Kostenlos

Ein fröhlicher Bursch: Eine Erzählung

Text
0
Kritiken
iOSAndroidWindows Phone
Wohin soll der Link zur App geschickt werden?
Schließen Sie dieses Fenster erst, wenn Sie den Code auf Ihrem Mobilgerät eingegeben haben
Erneut versuchenLink gesendet

Auf Wunsch des Urheberrechtsinhabers steht dieses Buch nicht als Datei zum Download zur Verfügung.

Sie können es jedoch in unseren mobilen Anwendungen (auch ohne Verbindung zum Internet) und online auf der LitRes-Website lesen.

Als gelesen kennzeichnen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

6

Ein halbes Jahr später, im Herbst nämlich – die Konfirmation war bis dahin hinausgeschoben worden – , saßen die Konfirmanden des Kirchspiels im Leutezimmer des Pfarrhofs, um gesetzt zu werden; unter ihnen waren auch Öyvind Pladsen und Marit von den Heidehöfen. Marit war gerade von dem Pfarrer heruntergekommen, von dem sie ein schönes Buch und viel Lob erhalten hatte; sie lachte und schwatzte mit ihren Freundinnen nach allen Seiten hin und sah sich unter den Knaben um. Marit war ein völlig erwachsnes Mädchen, leicht und frei in ihrem ganzen Wesen, und die Knaben wie auch die Mädchen wußten, daß der stattlichste junge Mann des Kirchspiels, Jon Hatlen, sich um sie bewarb; sie konnte wohl fröhlich sein, wie sie so dasaß. Unten an der Tür standen einige Mädchen und Knaben, die nicht bestanden hatten; sie weinten, während Marit und ihre Freundinnen lachten; unter ihnen war ein kleiner Junge, der seines Vaters Stiefel und seiner Mutter Sonntagstuch trug. „Gott o Gott!“ schluchzte er, „ich wage nicht heimzugehn.“ – Und das ergriff alle die, die noch nicht geprüft worden waren, mit der Macht des Mitgefühls; es entstand ein allgemeines Schweigen. Die Angst fuhr ihnen in den Hals und in die Augen, sie konnten nicht klar sehen und auch nicht schlucken, wozu sie einen unaufhörlichen Drang fühlten. Einer saß da und überrechnete, was er könnte, und obwohl er erst wenige Stunden zuvor ausgerechnet hatte, daß er alles könne, so fand er jetzt ebenso sicher heraus, daß er nichts konnte, nicht einmal mehr fließend lesen konnte er. Ein andrer zählte sein Sündenregister zusammen von der Zeit an, wo er so groß war, daß er sich daran erinnern konnte, bis jetzt, wo er hier saß, und er fand, daß es durchaus nicht merkwürdig wäre, wenn ihn der liebe Gott diesmal noch sitzen ließe. Ein dritter saß da und achtete auf alle möglichen äußern Dinge; wenn die Uhr, die gerade schlagen sollte, zum Schlagen aushübe, ehe er bis zwanzig gezählt hätte, so kam er durch; wenn der, den er draußen auf der Diele hörte, der Knecht Lars war, dann kam er durch; wenn der große Regentropfen, der sich langsam draußen am Fenster herunterarbeitete, bis an die Leiste gelangte, so kam er durch. Die letzte und entscheidende Probe sollte sein, ob er den rechten Fuß um den linken zu schlingen vermöchte, und das war ihm ganz unmöglich. Ein vierter wußte ganz genau, wenn er in der biblischen Geschichte nur nach Joseph und im Katechismus nur nach der Taufe gefragt würde, oder auch nach Saul, oder nach der Haustafel, oder nach Jesus, oder nach den Geboten, oder – er saß noch da und überlegte, da wurde er gerufen. Ein fünfter hatte sich mit großer Vorliebe auf die Bergpredigt gelegt; er hatte von der Bergpredigt geträumt; er war fest überzeugt, daß er nach der Bergpredigt gefragt werden würde, und er sagte sich die ganze Bergpredigt leise her; er mußte sich draußen an die Wand des Hauses stellen, um die Bergpredigt noch einmal zu überlesen – da wurde er hinaufgerufen, um über die großen und die kleinen Propheten examiniert zu werden. Ein sechster dachte an den Pfarrer, der ein so prächtiger Mann war und seinen Vater so gut kannte, er dachte auch an den Schulmeister, der ein so liebevolles Gesicht hatte, und an Gott, der so barmherzig war und schon so vielen geholfen hatte, sowohl Joseph als auch Jakob, und dann dachte er