Sozialpsychologie der Gruppe

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Interpretation der sozialen Wirklichkeit: Normen kreieren und erhalten einen gemeinschaftlich geteilten Bezugs- und Interpretationsrahmen für die Bewertung von Ereignissen und Verhaltensweisen.

Definition der Beziehungen zur sozialen Umwelt: Normen dienen der Gruppe dazu, sich von anderen Gruppen abzugrenzen oder zu unterscheiden. Sie definieren die „Identität“ der Gruppe.

Bei der Untersuchung des Einflusses von Normen auf individuelles Verhalten hat es sich als sinnvoll erwiesen, zwischen zwei Typen von Normen zu unterscheiden: „injunktive Normen“ und „deskriptive Normen“. Der Begriff „injunktive Norm“ bezieht sich auf die Wahrnehmung, welches Verhalten von anderen gebilligt wird und welches nicht („Man soll seinen Abfall nicht einfach herumliegen lassen.“). Normen dieses Typs motivieren Verhalten durch die Antizipation von Belohnungen (oder Bestrafungen) für normatives (oder nicht normatives) Verhalten.

Der Begriff „deskriptive Norm“ bezieht sich auf die Wahrnehmung der Gruppenmitglieder, wie sich die meisten für gewöhnlich in einer Situation verhalten („Im Kino lassen die meisten ihren Abfall liegen.“). Normen dieses Typs motivieren Verhalten dadurch, dass sie darüber informieren, was offenbar angemessen oder sinnvoll ist („Wenn alle es tun, wird es seine Richtigkeit haben.“). Je nach sozialer Situation können diese Normen gegensätzliche Verhaltensweisen stimulieren (Kallgren et al. 2000). An welcher Norm (injunktiv vs. deskriptiv) sich Menschen in einer konkreten sozialen Situation orientieren, hängt von der situativen Salienz der Norm ab. Die Forschung zeigt, dass sich Menschen über den Einfluss von Normen auf ihr eigenes Verhalten nur selten bewusst sind.

Während soziale Normen definieren, wie sich Gruppenmitglieder im Allgemeinen zu verhalten haben, definieren soziale Rollen, wie Menschen sich verhalten sollen, die eine bestimmte Position innerhalb einer Gruppe (oder im weiteren Sinne einer Gesellschaft) innehaben (z. B. Berufsrollen, Geschlechtsrollen, familiäre Rollen). Ebenso wie Gruppennormen erleichtern soziale Rollen das koordinierte Handeln innerhalb von Gruppen, da sie Handlungsroutinen und Skripte für soziale Interaktionen bereitstellen und soziale Interaktionen durch Standardisierung vorhersehbar machen.

1.3.2Phasen der Gruppensozialisation

Moreland und Levine (1982) haben ein Modell vorgestellt, das den Gruppensozialisationsprozess beschreibt und erklärt. Es wird angenommen, dass sich die Beziehung zwischen Individuum und Gruppe über die Zeit hinweg systematisch verändert und dass sowohl Individuum als auch Gruppe als Agenten zu dieser Veränderung beitragen. Das Modell ist für die Analyse von Prozessen innerhalb von Gruppen konzipiert worden, die über einen längeren Zeitraum hinweg bestehen, deren Mitglieder wechselseitig voneinander abhängig sind und direkt miteinander interagieren (z. B. Arbeits- oder Projektgruppen innerhalb von Organisationen oder Sportmannschaften). In dem Modell werden fünf Phasen der Gruppenmitgliedschaft unterschieden:

Erkundung: In dieser Phase suchen sich Gruppen Individuen, die einen Beitrag zur Erreichung der Gruppenziele leisten können. Individuen (als potenzielle zukünftige Gruppenmitglieder) suchen wiederum nach Gruppen, die ihre Bedürfnisse befriedigen können. Legen sich beide Parteien darauf fest, eine Beziehung einzugehen, kommt es zum Eintritt in eine Gruppe (der „Initiation“). Dieser Eintritt ist häufig durch einen Ritus, eine Zeremonie oder eine formalen Geste gekennzeichnet, die signalisiert, dass sich die Beziehung zwischen Individuum und Gruppe verändert hat; er markiert den Übergang zur Sozialisationsphase.

