele Stunden lang auf dem Klavier; und immer in dieser Richtung.

Mary behandelte er unter vier Augen mit der gleichen Ehrerbietung wie in Gegenwart anderer. Seit sie ihn kannte, hatte sie nicht ein einziges Wort von ihm gehört, das als Einleitung zu einer Werbung aufgefaßt werden konnte; ja nicht einmal ein Wort, das eine Einleitung zur Einleitung hätte darstellen können. Und das gefiel ihr.

Sie streiften zusammen durch Wald und Feld; sie ruderten zusammen zum Besuch bei Verwandten. Er hatte den Schlüssel zu ihrem Badehaus. Er ging hin, wenn noch keiner auf war, oft nach ihren Spaziergängen noch einmal.

Mary selbst war umgänglicher geworden. Er sagte es einmal. "Ja," antwortete sie, "die jungen Menschen hier leben mehr wie ein Geschwisterkreis zusammen und sind daher anders, freier und frischer.

Das hat mich angesteckt."

Eines Morgens mußte er zur Stadt und Mary begleitete ihn. Sie wollte Onkel Klaus, seinen Pflegevater, besuchen. Sie hatte ihn, seit sie heimgekommen war, noch nicht gesehen.

Er saß in einer Rauchwolke wie eine Spinne in ihrem grauen Netz. Er sprang auf, als er Mary eintreten sah, war beschämt und führte sie in die gute Stube. Jörgen hatte Mary darauf vorbereitet, daß er schwerlich guter Laune sei; er habe wieder kleine Verluste gehabt. Sie saßen auch kaum in der kahlen, steifen guten Stube, als er anfing, über die schlechten Zeiten zu klagen. Wie seine Art war, machte er den Rücken krumm und spreizte die Beine auseinander, um die Ellbogen auf die Knie stützen und die langen Finger gegeneinander stemmen zu können.—"Ja, Sie haben es gut; Sie amüsieren sich bloß!" Vielleicht wollte er das wieder gutmachen. Er sagte: "Ich habe nie ein schöneres Paar gesehen!"

Jörgen lachte, wurde aber rot bis an die Schläfen. Mary saß unbeweglich; es berührte sie nicht.

Jörgen begleitete sie zurück nach dem Krogschen Haus am Markt, das dicht daneben lag. Er sagte unterwegs kein Wort und verabschiedete sich flüchtig. Später kam Nachricht von ihm, er müsse bis zum Abend in der Stadt bleiben; dann fahre er mit seinem Rade nach Krogskog hinaus. Das war gegen die Verabredung; aber sie fuhr heim.

Auf der Dampferfahrt nach Hause nahm sie den Gedanken auf: Jörgen Thiis und sie ein Paar? Nein! Das war ihr noch nie in den Sinn gekommen. Er war ein schöner eleganter Kerl, ein tadelloser Kavalier, ein wirklicher Künstler auf dem Klavier. Über seinen hellen Kopf und seinen Takt war nur eine Meinung. Selbst das, was sie früher so abgestoßen hatte, seine Genußsucht, die in Blick und Mienen auftauchen und ihnen dies Verzehrende geben konnte, von dem sie sich abwandte … vielleicht war von dieser Grundlage aus das andere kultiviert worden? Das Gefühl für das Vollkommene in Kunst, Disziplin und Sprache? Aber doch blieb da etwas Unaufgeklärtes. Es war ihr gleichgültig, was es war; denn sie warf all diese Betrachtungen über Bord. Es ging sie nichts an.

Sie hatte eine Bauernfrau gesehen, die in ihrer Jugend bei ihnen gedient hatte; zu der setzte sie sich. Die Frau freute sich: "Na, wie geht es Ihrem Vater? Jetzt bin ich so alt geworden; aber ich sage, soviele ich kennen gelernt habe,—einen netteren Mann als Ihren Vater habe ich nie getroffen. Er ist und bleibt der Beste."

Das kam so unerwartet und so warm heraus, daß es Mary rührte. Die Frau erzählte dann eine Geschichte nach der anderen von der Güte ihres Vaters und von seinem rücksichtsvollen Wesen. Sie hatte solange zu erzählen, bis sie da waren. Zuerst dachte Mary, etwas Schöneres sei ihr lange nicht widerfahren. Aber dann wurde ihr bange. Sie hatte fast vergessen, wie sehr sie selbst ihn liebte, hatte sich abgewöhnt, ihm das zu zeigen. Warum? Warum war sie von soviel anderem in Anspruch genommen und nicht von ihm, der der Liebste und Beste von allen war?

Sie lief eilig nach dem Hause hinauf. Obwohl der Vater kränklich war, war sie in letzter Zeit fast nie bei ihm gewesen.