daran, daß seine Mutter und seine Geschwister daheim säßen und für ihn beteten, und daß das sicher helfen würde. Der siebente saß da und leistete im stillen Verzicht auf alles das, was er hier in der Welt hatte werden wollen. Einmal hatte er gehofft, es bis zum König zu bringen, einmal bis zum General oder bis zum Pfarrer, jetzt war die Zeit vorüber; aber bis zu dem Augenblick, wo er hierher gekommen war, hatte er doch daran gedacht, zur See zu gehn und Kapitän, vielleicht Seeräuber zu werden und ungeheure Reichtümer zu erwerben; jetzt verzichtete er zuerst auf die Reichtümer, dann auf den Seeräuber, dann auf den Schiffskapitän, auf den Steuermann, beim Matrosen blieb er stehn, höchstens wollte er Bootsmann werden, ja es war möglich, daß er überhaupt nicht zur See ginge, sondern eine dienende Stellung auf dem Hofe seines Vaters annähme. Der achte war seiner Sache sicherer, wenn auch nicht ganz gewiß; denn selbst der Tüchtigste war nicht ganz sicher. Er dachte an die Kleider, in denen er eingesegnet werden sollte, und wozu sie verwandt werden würden, wenn er nicht durchkäme. Kam er aber durch, so sollte er zur Stadt und sich Tuchkleider machen lassen, und wenn er wieder heimkam, am Weihnachtsfest zum Neide aller Burschen und zum Staunen aller Dirnen tanzen. Der neunte rechnete anders; er richtete eine Art Kontobuch mit dem lieben Gott ein, worin er auf die eine Seite als Debet schrieb: Er soll mich durchlassen, und auf die andre als Kredit: Dann will ich nie wieder lügen, nie wieder klatschen, regelmäßig zur Kirche gehn, die Mädchen in Ruhe lassen und mir auch das Fluchen abgewöhnen. Der zehnte aber dachte, wenn Ole Hansen im vergangnen Jahre durchgekommen sei, so wäre es mehr als Ungerechtigkeit, wenn er selbst dies Jahr nicht durchkäme, er, der doch immer zu den Bessern in der Schule gehört hatte und außerdem aus besserer Familie war. Neben ihm saß der elfte, der sich mit den schrecklichsten Racheplänen trug, falls er nicht durchkäme; entweder wollte er die Schule in Brand stecken oder aus dem Kirchspiel weglaufen und als vernichtender Richter des Pfarrers und der ganzen Schulkommission wiederkommen, dann aber großmütig Gnade für Recht ergehn lassen. Zuerst wollte er bei dem Nachbarpfarrer in der benachbarten Gemeinde in Dienst treten und dort im nächsten Jahre den ersten Platz erringen und so antworten, daß die ganze Kirche sich wundern sollte. Der zwölfte aber saß ganz allein unter der Uhr, die Hände in den Hosentaschen und sah wehmütig über die Versammlung hin. Niemand hier wußte, welche Bürde er trug, welche Verantwortung auf ihm lastete. Daheim war eine, die es wußte, denn er war verlobt. Eine große, langbeinige Spinne lief über den Fußboden und näherte sich seinem Fuß; er pflegte so ein ekelhaftes Insekt totzutreten, heute aber hob er liebevoll den Fuß auf, daß es in Frieden gehn könne, wohin es wolle. Seine Stimme war sanft wie die eines Kollektensammlers, seine Augen sagten unaufhörlich, daß alle Menschen gut seien, seine Hand machte eine demütige Bewegung aus der Tasche bis zum Haar hinauf, um es glatter zu streichen. Wenn er sich nur gnädig durch dies gefährliche Nadelöhr hindurchwinden könnte, wollte er auf der andern Seite schon wieder wachsen, Tabak rauchen und die Verlobung veröffentlichen. Aber unten auf dem niedrigen Schemel, die gekreuzten Beine unter sich gezogen, saß der unruhige dreizehnte; seine kleinen, blitzenden Augen durchliefen das ganze Zimmer dreimal in der Sekunde, und unter seinem dicken, struppigen Schädel wälzten sich die Gedanken von den zwölfen in bunter Unordnung hin und her, von der gewaltigsten Hoffnung bis zu dem zermalmendsten Zweifel, von den demütigsten Vorsätzen bis zu den die ganze Gemeinde zerstörenden Racheplänen, und währenddes hatte er all das noch übrige Fleisch an seinem rechten Daumen verzehrt, machte sich nun an die Nägel und spuckte große Stücke davon über den Fußboden.