Sozialisation: Gruppe und Individuum versuchen einander in wechselseitigen sozialen Einflussprozessen so zu verändern, dass ihre Beziehung für beide Seiten gewinnbringend ist. Die Einflussprozesse der Gruppe zielen darauf ab, den Beitrag des Individuums zum Erreichen der Gruppenziele zu fördern, indem ihm z. B. die Gruppennormen und -regeln sowie seine Position und Rolle in der Gruppe vermittelt werden („Assimilationsprozess“). Der Einfluss des Individuums ist hingegen darauf gerichtet, die Gruppe so zu verändern, dass sie seine Bedürfnisse optimal befriedigt. Neue Mitglieder können z. B. versuchen, bestehende Normen und Regeln gemäß ihren persönlichen Zielen zu verändern („Akkommodationsprozess“). Wenn sich beide Seiten infolge der Sozialisationserfahrungen weiterhin auf die Beziehung festlegen, kommt es zur wechselseitigen Akzeptanz und das Individuum wird zum Vollmitglied.

Aufrechterhaltung: Nach der Akzeptanz beginnt die Phase der Aufrechterhaltung der Gruppenzugehörigkeit. Gruppe und Individuum verhandeln über Veränderungen der Position des Individuums innerhalb der Gruppe oder die Übernahme neuer Rollen (z. B. Führungsrollen), die sowohl dem Erreichen der Gruppenziele als auch den Bedürfnissen des Individuums dienen. Die gruppale bzw. individuelle Festlegung („Commitment“) sollte umso höher sein, je erfolgreicher und gewinnbringender dieser Aushandlungsprozess ist.

Resozialisierung: Wenn ein Mitglied es nicht schafft, die Erwartungen der Gruppe zu erfüllen, kann die Festlegung der Gruppe auf das Mitglied nachlassen. Umgekehrt kann das Interesse eines Mitglieds an der Gruppe nachlassen, weil es mit seiner Rolle innerhalb der Gruppe unzufrieden ist oder weil es andere, für die Bedürfnisbefriedigung attraktiver erscheinende Gruppen gibt. Beide Prozesse können dazu führen, dass das Mitglied seine Rolle in der Gruppe verliert und von einem Vollmitglied zu einem randständigen Mitglied wird. Wenn Randständigkeit innerhalb der Gruppe als Abweichung von zentralen Gruppennormen oder Werten interpretiert wird, können „Abweichler“ erheblichem Druck ausgesetzt sein, sich wieder der Gruppe anzupassen („Resozialisierung“) oder aber die Gruppe zu verlassen.

Menschen reagieren auf den Ausschluss aus Gruppen in der Regel äußerst sensibel (Williams 2007). Wie neuropsychologische Untersuchungen zeigen, sind in Situationen, in denen sich Menschen sozial ausgeschlossen fühlen, offenbar dieselben Hirnareale aktiviert wie bei der Empfindung körperlichen Schmerzes (Eisenberger et al. 2003). Wenn die Zugehörigkeit zur Gruppe einen hohen Stellenwert für das Individuum hat, kann die Angst davor, ausgeschlossen zu werden, dazu führen, dass es sich den Normen anpasst, auch wenn es diese eigentlich nicht akzeptiert (➔ Kap. 2, Abschnitt 2.1). Andernfalls kommt es infolge der nachlassenden Festlegung zum Austritt aus der Gruppe.

Erinnerung: Nach dem Austritt aus der Gruppe bewerten das Exmitglied und die Gruppe rückblickend ihre Beziehung. Beide halten in gewissem Rahmen an der Beziehung fest, falls sie die Beziehung als positiv und gewinnbringend beurteilen.

2Sozialer Einfluss in Gruppen

Unter „sozialem Einfluss“ versteht man in der Sozialpsychologie den Prozess der Veränderung individueller Einstellungen, Werte, Verhaltensweisen etc. aufgrund der Konfrontation mit relevanten Informationen durch andere Personen. In den ersten Abschnitten dieses Kapitels widmen wir uns der Frage, welche Rolle es für die Wirksamkeit von Einflussprozessen spielt, ob die Informationen durch eine numerische Majorität oder eine numerische Minorität präsentiert werden. In einem weiteren Abschnitt gehen wir der Frage nach, welche Rolle der intragruppale Status der Einflussquelle spielt.

2.1Majoritätseinfluss

Die ersten sozialpsychologischen Studien zu sozialem Einfluss untersuchten, warum Menschen sich durch Majoritäten beeinflussen lassen.

