Stimmen des Yukon

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»SKY HIGH« – DIE RANCH

»Hallo! Wartest du auf jemanden von der ›Sky High‹?«

Lächelnd kam Julie eine schlanke Frau mit lockigen blonden Haaren entgegen. Das schulterlange Haar verlieh ihr etwas Engelhaftes.

»Ja, das bin ich. Ich bin Julie«, antwortete sie ihr freudig.

Die beiden schüttelten sich herzlich die Hände.

»Ich bin Trudy und bringe dich zur Ranch. Wir haben ja bereits miteinander telefoniert. Es freut mich, dich endlich persönlich kennenzulernen!«

Trudy war bei den vorangegangenen Organisationen Julies Ansprechpartnerin gewesen. Sie ermöglichte, nach Rücksprache mit den anderen Teilhabern der Ranch, sozusagen ihren etwas aus der Reihe fallenden Aufenthalt.

Julie war sehr erleichtert, dass sie sich auf Anhieb zu verstehen schienen. »Freut mich auch, dich nun endlich persönlich kennenzulernen!«

Nach der Begrüßung glitt Trudys Blick hinüber zu dem Rucksack, der etwas entfernt von Julie stand. »Ist das dein ganzes Gepäck, das du dabei hast?«, fragte sie etwas erstaunt, als sie Julie wieder ansah.

»Ja, das ist alles. Ich weiß, ich werde mir noch das eine oder andere zulegen müssen zu gegebener Zeit, aber vorerst sollte es genügen.«

»Wow, nicht schlecht! Na dann schnapp mal dein Gepäck und los geht’s.« Trudy ging los, um Julie die Türe aufzuhalten.

Julie folgte ihr zum Wagen und legte ihr Gepäck in den Kofferraum. Anschließend setzte sie sich neben Trudy in den Van.

»Okay«, sagte Trudy, während sie den Wagen startete und zu Julie hinübersah. »Du wirst ja erst mal für ungefähr eine Woche auf der Ranch bleiben, bevor dich die Hütte ruft, richtig?«

»Jep, das ist richtig«, antwortete Julie und strahlte dabei über das ganze Gesicht.

»Wenn du also im Moment keine Besorgungen erledigen möchtest, können wir ja direkt zur Ranch fahren. Die Lebensmittel, die du anschließend brauchst, wenn du alleine in der Hütte wohnst, gehen wir dann nächste Woche einkaufen.«

»Ja, wegen mir können wir sehr gerne gleich zur Ranch fahren. Ich bin schon so gespannt!«, sprudelte es förmlich aus Julie heraus.

Trudy setzte lächelnd den Wagen in Gang. Dem Highway folgend verließen sie Whitehorse in westlicher Richtung.

Bereits nach wenigen Minuten bog Trudy außerhalb der Stadt nach links ab und sie gelangten auf einen breiten Schotterweg, der beidseits des Wegrandes mit hohen graugrünen Kiefern und Fichten gesäumt war. Ihre Kronen neigten sich sanft im säuselnden Wind und treibende Nebelschwaden verschleierten ihre Wipfel. Der Weg schlängelte sich weiter durch eine hügelige Wald- und Buschlandschaft. Kleine Täler erlaubten einen Einblick in die Weiten der Landschaft. Obwohl ein nebelig verhangener Wolkenteppich die Sicht behinderte, beeindruckte die Schönheit der Landschaft Julie tief.

Plötzlich kreuzte ein Hase mit großen Sprüngen ihren Weg und Trudy musste scharf abbremsen. »Ah, sieh, das erste Wildtier, das du hier oben zu Gesicht bekommst! Das wird aber weiß Gott nicht das einzige Tier bleiben, das dir bei deinem Aufenthalt hier bei uns vor die Augen kommen wird, denke ich.« Sie sah mit einem leichten Lächeln kurz zu Julie hinüber.

»Jep, das hoffe ich!« Julie erwiderte Trudys Lächeln und Aufregung lag in ihrem Blick.