Öyvind saß am Fenster, er war oben gewesen und hatte alle Fragen, die ihm gestellt worden waren, beantwortet; aber der Pfarrer hat nichts gesagt, ebensowenig der Schulmeister. Über ein halbes Jahr lang hatte er daran gedacht, was die beiden wohl sagen würden, wenn sie erführen, wie er gearbeitet hätte, und er fühlte sich nun sehr enttäuscht und zugleich gekränkt. Da saß Marit, die für ungleich geringere Anstrengungen und Kenntnisse sowohl eine Ermunterung wie eine Belohnung erhalten hatte; gerade um in ihren Augen groß dazustehn, hatte er gearbeitet, und jetzt erreichte sie lachend, woran er mit so viel Entsagung gearbeitet hatte. Ihr Lachen und Scherzen brannte ihm in der Seele; die Freiheit, mit der sie sich bewegte, tat ihm weh. Er hatte es sorgfältig vermieden seit jenem Abend, mit ihr zu sprechen; Jahre müssen vergehn, dachte er; aber als er sie so heiter und überlegen dasitzen sah, fühlte er sich durch ihren Anblick zu Boden gedrückt, und alle seine stolzen Vorsätze hingen da wie feuchtes Laub.

Nach und nach versuchte er jedoch, es abzuschütteln. Es kam darauf an, ob er heute Nummer eins wurde, und darauf wartete er. Der Schulmeister pflegte noch einige Zeit nachher bei dem Pfarrer zu bleiben, um die Reihenfolge zu ordnen, und dann herunterzukommen und den jungen Leuten den Ausfall mitzuteilen; es war ja nicht die endgültige Entscheidung, aber es war das, worüber der Pfarrer und er vorläufig übereingekommen waren. Die Unterhaltung im Zimmer wurde immer lebhafter, je mehr die Prüfung hinter sich hatten und glücklich durchgekommen waren. Aber jetzt fingen die Ehrgeizigen an, sich stark von den Fröhlichen abzusondern; diese gingen, sobald sie Gesellschaft gefunden hatten, um den Eltern ihr Glück mitzuteilen, oder sie warteten auf andre, die noch nicht fertig waren. Die ersten wurden dagegen immer stiller, ihre Augen sahen gespannt nach der Tür.

Endlich war die Prüfung zu Ende; die letzten waren heruntergekommen, und der Schulmeister sprach also jetzt mit dem Pfarrer. Öyvind sah Marit an, sie war noch ebenso fröhlich, aber sie blieb doch sitzen, ob um ihrer selber willen oder andrer wegen, wußte er nicht. Wie schön war Marit geworden; blendendweiß und fein war ihre Haut, wie keine andre sie hatte, die er bisher gesehen hatte; sie trug das Näschen etwas hoch, ihren Mund umspielte ein Lächeln. Die Augen waren halb geschlossen, wenn sie nicht gerade jemand ansah; gerade deshalb wirkte ihr Blick, aber, wenn er jemand traf, mit ungeahnter Macht – und als wollte sie zu verstehn geben, daß sie nichts damit meinte, lächelte sie ein wenig dabei. Das Haar war eher dunkel als hell, aber es war lockig und fiel zu beiden Seiten tief hinab, so daß es zusammen mit den halbgeschlossenen Augen ihr etwas Geheimnisvolles verlieh, das man nie ganz zu ergründen vermochte. Man war nie völlig sicher, wen sie eigentlich ansah, wenn sie für sich allein oder unter andern saß; auch nicht woran sie eigentlich dachte, wenn sie sich dann an jemand wandte und sprach, denn sie nahm gleichsam sofort wieder zurück, was sie gab. Hinter diesem allen liegt wohl eigentlich Jon Hatlen verborgen, dachte Öyvind, sah sie aber beständig an.

 

Da kam der Schulmeister. Jeder verließ seinen Platz und stürmte auf ihn ein. „Welche Nummer habe ich bekommen?“ – „Und ich? – Und ich, und ich?“ – „Still! Ihr großen Jungen! Keinen Spektakel hier! – Ruhig Kinder, dann sollt ihr es hören! – Du bist Nummer zwei,“ sagte er zu einem Knaben mit blauen Augen, der ihn flehentlich ansah, und der Knabe tanzte jubelnd aus dem Kreise. „Du bist der dritte!“ – er klopfte einem kleinen, flinken Rotkopf, der hinter ihm stand und ihn an der Jacke zerrte, auf die Schulter. „Du bist Nummer fünf; du bist Nummer acht“ usw. Er erblickte Marit: „Du bist Nummer eins von den Mädchen;“ sie wurde dunkelrot über Gesicht und Hals, versuchte aber zu lächeln. „Du, Nummer zwölf, bist ein Faulpelz gewesen und ein großer Schelm; von dir, Nummer elf, war nichts Besseres zu erwarten, mein Junge; du, Nummer dreizehn, mußt noch tüchtig lernen vor der Katechese, sonst ergeht es dir schlecht!“ —