Konformität: Unter Konformität wird die Veränderung individueller Verhaltensweisen, Überzeugungen, Einstellungen etc. infolge sozialer Beeinflussung durch eine numerische Majorität (Mehrheit) der Gruppenmitglieder verstanden. Die individuellen Positionen werden infolge dieses Einflusses an die Majoritätsposition angepasst.

Seit der einflussreichen Analyse von Deutsch und Gerard (1955) wird Majoritätseinfluss auf zwei unterschiedliche Prozesse zurückgeführt: auf den informationalen und den normativen Einfluss.

2.1.1Informationaler Einfluss

Informationaler Einfluss beruht auf dem Bedürfnis, ein möglichst akkurates Bild der sozialen Realität zu erhalten. In Situationen, in denen sich Menschen selbst unsicher bezüglich der Einschätzung eines Sachverhaltes sind, orientieren sie sich daran, wie die meisten anderen Personen (d. h. die Majorität) den Sachverhalt einschätzen bzw. sich demgegenüber verhalten.

Informationaler Einfluss: Sozialer Einfluss, der darauf beruht, dass man die durch eine Majorität erhaltenen Informationen als angemessene Interpretationen der Realität akzeptiert.

Ein wichtiger Grundstein für das Verständnis informationalen Einflusses wurde durch Experimente von Sherif (1936) zur Formierung sozialer Normen gelegt. Für seine Untersuchung machte sich Sherif eine optische Täuschung zunutze – den sogenannten „autokinetischen Effekt“. Bei diesem Effekt scheint sich ein stationärer Lichtpunkt aufgrund der natürlichen ruckartigen Augenbewegung zu bewegen, wenn er in einem dunklen Raum unter Abwesenheit objektiver Referenzpunkte fixiert wird.

 

In Sherifs Untersuchung sollten die Untersuchungspersonen, die das autokinetische Phänomen nicht kannten, in einer Serie von Durchgängen mündlich angeben, wie weit sich der jeweils präsentierte Lichtpunkt ihrer Einschätzung nach bewegte. Gaben sie ihre Urteile alleine ab, entwickelte sich im Verlauf der Durchgänge eine persönliche Norm (d. h., die Einschätzungen variierten immer dichter um einen bestimmten Schätzwert, der von Person zu Person unterschiedlich war). Schon nach wenigen Durchgängen in einer Gruppe konvergierten die Einschätzungen allerdings auf eine gemeinsame mittlere Position (die Gruppennorm), an der sich die Untersuchungspersonen auch dann noch orientierten, wenn sie später wieder alleine urteilten. Letzterer Befund ist besonders relevant, da er nahelegt, dass die Personen ihre ursprüngliche (persönliche) Norm aufgegeben hatten, weil sie davon überzeugt waren, die Schätzung der Gruppe sei korrekter als ihre individuelle Schätzung.

2.1.2Normativer Einfluss

Im Unterschied zu informationalem Einfluss beruht normativer Einfluss auf dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit und sozialer Anerkennung.

Normativer Einfluss: Sozialer Einfluss, der darauf beruht, dass man die Erwartungen der Majorität erfüllen und negative Sanktionen bei normabweichendem Verhalten vermeiden möchte.

In einer Serie paradigmatischer Experimente zeigte Asch (1956), dass Menschen sich auch dann der Position einer Majorität anpassen, wenn diese einen Sachverhalt ganz offensichtlich falsch beurteilt. Im Standardexperiment dieser Serie sollten die Untersuchungspersonen in einer Folge von 18 Durchgängen jeweils entscheiden, welche von drei Vergleichslinien die gleiche Länge wie eine Referenzlinie aufwies (Abb. 2.1). Diese Aufgabe war so einfach, dass in einer Kontrollbedingung, in der die Untersuchungspersonen allein anwesend waren, 95% der Untersuchungspersonen keinen einzigen Fehler machten. Anders verhielt es sich hingegen in der Experimentalgruppe, in der die Untersuchungspersonen ihr Urteil abgaben, nachdem zuvor mehrere andere Personen (tatsächlich Assistenten der Versuchsleitung) einstimmig und öffentlich ein falsches Urteil abgegeben hatten. Unter dieser Bedingung waren fast 37% der von den Untersuchungspersonen insgesamt abgegebenen Urteile falsch und entsprachen dem Urteil der Majorität.