Als sie näher kam, sah sie Jörgens Rad an der Treppe stehen und hörte ihn spielen. Aber sie eilte vorbei zu ihrem Vater hinein, der in seinem Arbeitszimmer am Pult saß und schrieb. Sie schlang die Arme um ihn und küßte ihn, blickte ihm in die guten Augen und küßte ihn noch einmal. Mit ihrem scharfen Sinn für Komik lachte sie, als sie sein Erstaunen sah. "Ja, sieh mich nur an, denn ich tue es gar so selten. Aber es ist trotzdem wahr, daß ich Dich grenzenlos lieb habe." Wieder küßte sie ihn. "Mein liebes Kind!" sagte er und lächelte mitten in dem Überfall vor sich hin. Er war glücklich, das merkte sie. Allmählich kam in seine Augen das eigentümliche Leuchten, das keiner wieder vergessen konnte. Sie dachte bei sich: dies tue ich fortan jeden einzigen Tag.

Jörgen und sie hatten eine Radtour in die Umgegend verabredet. Am nächsten Tage waren sie unterwegs. Der Verwandte, zu dem sie kamen, ein Kompagniechef, freute sich sehr über den Besuch. Sie mußten zwei, drei Tage dableiben. Die junge Welt aus der Nachbarschaft wurde dazu geladen und es kam eine Partie auf die Alm zustande,—wieder für Mary etwas Neues. "Ich kenne alle Länder, nur mein Vaterland nicht." Im nächsten Jahr wollte sie aber eine Reise durch Norwegen machen; dazu brauchte sie keine besondere Reisebegleitung. Mit dieser Aussicht wurde es eine königliche Heimfahrt.

 

Gerade als Jörgen und sie ihre Räder an die Balustrade anlehnten, kam die kleine Nanna aus der Tür gelaufen und eilig die Treppe herunter. Sie weinte, bemerkte aber die Ankommenden nicht; sie wollte nach der andern Seite. Als Mary rief: "Was ist los?" blieb sie stehen und schluchzte: "Oh, kommen Sie, kommen Sie, ich sollte jemand holen!" Ebenso schnell wieder die Treppe hinauf, um zu verkünden, daß sie jetzt kämen. Jörgen hinterdrein, dann Mary. Es ging durch das Vorzimmer, die Treppe hinauf, den Gang entlang bis zur letzten Tür rechts. Da drinnen lag Anders Krog auf dem Fußboden, und neben ihm kniete schluchzend Frau Dawes. Er hatte einen Schlaganfall bekommen. Jörgen hob ihn auf, trug ihn auf sein Bett und legte ihn zurecht. Mary aber stürzte wieder hinunter ans Telephon wegen des Doktors.

Der Doktor war nicht zu Hause; sie suchte ihn überall. Dazwischen schrie in ihr die Verzweiflung, daß sie nicht bei ihm gewesen war, als dies geschah. Sie hatte sich doch gerade das Versprechen gegeben, jeden Tag lieb zu ihm zu sein,—und hatte ihn doch verlassen! Ja, noch heute hatte sie sich auf den nächsten Sommer gefreut, wo sie ohne ihn im Lande herum reisen wollte. Was war aus ihr geworden? Was war los mit ihr?

Sobald sie den Doktor gefunden hatte, eilte sie zum Vater zurück. Da war er ausgezogen, und Jörgen war fort. Frau Dawes aber saß am Kopfende des Bettes auf einem Stuhl mit einem Brief in der Hand, grenzenlos unglücklich. Kaum gewahrte sie Mary, so reichte sie ihr den Brief, ohne die Blicke von dem Kranken zu wenden.

Der Brief war aus Amerika von einem Mary unbekannten Mann, der ihnen mitteilte, daß Bruder Hans ihr und sein Vermögen verloren habe. Er selbst sei schwachsinnig, sei es sicher schon lange gewesen.

Mary war es bekannt, daß es in der männlichen Linie der Familie Krog nichts Außergewöhnliches war, wenn alte Leute geistesschwach wurden.

Aber sie war erschrocken, daß ihr Vater keine Kontrolle geübt hatte!

Auch das war ein bedenkliches Zeichen.

Ihr Vater mußte mit diesem Brief auf dem Wege zu Frau Dawes gewesen sein, als ihn der Schlag gerührt hatte. Die Tür war nämlich geöffnet, und er lag dicht daneben.

Mary las den Brief zweimal und wandte sich an Frau Dawes, die saß und weinte. "Ja, ja, Tante Eva,—das muß getragen werden."—"Getragen werden? Getragen werden? Was meinst Du? Das Geld? Das lumpige Geld! Aber Dein Vater! Dieser herrliche Mensch, mein bester Freund!" Sie blickte unverwandt auf seine geschlossenen Augen und weinte unaufhörlich, während sie ihm die zärtlichsten Namen gab, die höchsten Lobesworte, aber auf englisch. In der fremden Sprache fielen die Worte wie aus einer fernen Zeit über ihn; Mary lag auf den Knien daneben und las sie auf. Sie brachten von jedem Tage in dem Zusammenleben der beiden Alten die Entbehrungen, den Dank,—einen Niederschlag dessen, was sie an guten Worten, an freundlichen Blicken, an Gaben und Nachsicht empfangen hatte. Es kam so reich und so warm heraus mit der freudigen Kraft des guten Gewissens; denn Frau Dawes hatte versucht, ihm alles zu sein, so weit es in ihren Kräften stand. So goldene Worte jetzt über Marys Haupt ihm zu Ehren ausgeschüttet wurden, sie selbst machten sie arm. Denn sie war ihm so wenig gewesen. Oh, wie sie es bereute, wie verzweifelt sie war.