Öyvind konnte es nicht länger aushalten; Nummer eins war freilich noch nicht genannt, aber er stand doch die ganze Zeit so, daß der Schulmeister ihn sehen konnte. – „Schulmeister!“ – Er hörte nicht. – „Schulmeister!“ – Dreimal mußte er es wiederholen, ehe er gehört wurde. Endlich sah der Schulmeister ihn an: „Nummer neun oder Nummer zehn, ich entsinne mich nicht mehr, welche von beiden,“ sagte er und wandte sich an einen andern. – „Wer ist denn Nummer eins?“ fragte Hans, Öyvinds bester Freund. – „Du bist es nicht, du Krauskopf!“ sagte der Schulmeister und schlug ihn mit einer Papierrolle auf die Hand. – „Wer ist es denn?“ fragten mehrere; „wer ist es, ja, wer ist es?“ – „Das erfährt der, der die Nummer hat,“ erwiderte der Schulmeister streng; er wollte nicht weiter gefragt werden. – „Geht nun hübsch nach Hause, Kinder, dankt euerm Gott und macht euern Eltern Freude! Bedankt euch auch bei euerm alten Schulmeister; ihr hättet schön dagesessen und die Nägel gekaut, wenn er nicht dagewesen wäre!“ – Sie dankten ihm und lachten, sie zogen jubelnd von dannen, denn in diesem Augenblick, wo sie nach Hause zu den Eltern sollten, waren sie alle froh. Nur einer blieb zurück, der seine Bücher nicht gleich finden konnte, und der sich, als er sie gefunden hatte, wieder hinsetzte, als wolle er von neuem anfangen, über sie wegzulesen. Der Schulmeister ging zu ihm heran: „Nun, Öyvind, willst du nicht mit den andern gehn?“ – Er antwortete nicht. – „Weshalb schlägst du deine Bücher auf?“ – „Ich will sehen, was ich heute verkehrt beantwortet habe.“ – „Du hast gar nichts verkehrt beantwortet.“ – Da sah Öyvind ihn an, Tränen traten ihm in die Augen, er sah ihn unverwandt an, während eine nach der andern die Wange hinabrollte, aber er sagte kein Wort. Der Schulmeister setzte sich vor ihn hin: „Bist du jetzt nicht froh, daß du durchgekommen bist?“ – Es zitterte um seinen Mund, aber er antwortete nicht. – „Deine Mutter und dein Vater werden sehr froh sein,“ sagte der Schulmeister und sah ihn an. – Öyvind kämpfte lange, ein Wort herauszubringen, endlich fragte er leise und abgebrochen: „Ist es – weil ich – ein Häuslersohn – bin, daß ich den neunten oder zehnten Platz haben soll?“ – „Gewiß ist es deswegen,“ antwortete der Schulmeister. – „Dann nützt es mir ja nichts, wenn ich arbeite,“ sagte er klanglos und brach zusammen über all seinen Träumen. Plötzlich richtete er den Kopf in die Höhe, hob die rechte Hand auf, schlug mit voller Macht auf den Tisch, warf sich auf sein Gesicht nieder und brach in heftiges Weinen aus.

Der Schulmeister ließ ihn liegen und weinen, sich so recht ausweinen. Es währte lange, aber der Schulmeister wartete, bis das Weinen kindlicher wurde. Da nahm er seinen Kopf mit beiden Händen, hob ihn auf und sah ihm in das verweinte Gesicht: „Meinst du, daß es Gott gewesen ist, der jetzt bei dir war?“ sagte er und zog ihn freundlich an sich. Öyvind schluchzte noch, aber kürzer; die Tränen rannen stiller, aber er wagte nicht, den, der die Frage stellte, anzusehen, noch ihm zu antworten. – „Dies, Öyvind, ist der Lohn für das, was du verschuldet hast. Du hast nicht aus Liebe zu deinem Christentum und zu deinen Eltern gelernt, sondern einzig und allein aus Eitelkeit.“ – Es wurde jedesmal still im Zimmer, wenn der Schulmeister sprach; Öyvind fühlte seinen Blick auf sich ruhen, und unter ihm wurde er weich und demütig. – „Mit einem solchen Zorn im Herzen hättest du nicht vortreten dürfen, um das Bündnis mit deinem Gott zu schließen; hättest du das wohl können, Öyvind?“ – „Nein,“ stammelte er, so gut er es vermochte. – „Und hättest du dagestanden mit eitler Freude darüber, daß du Nummer eins wärest, hättest du da nicht mit Sünde da vorn gestanden?“ – „Ja,“ flüsterte er, und es zuckte um seinen Mund. – „Du hast mich noch lieb, Öyvind?“ – „Ja!“ – Er sah zum erstenmal auf. – „Dann will ich dir auch sagen, daß ich es war, der dich heruntergesetzt hat; denn ich habe dich sehr lieb, Öyvind.“ – Dieser sah ihn an, blinkte ein paarmal mit den Augen, und dann strömten ihm die Tränen von den Wangen herab. – „Du hast doch deswegen nichts gegen mich?“ – „Nein!“ – Er sah voll und klar zu ihm auf, wenn auch die Stimme gequält klang. – „Mein liebes Kind; ich will um dich sein, solange ich lebe.“