Abb. 2.1 Illustration des Stimulusmaterials, das in den Konformitätsstudien von Asch verwendet wurde (nach Asch 1956)

Es ist wichtig zu beachten, dass nicht jede Untersuchungsperson gleich viele Fehleinschätzungen abgab – tatsächlich zeigte sich eine deutliche interindividuelle Varianz. Nichtsdestotrotz bleibt bemerkenswert, dass über eine Serie von drei Experimenten hinweg nur 24% der Untersuchungspersonen der Experimentalgruppe sich in keinem der Durchgänge vom Majoritätsurteil beeinflussen ließ und immer die korrekte Antwort gab.

Wenn Menschen sich in öffentlichen Situationen normenkonform verhalten, ohne dass sie die entsprechende Norm privat akzeptieren, wird dies als „compliance“ bezeichnet. Bei Untersuchungen mit dem „Asch-Paradigma“ ist der Effekt des normativen Einflusses bereits zu beobachten, wenn eine Person mit zwei Personen konfrontiert ist, die einstimmig eine andere Meinung vertreten. Zusätzliche Personen führen zu vergleichsweise geringeren Effektsteigerungen. Es bedarf also nicht unbedingt einer zahlenmäßig extrem überlegenen Majorität, um Konformität auf der Basis von normativem Einfluss zu erzeugen.

Welche situativen Bedingungen begünstigen (oder unterminieren) Konformität aufgrund normativen Einflusses? Begünstigend wirkt sich insbesondere die öffentliche Identifizierbarkeit der eigenen Position aus. Tatsächlich reduzierte sich die Konformität der Untersuchungspersonen in Untersuchungen mit dem Asch-Paradigma drastisch, wenn die Untersuchungsperson ihr Urteil nicht durch ein öffentlich sichtbares Handzeichen, sondern schriftlich (geheim) abgeben konnte. Konformes Verhalten wird auch dann weniger wahrscheinlich, wenn die Einstimmigkeit der Majorität durch „Abweichlerinnen“ oder „Abweichler“ untergraben wird. In einer Variation des Asch-Paradigmas gab ein Assistent des Versuchleiters unmittelbar vor der Untersuchungsperson ein korrektes Urteil ab. Das Ausmaß der Tendenz zur Konformität verringerte sich dadurch drastisch – auf 5,5%.

Um herauszufinden, ob die Abnahme der Konformität durch das Aufbrechen der Einstimmigkeit der Majoritätsmeinung bedingt war oder dadurch, dass die Untersuchungsperson soziale Unterstützung für ihre eigene Meinung vermutete, kreierte Asch eine weitere Bedingung. Der Assistent gab nun ebenfalls ein von der Majorität abweichendes Urteil ab, dieses war jedoch ebenfalls falsch. Die Ergebnisse zeigten, dass diese Abweichung im Hinblick auf die Reduktion von Konformität ebenso wirksam war wie ein korrektes Urteil. Dieser Befund unterstreicht, wie wichtig „Abweichler“ oder „Abweichlerinnen“ als Rollenmodelle für Widerstand gegen Konformitätsdruck sind – eine Schlussfolgerung, die durch eine Reihe ähnlicher Untersuchungen untermauert wird (Allen 1975).

2.2Minoritätseinfluss und Majoritäts-Minoritätsunterschiede

Die bisherige Darstellung mag den Eindruck erwecken, dass sozialer Einfluss unidirektional verläuft – die Majorität übt Einfluss auf eine Minorität aus. Allerdings existieren zahlreiche historische Beispiele dafür, dass Erneuerung und Fortschritt in Wissenschaft, Kunst oder Politik dadurch ausgelöst wurden, dass Majoritäten Positionen übernommen haben, die ursprünglich nur von Einzelpersonen oder Minoritäten innerhalb der Gruppe (oder Gesellschaft) vertreten wurden – man denke an Galileo, Freud oder Marx oder an die Einflüsse sozialer Bewegungen wie der Anti-Atomkraftbewegung oder der Umweltbewegung.