Jörgen Thiis erschien draußen auf dem Gange, gerade als sie aufstand. Sie bückte sich nach dem Brief und wollte ihm das Papier geben, als Frau Dawes, die ihn auch gewahrte, ihn bat, sie in ihr Zimmer zu führen; sie müsse auch zu Bett. "Gott weiß, wann ich wieder aufstehe! Wenn es mit ihm zu Ende ist, ist es mit mir auch vorbei."

Jörgen eilte herzu, nahm die schwere Masse aus dem Stuhl auf und segelte langsam mit ihr ab; er klingelte nach einem Mädchen, das sie dann zu Bett brachte; er selbst ging zu Mary zurück. Sie stand unbeweglich da mit dem Brief in der Hand, den sie ihm jetzt hinreichte.

Er las ihn aufmerksam und wurde bleich. Ja, er war eine Weile wie betäubt; Mary trat ein paar Schritte näher an ihn heran; aber er merkte es nicht. "Das hat den Schlaganfall verursacht", sagte sie.

"Natürlich", flüsterte er, ohne sie anzusehen. Gleich darauf ging er.

Mary stand wieder neben ihrem Vater. Sein schönes, feines Gesicht rief nach ihr; sie warf sich wieder über ihn und schluchzte. Denn ihm, den sie am liebsten hatte, war sie am wenigsten gewesen. Vielleicht nur, weil er selbst nie an sich gedacht hatte?

Sie verließ ihn nicht, bis der Doktor kam und mit ihm die Pflegerin. Da ging sie zu Frau Dawes hinein.

Frau Dawes war verzweifelt und elend. Mary wollte sie trösten, aber sie unterbrach sie heftig: "Ich habe es zu gut gehabt. Ich bin mir zu sicher gewesen. Jetzt kommt der Ernst!" Mary erschrak bei diesen Worten; denn das hatte ihr die ganze Zeit auf dem Herzen gelegen.

"Du verlierst uns beide, armes Kind! Und Dein Vermögen auch!" Mary war es nicht lieb, daß sie das Vermögen erwähnte. Frau Dawes fühlte das und sagte: "Du verstehst mich nicht, armes Kind! Es ist nicht Deine Schuld, es ist unsere. Wir haben Dir zu viel Willen gelassen. Aber Du warst auch so häßlich, wenn wir es nicht taten."

Mary blickte erschrocken auf: "Ich häßlich?"—Frau Dawes: "Ich habe es Deinem Vater gesagt, Kind, ich habe es ihm oft gesagt. Aber er war so herzensgut, er beschönigte immer alles."

Jörgen kam mit dem Doktor herein. "Wenn irgend etwas hinzutritt, kann es vorbei sein, gnädiges Fräulein."—"Bleibt er gelähmt?" fragte Frau Dawes.—Der Doktor wich der Frage aus; er sagte nur: "Jetzt ist vor allem Ruhe nötig." Es wurde still nach dieser Erklärung.

"Gnädiges Fräulein dürfen nicht bei dem Kranken wachen, lieber zwei Pflegerinnen." Mary antwortete nicht. Frau Dawes fing wieder zu weinen an: "Ja, jetzt kommen andere Tage."—

Der Doktor ging, begleitet von Jörgen Thiis. Als Jörgen zurückkam, fragte er leise: "Soll ich auch fort,—oder kann ich irgendwie nützen?"–"O nein, verlassen Sie uns nicht!" jammerte Frau Dawes. Jörgen blickte Mary an, die nichts sagte; sie schaute auch nicht auf. Sie weinte leise vor sich hin.

"Sie wissen, gnädiges Fräulein," sagte Jörgen Thiis ehrerbietig, "daß ich keinem Menschen lieber zu Diensten sein möchte."—"Das wissen wir, lieber Freund, das wissen wir", schluchzte Frau Dawes.

Mary hatte den Kopf erhoben; aber bei Frau Dawes' Worten schwieg sie.

Als Mary nachher aus Frau Dawes' Stube kam, öffnete Jörgen eben die Tür seines Zimmers, das Marys gerade gegenüber lag. Er blieb in der weit geöffneten Tür stehen, so daß sie den gepackten Koffer hinter ihm sehen konnte. Sie stand still: "Sie wollen fort?"—"Ja", antwortete er.—"Hier wird es jetzt still." Er wartete auf mehr; aber mehr kam nicht. "Jetzt beginnt die Jagdsaison. Ich hatte Ihren Vater fragen wollen, ob ich in seinen Wäldern jagen dürfe."—"Wenn Ihnen meine Erlaubnis genügt, steht dem nichts im Wege."—"Tausend Dank, gnädiges Fräulein! Ja, da darf ich doch auch mal hierherkommen?" Er verneigte sich tief und nahm ihre Hand.

Dann ging er zu Frau Dawes hinein, um ihr Adieu zu sagen. Da blieb er mindestens zehn Minuten. Er kam gerade wieder heraus, als Mary zu ihrem Vater hinüberging.