Er wartete auf ihn, bis er sich zurechtgemacht und seine Bücher wieder zusammengesucht hatte, dann sagte er, daß er ihn nach Hause begleiten wolle. Sie gingen langsam heimwärts; anfangs war Öyvind noch still und kämpfte mit sich, allmählich aber überwand er sich. Er war so davon überzeugt, daß das Vorgefallne das Beste sei, das ihm jemals hätte widerfahren können, und ehe er zu Hause anlangte, war dieser Glaube so stark geworden, daß er seinem Gott dafür dankte und es dem Schulmeister aussprach. – „Ja, nun wollen wir daran denken, daß du etwas im Leben erreichst,“ sagte der Schulmeister, „und nicht hinter Irrlichtern und Nummern herjagst. Was sagst du zum Seminar?“ – „Ja, ich möchte gern dahin.“ – „Du meinst die Ackerbauschule?“ – „Ja!“ – „Das ist auch gewiß das beste für dich; sie eröffnet andre Aussichten als auf eine Schulmeisterstelle.“ – „Aber wie soll ich nur dahin kommen? Ich habe große Lust, aber weiß keinen Rat.“ – „Sei fleißig und brav, dann wird sich schon Rat finden.“

Öyvind fühlte sich ganz überwältigt von Dankbarkeit. Es flimmerte ihm vor den Augen, sein Atem ging schneller, das Feuer der unendlichen Liebe loderte in ihm, das hervorbricht, wenn man die unerwartete Güte der Menschen empfindet. Die ganze Zukunft stellt man sich einen Augenblick wie eine Wanderung in frischer Bergluft vor; man wird mehr getragen, als man geht.

Als sie daheim anlangten, waren beide Eltern in der Wohnstube und hatten in stiller Erwartung dagesessen, obwohl es Arbeitszeit war und sie viel zu tun hatten. Der Schulmeister kam zuerst herein. Öyvind folgte ihm, beide lächelten. – „Nun?“ sagte der Vater, er legte ein Gesangbuch hin, worin er gerade das ‚Gebet eines Konfirmanden‘ gelesen hatte. Die Mutter stand am Herde; sie wagte nichts zu sagen, sie lachte, aber ihre Hand war unsicher. Sie erwartete offenbar etwas Gutes, wollte sich aber nicht verraten. – „Ich wollte nur gern mitkommen, um euch die freudige Nachricht zu überbringen, daß er alle Fragen beantwortet hat, die ihm gestellt wurden, und daß der Pfarrer, als er gegangen war, sagte, er habe nie einen tüchtigern Konfirmanden gehabt!“ – „Ach nein!“ sagte die Mutter und war ganz bewegt. – „Das ist ja schön,“ sagte der Vater und räusperte sich unsicher.

Nachdem alle eine Weile geschwiegen hatten, fragte die Mutter leise: „Welche Nummer hat er denn bekommen?“ – „Nummer neun oder zehn,“ sagte der Schulmeister ruhig. Die Mutter sah den Vater, dieser erst sie und dann Öyvind an; „ein Häuslersohn kann nicht mehr erwarten,“ sagte er. Öyvind sah ihn wieder an. Nochmals war es ihm, als wolle ihm etwas im Halse aufsteigen, aber er bezwang sich, indem er schnell an allerlei Liebes dachte, eins nach dem andern, solange bis er es hinuntergeschluckt hatte.

„Jetzt ist es wohl am besten, wenn ich gehe,“ sagte der Schulmeister, nickte und wandte sich um. Beide Eltern begleiteten ihn der Gewohnheit gemäß bis auf die steinerne Schwelle; dort nahm der Schulmeister einen Priem und sagte lächelnd: „Er wird doch Nummer eins werden; aber es ist besser, wenn er nichts davon erfährt, bis der Tag kommt.“ – „Nein, nein,“ sagte der Vater und nickte. – „Nein, nein,“ sagte die Mutter und nickte auch. – „Ja, hab du vielen Dank,“ sagte der Vater, und der Schulmeister ging; sie aber standen noch lange da und sahen ihm nach.