2.2.1Minoritätseinfluss

Diese Beobachtungen führten den Sozialpsychologen Moscovici zur Entwicklung seiner einflussreichen „Theorie des Minoritätseinflusses“ (Moscovici 1976). Dieser Theorie zufolge ist der Minoritätseinfluss eine entscheidende Triebkraft für Innovation und sozialen Wandel innerhalb von Gruppen und Gesellschaften (Majoritäten sorgen hingegen eher für Stabilität und Traditionalismus). Die Wirksamkeit von Minoritätseinfluss hängt der Theorie von Moscovici zufolge entscheidend vom Verhaltensstil der Minorität ab: Eine Minorität wird insbesondere dann erfolgreich (informationalen) sozialen Einfluss ausüben, wenn sie ihren abweichenden Standpunkt konsistent vertritt, d. h., wenn sie ihre Position einstimmig und über die Zeit hinweg aufrechterhält.

Um ihre Hypothesen zum Minoritätseinfluss zu testen, verwendeten Moscovici, Lage und Naffrechoux (1969) ein „Spiegelbild“ des Paradigmas von Asch. In Sechsergruppen (vier tatsächliche Untersuchungspersonen und zwei als Untersuchungspersonen „getarnte“ Assistenten der Versuchsleitung) sollte die Farbe einer Serie von Dias beurteilt werden (alle Dias waren blau, variierten aber hinsichtlich der Helligkeit). Wenn die beiden Assistenten der Versuchsleitung in allen Durchgängen darauf bestanden, dass die Dias grün waren, schloss sich tatsächlich ein kleiner aber statistisch bedeutsamer Teil der Untersuchungspersonen in mindestens einem Durchgang dieser Einschätzung an. Wenn sie sich allerdings inkonsistent verhielten, war kein Einfluss auf die Einschätzungen der Mehrheit nachzuweisen. Diese Befunde sind repräsentativ für weitere Forschungsergebnisse, die den Einfluss konsistent auftretender Minoritäten auf die Majorität belegen.

Im Rahmen seiner „Konversionstheorie“ postuliert Moscovici (1980), dass Minoritätseinfluss und Majoritätseinfluss auf unterschiedlichen psychologischen Prozessen beruhen – ersterer auf Validierungsprozessen (d. h. auf systematischer Verarbeitung der Minoritätsargumente aufgrund eines kognitiven Konfliktes zwischen eigener und Minoritätsmeinung) und letzterer auf Vergleichsprozessen (d. h. auf relativ oberflächlicher Verarbeitung, die durch das Bedürfnis geprägt ist, die durch einen Meinungskonflikt entstehende Bedrohung der eigenen Zugehörigkeit zur Majorität durch Anpassung aufzulösen). Seiner Auffassung nach sollte Minoritätseinfluss daher eher zu privater Akzeptanz (Konversion), Majoritätseinfluss hingegen eher zu „compliance“ führen. Die empirische Befundlage ist diesbezüglich allerdings nicht einheitlich. Einerseits gibt es Belege dafür, dass sowohl Einflussversuche von Minoritäten als auch von Mehrheiten innerhalb von Gruppen systematische Verarbeitungsprozesse bewirken können. Andererseits gibt es auch Belege dafür, dass Einstellungen, die durch Minoritätseinfluss zustande gekommen sind, resistenter gegen Veränderung sind – was im Einklang mit den ursprünglichen Überlegungen von Moscovici steht (z. B. Martin et al. 2007).

2.2.2Die Rolle von Gruppenidentifikation

Verschiedene Forscherinnen und Forscher haben darauf hingewiesen, dass die Eigen- und Fremdgruppenbeziehung zwischen der Quelle des sozialen Einflussversuches und der eigenen Person von zentraler Bedeutung für die Effektivität von sozialem Einfluss ist (z. B. Mugny et al. 1995). David und Turner (2001) gehen in ihrer Analyse sozialer Einflussprozesse auf der Basis der „Selbstkategorisierungstheorie“ davon aus, dass nur diejenigen Personen sozialen Einfluss ausüben können, die auf für den Einfluss relevanten Dimensionen als ähnlich zum eigenen Selbst wahrgenommen werden. Es sollte daher dann zu sozialem Einfluss kommen, wenn

die Einflussquelle(n) als Mitglied(er) der Eigengruppe wahrgenommen wird/werden (Einflussversuche von Fremdgruppenmitgliedern sollten hingegen zurückgewiesen werden) und

die Position der Quelle(n) relativ prototypisch für die Eigengruppe ist (d. h., sie ist typisch für die Eigengruppe, aber wenig typisch für die Fremdgruppe).