»Allerdings kommen dennoch immer wieder Besucher, die für eine Weile bei uns bleiben, denen es nicht vergönnt ist, die wirklich wilden Tiere unseres Landes zu sehen. Manche, die keine Tiere zu Gesicht bekommen, reisen enttäuscht wieder ab. Für einige unter ihnen ist das Beobachten der Tiere ein Hauptgrund in diese abgeschiedene Gegend zu reisen. Ich sage immer, man sollte nicht so verkrampft darauf hoffen, einen Bären, Elche oder dergleichen zu sehen, sonst wird man eben womöglich enttäuscht.« Erneut wendete Trudy ihre Augen einen Moment von der Straße ab und sah wieder zu Julie hinüber. Ein breites Lächeln begleitete ihre Worte: »Wenn man sie sehen soll, dann sieht man sie auch!«

Julie nahm sich einen Moment Zeit und überdachte Trudys letzte Worte. »Nun, dann bin ich schon sehr gespannt, ob und was für ein Glück ich wohl haben werde.«

»Weißt du …«, fuhr Trudy fort »das Gute daran, wenn man nicht so viele wilde Tiere zu Gesicht bekommt, ist, zu wissen, dass sie eben hierzulande noch die Möglichkeit haben, sich zurückzuziehen, um in ihrem natürlichen Umfeld fernab jeglicher Zivilisation zu leben.«

Julie schaute kurz nachdenklich drein. »Von der Seite habe ich es noch gar nicht betrachtet.« Sie runzelte ihre Stirn und es schien, als sei sie zu einem Entschluss gekommen. »Ich denke, du hast absolut Recht, Trudy. Mit dieser Sichtweise werde ich nicht traurig sein, wie manch anderer Besucher, wenn ich kein Glück haben sollte, wilde Tiere zu sehen.«

Trudy nickte zufrieden. »So ist es!«

Innerlich jedoch sah es in Wahrheit ganz anders bei Julie aus. Sie malte sich doch schon seit Wochen aus, wie es wohl sein wird, dem einen oder anderen Karibu, Wolf oder Elch in Freiheit zu begegnen, ganz abgesehen von ihrem innigsten Wunsch, dem Oberhaupt des kanadischen Nordens, dem Grizzly zu begegnen.

Nachdem ein Moment des Schweigens verstrichen war, unterbrach Trudy die Stille: »Ian, den du schon bald am Abend kennenlernen wirst, ist ein richtiger Buschmann. Keiner kennt sich in der Wildnis hier oben besser aus als er. Das hier ist seit Jahren sein Zuhause und in den Wintermonaten gehört er sogar zu den wenigen Menschen, die immer noch trappen. Er wird dich in der ersten Woche bei uns zu Ausflügen mitnehmen, damit du lernst, dich besser zurechtzufinden. Ich bin mir fast sicher, dass er dich auch an weit abgelegene Orte mitnehmen wird, die kaum einer kennt außer ihm selbst. Des Weiteren ist er einer der größten Menschen die ich kenne. Also erschrick nicht, wenn du ihn siehst.« Wieder ließ Trudy ihr spitzbübisches Lächeln sehen.

Rechter Hand sah Julie nun in der Ferne zwei kleine aneinandergebaute und ziemlich marode Holzhäuschen stehen. Der einst weiße Anstrich des rechten Häuschens war so gut wie komplett abgeblättert und es schien, als würden beide jeden Moment zusammenfallen. Davor war ein von den Witterungsverhältnissen gezeichnetes, rustikal hölzernes Willkommensschild in den Boden geschlagen.

Noch bevor in Julie der Gedanke aufkommen konnte, dass sie nun wohl gleich auf der Ranch ankommen würden, kam ihr Trudy freudig zuvor: »Wir sind nun gleich da. Sieh, da vorne, das kleine Häuschen!« Sie nickte in dessen Richtung und fuhr nach einer kurzen Pause fort: »Ian hat es damals mit seiner Frau selbst gebaut, als sie hier hoch in den Norden gekommen sind. Sie haben einige Zeit darin gelebt. Heute ist es für uns schon fast wie ein historisches Denkmal. Man kann es nicht mehr bewohnen, aber es gibt ein nostalgisches Bild am Eingang der Ranch ab. Ian assoziiert es in seinen Gedanken mit wundervollen Erinnerungen, die er dort mit seiner Frau erleben durfte. Sie ging leider viel zu früh von ihm und ihr Verlust zehrte sehr an ihm.« Trudys sanfte Stimme und ihre klaren blaugrauen Augen spiegelten Betroffenheit und tiefes Mitgefühl wider.