7

Der Schulmeister hatte einen scharfen Blick gehabt, als er den Pfarrer bat, zu prüfen, ob Öyvind es auch verdiene, der Erste zu sein. Während der drei Wochen, die bis zur Konfirmation verstrichen, war er jeden Tag bei dem Knaben; eine junge, weiche Seele kann wohl einem Eindruck nachgeben, etwas andres aber ist es, was sie mit Treue festhalten wird. Viele finstre Stunden kamen über den Knaben, ehe er lernte, den Maßstab für seine Zukunft von bessern Dingen als von Ehre und Trotz abzuleiten. Wenn er gerade so recht mitten in der Arbeit saß, verlor er die Lust und gab die Arbeit auf: Wozu, was gewinne ich dabei? – und dann, eine Weile später gedachte er des Schulmeisters, seiner Worte und seiner Güte; aber dieses menschlichen Mittels bedurfte er jedesmal, um wieder emporzusteigen, wenn er von dem Verständnis seiner höhern Pflicht herabgestürzt war.

In den Tagen, wo man sich daheim auf die Konfirmation vorbereitete, traf man auch Anstalten zu seiner Reise auf die Ackerbauschule; denn am Tage darauf sollte diese vor sich gehn. Schneider und Schuster saßen in der Stube, die Mutter buk in der Küche, der Vater arbeitete an einem Koffer. Es wurde viel darüber gesprochen, was er ihnen in den zwei Jahren kosten würde, daß er das erste Weihnachtsfest, vielleicht auch das zweite nicht nach Hause kommen könne, und wie schwer es sein würde, sich so lange getrennt zu wissen. Es wurde auch von der Liebe geredet, die er zu seinen Eltern haben müsse, die um ihres Kindes willen so große Opfer bringen wollten. Öyvind saß da wie jemand, der sich auf eigne Hand hinausgewagt hatte, aber übergesegelt und nun von freundlichen Menschen aufgenommen worden war.

Ein solches Gefühl verleiht Demut, und mit ihr kommt noch vieles andre. Als der große Tag herannahte, durfte er sich vorbereitet nennen und durfte ihm mit zuversichtlicher Hingebung entgegensehen. Jedesmal, wenn Marits Bild mit dabei sein wollte, schob er es vorsichtig beiseite, fühlte aber den Schmerz wohl, wenn er es tat. Er versuchte, sich hierin zu üben, kam aber niemals vorwärts damit, im Gegenteil, der Schmerz nahm zu. Deswegen fühlte er sich müde am letzten Abend, als er nach einer langen Selbstprüfung bat, daß Gott ihn in diesem Punkte nicht prüfen möge.

Der Schulmeister kam, als es Abend wurde. Sie setzten sich alle in die Wohnstube, nachdem sie sich gewaschen und gekämmt hatten, wie das Sitte ist am Abend, ehe man zum Abendmahl oder zur Hochmesse geht. Die Mutter war bewegt, der Vater schweigsam; hinter dem Feste am andern Tage lag der Abschied, und es war ungewiß, wann sie wieder beisammensitzen würden. Der Schulmeister holte das Gesangbuch hervor, sie hielten Andacht und sangen, und hinterher sprach er ein kurzes Gebet, so wie ihm die Worte kamen.

Diese vier Menschen saßen nun bis in die Nacht zusammen, und ihre Gedanken hielten stille Einkehr; endlich schieden sie mit den besten Wünschen für den kommenden Tag und das, was er bringen würde. Öyvind mußte einräumen, als er sich schlafen legte, daß er sich noch nie so glücklich niedergelegt hätte; heute abend gab er dieser Stimmung eine eigne Deutung; er verstand nämlich darunter: nie habe ich mich so ergeben in Gottes Willen und so fröhlich in ihm niedergelegt. – Marits Gesicht wollte alsbald wieder vor ihn treten, und das letzte, dessen er sich bewußt war, war, daß er dalag und sich selber versuchte: nicht ganz glücklich, nicht ganz – und daß er erwiderte: ja, ganz – dann aber wieder: nicht ganz – ja, ganz – nein, nicht ganz.