Aus diesen Annahmen folgt auch, dass Minoritäten nur dann Einfluss ausüben können, wenn sie von der Person als Teil der Eigengruppe definiert werden. Dem Minoritätseinfluss muss daher eine Form der Rekategorisierung vorausgehen, durch welche die Minorität nicht länger als Fremdgruppe, sondern als Teil einer Eigengruppe wahrgenommen wird (z. B. als Teil einer gemeinsamen Wertegemeinschaft). Empirische Belege sprechen dafür, dass sich Menschen im Einklang mit der Selbstkategorisierungstheorie typischerweise eher von (prototypischen) Mitgliedern ihrer eigenen Gruppe beeinflussen lassen. Dennoch kann unter bestimmten Bedingungen auch Einfluss von Fremdgruppenmitgliedern ausgeübt werden (z. B. dann, wenn die von der Minorität vertretene Position besonders stark mit Eigengruppennormen konfligiert) (zum Überblick: Pérez/Mugny 1998).

2.3Sozialer Einfluss durch Autoritäten

Bislang haben wir uns damit befasst, weshalb sich Personen durch Gruppenmitglieder beeinflussen lassen, die den gleichen Status haben wie sie selbst. Ein anderer Fall liegt vor, wenn Einfluss von einer Autorität innerhalb der Gruppe ausgeübt wird. Im Folgenden werden wir uns zuerst mit dem Phänomen des Gehorsams gegenüber Autoritäten beschäftigen. Anschließend präsentieren wir Forschungsarbeiten, die sich mit der wahrgenommenen Behandlung durch Autoritäten als zentraler Determinante der Bereitschaft befassen, sich gruppenkonform zu verhalten.

2.3.1Gehorsam gegenüber Autoritäten

Eine Vielzahl von Studien belegt, dass ein hoher formeller oder informeller Status die Möglichkeiten deutlich erhöht, Meinungen und Verhaltensweisen anderer Personen zu beeinflussen. Zu den vielleicht eindrücklichsten Forschungsarbeiten in diesem Kontext gehören die Arbeiten von Milgram (1974).

 

In einer als Lernexperiment getarnten Untersuchung wurde psychisch unauffälligen erwachsenen Untersuchungspersonen unterschiedlicher sozialer Herkunft die Rolle eines „Lehrers“ zugeteilt, dessen Aufgabe es war, falsche Antworten eines „Schülers“ durch die Applikation von Elektroschocks zu bestrafen (angeblich um herauszufinden, wie sich Bestrafung auf Lernen auswirkt). Bei dem Schüler handelte es sich vermeintlich um eine andere Untersuchungsperson, tatsächlich war der Schüler aber ein Assistent des Versuchsleiters. Der Schüler wurde im angrenzenden Raum an einen Stuhl geschnallt und an seinem Arm wurden Elektroden befestigt. Der Versuchsleiter wies die Person in der Lehrerrolle an, beim ersten Fehler des Schülers über einen Schockgenerator einen Schock von 15 Volt zu applizieren und die Dosis mit jedem weiteren Fehler um 15 Volt bis zu 450 Volt zu erhöhen.

Der Schüler gab bei den ersten Durchgängen zunächst die richtigen Antworten, machte dann jedoch wiederholt Fehler. In einer Serie von Experimenten beobachtete Milgram, dass ein hoher Prozentsatz der Untersuchungspersonen dem Schüler als Bestrafung für falsche Antworten intensive elektrische Schocks verabreichte – und dies, obwohl diese Untersuchungspersonen glaubten, die Schocks wären sehr schmerzhaft und sogar lebensbedrohlich für die andere Person. Beginnend mit der Applikation von 75 Volt konnten die Untersuchungspersonen hören, wie der Schüler schmerzhafte Schreie ausstieß, ab einer Dosis von 150 Volt bat der Schüler den Versuchsleiter darum, das Experiment abzubrechen. Nichtsdestotrotz folgte ein Großteil der Untersuchungspersonen den Aufforderungen des Versuchsleiters, das Experiment fortzusetzen. Über 60% waren sogar bereit, die Maximaldosis von 450 Volt zu applizieren.