Als er erwachte, gedachte er sofort des Tages, betete und fühlte sich gestärkt, wie man es des Morgens zu tun pflegt. Seit dem Sommer hatte er allein in der Bodenkammer geschlafen; er stand jetzt auf, zog behutsam seine neuen, schönen Kleider an; denn solche hatte er noch nie zuvor gehabt. Namentlich war da eine runde Tuchjacke, die er wieder und wieder befühlen mußte, ehe er sich daran gewöhnte. Er zog einen kleinen Spiegel heraus, als er den Kragen umgebunden und die Jacke zum viertenmal angezogen hatte. Als er sich nun sein eignes vergnügtes Gesicht, umrahmt von dem ungewöhnlich hellen Haar, aus dem Spiegel entgegenlächeln sah, fiel es ihm ein, daß dies sicher wieder Eitelkeit wäre. Ja, aber gut und reinlich gekleidet müssen die Leute doch da sein, antwortete er sich, indem er das Gesicht vom Spiegel abwandte, als sei es ein Unrecht, hineinzusehen. – Freilich, aber man darf sich in dieser Beziehung nicht so über sich selbst freuen. – Nein, aber der liebe Gott muß doch auch sein Wohlgefallen daran haben, daß jemand gern gut aussehen mag. – Kann wohl sein, aber es gefiele ihm sicher besser, wenn du hübsch wärest, ohne selber so viel Wert darauf zu legen. – Das ist wahr, aber sieh, es kommt wohl davon, daß alles so neu ist. – Ja, aber dann mußt du es auch nach und nach wieder ablegen. – Er ertappte sich dabei, daß er bald über diesen, bald über jenen Gegenstand selbstprüfende Unterhaltung mit sich führte, damit nicht eine Sünde auf diesen Weg fallen und ihn beflecken möge; aber er wußte auch, daß mehr dazu gehörte.

 

Als er hinunterkam, saßen die Eltern völlig angekleidet da und warteten mit dem Frühstück auf ihn. Er ging hin und reichte ihnen die Hand und bedankte sich für die Kleider und erhielt ein: „Vertrag sie in Gesundheit!“ zur Antwort. Sie setzten sich zu Tische, beteten leise und aßen. Die Mutter deckte den Tisch ab und holte die für den Kirchgang bestimmte Proviantbütte herein. Der Vater zog seine Jacke an, die Mutter steckte ihre Tücher fest; sie nahmen ihre Gesangbücher, verschlossen das Haus und gingen bergan. Sobald sie auf den obern Weg hinaufgelangt waren, begegneten sie Kirchgängern, zu Wagen und zu Fuß, dazwischen Konfirmanden, und hin und wieder in einer Schar weißhaarige Großeltern, die dies eine Mal noch mitmußten.

Es war ein Herbsttag ohne Sonnenschein, wie es zu sein pflegt, wenn das Wetter umschlagen will. Wolken ballten sich zusammen und zerteilten sich wieder, zuweilen entstanden aus einem größern Gebilde zwanzig kleinere, die über den Himmel dahinjagten wie mit Botschaft an das Unwetter; aber unten auf der Erde war es noch still, das Laub hing entseelt da und zitterte nicht einmal, die Luft war etwas schwül; die Leute hatten Reisemäntel mitgenommen, hatten sie aber nicht an. Eine ungewöhnlich große Menschenmenge hatte sich um die freistehende Kirche versammelt; aber die Konfirmanden gingen sofort in die Kirche, um aufgestellt zu werden, ehe der Gottesdienst begann. Da kam der Schulmeister in blauem Anzug, Rock und Kniehosen, hohen Stiefeln, mit steifer Halsbinde und aus der hintern Rocktasche guckender Pfeife den Gang entlang, nickte und lachte, klopfte hier einem auf die Schulter, sprach dort ein paar Worte mit einem andern und ermahnte ihn, laut und deutlich zu antworten, und gelangte während alledem an die Opferbüchse, wo Öyvind stand und alle Fragen seines Freundes Hans wegen der Reise beantwortete. „Guten Tag, Öyvind, ein schöner Tag heute!“ Er faßte ihn beim Kragen seiner Jacke, als wollte er mit ihm reden. „Weißt du, ich habe den besten Glauben von dir. Deswegen habe ich mit dem Pfarrer geredet; du sollst deinen Platz behalten; stell dich oben an als Nummer eins und antworte deutlich!“

Öyvind sah ihn erstaunt an, der Schulmeister nickte ihm zu, der Knabe ging einige Schritte, stand still, ging wieder einige Schritte, stand wieder still; ja freilich ist es so, er hat beim Pfarrer ein gutes Wort für mich eingelegt! und schnell ging der Junge weiter. – „Du sollst ja doch Nummer eins sein!“ flüsterte ihm einer zu. – „Ja,“ antwortete Öyvind leise, wußte aber noch nicht recht, ob es auch wirklich wahr sei.

Die Aufstellung war beendet, der Pfarrer kam, es wurde eingeläutet, und die Kirchgänger strömten herein. Da sah Öyvind Marit Heidehöfen gerade vor sich stehn, auch sie sah ihn; beide aber waren so ergriffen von der Heiligkeit des Ortes, daß sie nicht wagten, sich zu begrüßen. Er sah nur, daß sie strahlend schön war und schwarzes Haar hatte, mehr sah er nicht. Öyvind, der seit länger als einem halben Jahre so stolze Pläne darauf gebaut hatte, daß er ihr gerade gegenüberstehn würde, vergaß, als es so gekommen war, den Platz und sie, und daß er jemals an so etwas gedacht hatte.

Als alles vorüber war, kamen Verwandte und Bekannte, um ihre Glückwünsche abzustatten; dann kamen seine Kameraden, um Abschied von ihm zu nehmen, da sie gehört hatten, daß er am nächsten Tage reisen solle; dann kamen viele kleinere Kinder, mit denen er auf den Hügeln Schlitten gefahren war, und denen er in der Schule geholfen hatte, und der Abschied ging nicht ganz ohne Tränen ab. Zuletzt kam der Schulmeister, er reichte ihm und den Eltern schweigend die Hand und machte ihnen ein Zeichen, daß sie gehn sollten, er würde sie begleiten. Die vier waren wieder zusammen, und jetzt sollte es der letzte Abend sein. Unterwegs nahmen noch viele von ihm Abschied und wünschten ihm Glück, miteinander aber sprachen sie nicht, ehe sie daheim in der Stube waren.

Der Schulmeister bemühte sich, sie bei gutem Mut zu erhalten; es fehlte nicht viel, daß sie alle drei ein Grauen befiel vor der zweijährigen Trennung, jetzt, wo es soweit war, da sie bisher noch nicht einen Tag fern voneinander gewesen waren; aber keins wollte es sich merken lassen. Je mehr sich der Tag neigte, um so beklommener wurde Öyvind; er wollte hinausgehn, um sich ein wenig zu beruhigen.

Es war schon halb dunkel, und ein eigentümliches Sausen ging durch die Luft; er blieb auf der steinernen Schwelle stehn und sah zum Himmel empor. Da hörte er vom Rande des Berges seinen Namen rufen, ganz leise; es war keine Täuschung, denn es wiederholte sich zweimal. Er sah auf und gewahrte eine weibliche Gestalt, die zwischen den Bäumen kauerte und herabsah. – „Wer ist da?“ fragte er. – „Ich höre, daß du fortreisen sollst,“ sagte sie leise, „da mußte ich zu dir kommen, um dir Lebewohl zu sagen, da du nicht zu mir kommen willst.“ – „Liebe, bist du es! Ich will zu dir hinaufkommen!“ – „Nein, tu das nicht, ich habe schon so lange gewartet, und da müßte ich noch länger warten; niemand weiß, wo ich bin, ich muß eilen, nach Hause zu kommen.“ – „Es war hübsch von dir, daß du gekommen bist,“ sagte er. – „Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, daß du so abreisen solltest, Öyvind; wir haben einander gekannt, seit wir klein waren.“ – „Ja, das haben wir.“ – „Und nun haben wir ein halbes Jahr lang nicht miteinander gesprochen.“ – „Nein, das taten wir nicht.“ – „Wir gingen damals auch so sonderbar auseinander.“ – „Ja – ich glaube, ich muß doch zu dir hinaufkommen.“ – „Ach nein, tu das nicht! Aber sag mir, du bist mir doch nicht böse?“ – „Liebe, wie kannst du das nur glauben!“ – „So leb denn wohl, Öyvind, und hab Dank für alles, was wir zusammen erlebt haben.“ – „Nein, Marit!“ – „Ja, jetzt muß ich gehn, sie werden mich vermissen.“ – „Marit! Marit!“ – „Nein, ich wage es nicht, länger fortzubleiben, Öyvind. Lebe wohl!“ – „Lebe wohl!“

Wie im Traum ging er den Rest des Abends einher und antwortete wie aus weiter Ferne, wenn man ihn anredete; sie schrieben es der Abreise zu, was ja ganz natürlich war, und auf diese war auch seine ganze Aufmerksamkeit gerichtet in dem Augenblick, als der Schulmeister am Abend Abschied nahm und ihm etwas in die Hand gab, was, wie er hinterher sah, ein Fünftalerschein war. Als er sich dann aber später niederlegte, dachte er nicht mehr an die Abreise, sondern an die Worte, die vom Bergrande herabgekommen und hinaufgegangen waren. Als Kind durfte sie nicht auf die Bergwand hinaufkommen, weil der Großvater fürchtete, daß sie herabfallen könnte. Vielleicht kommt sie doch noch herab!