Als Milgram seine Experimente durchführte, herrschte in der Wissenschaft (und der weiteren Gesellschaft) die Auffassung vor, nur Personen, die einen besonders obrigkeitshörigen Charakter hätten, wären zu destruktivem Gehorsam bereit (➔ Abschnitt zur autoritären Persönlichkeit in Kapitel 4). Milgrams Experimente legen hingegen nahe, dass auch der „Durchschnittsmensch“ dazu gebracht werden kann, einer Autorität Folge zu leisten, selbst wenn das geforderte Verhalten gegen eigene Werte und Überzeugungen verstößt. Wie lässt sich dies erklären?

Normativer Einfluss: In den Experimenten von Milgram machte es der normative Druck den Untersuchungspersonen schwer, die Vergabe von Schocks für fehlerhafte Antworten des Schülers zu verweigern. Der Versuchsleiter war bemüht, die Untersuchungspersonen gezielt durch autoritäres Auftreten und strenge Instruktionen dazu zu bringen, Gehorsam zu leisten. Diese Instruktionen waren streng standardisiert. Falls eine Untersuchungsperson keine Schocks verabreichen wollte, folgte eine erste Instruktion („Bitte machen Sie weiter!“); war diese nicht erfolgreich, folgte eine zweite („Das Experiment verlangt es, dass sie weitermachen!“), danach eine dritte („Es ist absolut essenziell, dass sie weitermachen!“) und schließlich eine vierte Instruktion („Sie haben keine andere Wahl, Sie müssen weitermachen.“). Wenn eine Autoritätsperson so darauf besteht, dass man gehorcht, ist es für viele Menschen schwierig, sich zu widersetzen.

Informationaler Einfluss: Der Versuchsleiter war zwar autoritär und fordernd, nichtsdestotrotz wurden die Untersuchungspersonen in keiner Weise bedroht, und es war ihnen freigestellt, aufzustehen und zu gehen. Warum taten viele von ihnen dies also nicht? Hier kommt die Macht informationalen Einflusses ins Spiel. Wie wir bereits erläutert haben, ist informationaler Einfluss insbesondere in mehrdeutigen, unklaren oder neuen Situationen wirksam, für welche die Menschen keine Verhaltensroutinen haben. In diesen Situationen orientieren sich Menschen an anderen Personen. Eine solche Situation stellte auch die Untersuchungssituation dar: Der Schüler schrie zwar vor Schmerz, der Versuchsleiter erklärte aber, dass die Schocks keinen dauerhaften Schaden anrichten würden, auch wenn sie schmerzhaft seien. Die Untersuchungspersonen befanden sich in einer Dilemmasituation – einerseits wollten sie niemanden verletzen, andererseits hatten sie eingewilligt, an einer wissenschaftlichen Untersuchung teilzunehmen. Diese Dilemmasituation begünstigte, dass sich die Untersuchungspersonen am Versuchsleiter (einem Experten) orientierten, um eine Entscheidung zu treffen, und sich auf seine Einschätzungen verließen.

Die Annahme, dass informationaler Einfluss eine wichtige Rolle spielte, wird insbesondere durch folgende Variation des Paradigmas unterstützt: In einer Bedingung gaben zwei Versuchsleiter der Untersuchungsperson die Instruktionen. Als der Schüler das erste Mal aufschrie, fingen sie an, darüber zu diskutieren, ob sie das Experiment fortsetzen sollten. In dieser Situation hörten 100% der Untersuchungspersonen auf, den nachfolgenden Instruktionen Folge zu leisten. Wichtig ist auch hier: Nicht die Schreie des Schülers haben die Untersuchungsperson dazu gebracht, nicht mehr zu gehorchen. Vielmehr wurde der Expertenstatus der Versuchsleiter durch ihre Uneinigkeit infrage gestellt – sie dienten also nicht mehr als vertrauenswürdige Quellen im Hinblick auf die Einschätzung, was das angemessene Verhalten in der Situation war.

Selbstrechtfertigung: Schließlich ist ein weiterer psychologisch relevanter Aspekt des Experimentes erwähnenswert. Der Versuchsleiter wies die Untersuchungspersonen an, die Schocks graduell zu erhöhen. Die Untersuchungspersonen standen jeweils der Entscheidung gegenüber, die Dosis um weitere 15 Volt zu erhöhen. Da sie dieser Dosis schon zu Beginn der Untersuchung zugestimmt hatten, wurde es mit jeder nachfolgenden Entscheidung für sie schwieriger zu entscheiden, an welchem Punkt sie nicht weitermachen würden – es waren ja immer nur 15 Volt Erhöhung. Anders hätte es sich verhalten, wenn die Untersuchungsperson einmal eingewilligt hätte, einen Schock von 15 Volt zu applizieren und anschließend aufgefordert worden wäre, die Dosis um 200 Volt zu erhöhen – dies wäre eine neue Entscheidungssituation gewesen.

Durch experimentelle Variationen seines Paradigmas erbrachte Milgram auch aufschlussreiche Hinweise darauf, in welchen Situationen die Bereitschaft zu Gehorsam abnimmt. Dies war u. a. der Fall, wenn

die Distanz zum „Opfer“ verringert wurde,

die Legitimität der Autoritätsperson infrage stand oder

andere Teilnehmer (Assistenten des Versuchsleiters) sich weigerten, zu gehorchen (dieser Befund unterstreicht erneut die Bedeutung von „Abweichlern“ als Rollenmodelle für Widerstand).

Das experimentelle Vorgehen Milgrams löste heftige Kontroversen über die ethischen Grenzen psychologischer Forschung aus. Milgram brachte seine Untersuchungspersonen in eine psychisch hochgradig belastende Situation. Viele der Untersuchungspersonen, die der Autorität Folge geleistet hatten, litten im Nachhinein unter Schuldgefühlen. Ein Ergebnis dieser Kontroverse sind die heute geltenden Ethikrichtlinien für psychologische Forschung, nach denen Experimente wie jene zu Gehorsamsverhalten von Milgram nicht zulässig sind.

Burger (2009) hat eine Teilreplikation der Milgram-Experimente durchgeführt, die den heute geltenden ethischen Standards Rechnung trägt, da sie nur bis zu dem Punkt der Originalstudie durchgeführt wurde, an dem die Teilnehmer die ersten Proteste des „Schülers“ hörten (150 Volt). Da 79% der Teilnehmenden in der Originalstudie, die über diesen Punkt hinausgingen, im Verlauf des Experiments bis zur maximalen Schockapplikation gingen, eröffnet sich die Möglichkeit, den Prozentsatz der Teilnehmenden zu schätzen, die auch in der Replikation bis zu diesem Punkt gegangen wären. Die Rate für Gehorsamkeit im Experiment aus dem Jahr 2009 lag nur geringfügig unter der von Milgram 45 Jahre zuvor berichteten Rate. Im Unterschied zu den Originalexperimenten hatte die Weigerung eines anderen Teilnehmers (Assistenten des Versuchsleiters) keinen Effekt auf die Gehorsamkeitsrate.

In jüngerer Zeit sind neue theoretische Interpretationsansätze für die Befunde der Milgram-Experimente angeboten worden. So argumentieren Reicher und Haslam (2011) auf der Grundlage des sozialen Identitätsansatzes, dass die psychologische Voraussetzung für den beobachteten Gehorsam die Wahrnehmung einer gemeinsamen sozialen Identität ist: Die Teilnehmenden sehen sich und den Versuchsleiter als Teil einer Gruppe, die eingebettet ist in den normativen Kontext der Wissenschaft und etwas zum wissenschaftlichen Fortschritt beitragen kann. Dies wiederum ist Voraussetzung dafür, dass sie den Anweisungen des Versuchsleiters folgen. Die Autoren argumentieren daher, dass es sich bei den beobachteten Phänomenen weniger um Gehorsam handelt, sondern vielmehr um Gefolgschaft im Kontext einer Eigengruppensituation und das Bemühen, dem kollektiven Interesse (wissenschaftlicher Fortschritt) nachzukommen. Ob diese Interpretation zutrifft, wird durch weitere Studien zu klären sein.

2.3.2Die Bedeutung der wahrgenommenen Behandlung durch Gruppenautoritäten

Das „Group-Engagement-Modell“ liefert einen weiteren Erklärungsansatz dafür, wie Autoritäten Einstellungen und Verhaltensweisen von Gruppenmitgliedern beeinflussen (zum Überblick: Tyler/Blader 2003). Im Mittelpunkt steht hier allerdings nicht allein die Interaktion zwischen Autorität und individuellem Gruppenmitglied, sondern die Implikationen dieser Interaktion für die Beziehung zwischen Individuum und Gruppe. Das Modell integriert Annahmen der sozialpsychologischen Gerechtigkeitsforschung, insbesondere der Forschung zur prozeduralen Gerechtigkeit mit dem sozialen Identitätsansatz.

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