Julie schwieg ergriffen.

Sie passierten das Häuschen und bogen nach rechts auf einen weichen Waldweg ab.

»Nun gut …«, meinte Trudy, »lass uns nicht der Vergangenheit nachhängen, wir leben im Hier und Jetzt und das Leben geht weiter, nicht wahr?«

Julie zog ihre Augenbrauen leicht nach oben und nickte. Allmählich kehrte das Lächeln auf ihr Gesicht zurück.

Riesige cremebeige Rundstammbalken waren mit langen halbrunden Querbalken als Eingangsschild der Ranch errichtet worden. Hoch oben, auf dem ersten von insgesamt vier großen Holztafeln, stand auf pastellblauem Hintergrund der Name der Ranch in großen schwarzen Lettern. Ein Reiter in einer hügeligen Sommerlandschaft und ein Hundegespann mit Schlitten auf einer weißen, schneebedeckten Ebene, die beide von der offiziellen Blume des Yukon Territoriums, dem schmalblättrigen Weidenröschen, gesäumt waren, waren liebevoll darauf gemalt. Auf den anderen Tafeln darunter, deren blauer Hintergrund nach unten hin immer dunkler wurde, waren die Leistungen der Ranch, die Richtung zum Büro und die Richtung zur Lodge angegeben. Schon kurz nach diesem beeindruckenden Holzgebilde ließen sie das Büro, eine kleine, ziemlich neue Blockhütte, rechts von sich liegen.

Sie waren nur ein paar Meter weitergefahren, als Trudy schließlich den Wagen vor einer wunderschönen Lodge anhielt und den Motor abstellte. Strahlend sah sie zu Julie hinüber. »Hier sind wir nun also!«

Die Lodge lag inmitten eines von Fichten, Kiefern und Birken bewaldeten Gebietes. Stellenweise reichten unterschiedlich hohe Büsche direkt an das Gebäude. Die Grüntöne der Vegetation gingen fließend ineinander über und hoben die dunkelbraune Lodge von der Umgebung ab. Das fahlgraue Dach verschmolz mit den Farben des Himmels. Da die Sicht aufgrund des trüben Wetters sehr eingeschränkt war, war es zunächst nicht möglich, die das Tal der Fish-Lake-Gegend umgebenden Berge zu sehen.

Während des Aussteigens betrachtete Julie die Lodge genau und war auf Anhieb begeistert. »Ganz nach meinem Geschmack«, dachte sie, als sie leise die Wagentüre hinter sich schloss. Sie musste einen kurzen Moment verstreichen lassen, bevor sie in der Lage war, sich um ihr Gepäck zu kümmern.

Trudy hatte in der Zwischenzeit den Kofferraum geöffnet. Während sie nun zum Eingang der Lodge ging, rief sie Julie zu, dass sie den Kofferraum schließen solle, sobald sie ihren Rucksack ausgeladen hatte.

Beeindruckt und vollbepackt näherte sich Julie der Lodge. Eine kleine einfache Veranda war dem Eingangsbereich vorgelagert. Rechts und links davon war jede Menge Brennholz gestapelt. Es diente als Vorrat für den schon bald nahenden, langen Winter. Ebenso beidseits der Eingangstüre und an der nach Süden gerichteten Seite, befand sich eine große Fensterfront, deren hellbraune Rahmung in einer tannengrünen Fassung eingearbeitet war. Das Glas der Fenster war mit feinen Holzlatten versehen, die die Fenster wiederum in kleinere Fenster unterteilten. Als Julie schließlich die Lodge betrat, nahm sie einen behaglichen, holzigen Duft wahr. Sie hielt einen Moment inne und sah sich um. Gleich links war ein offener Raum, der ringsum gesäumt war von einer hölzernen Sitzmöglichkeit. Einige handgemalte Bilder waren an den Wänden angebracht und darunter befanden sich über und über Haken zum Aufhängen von Kleidungsstücken. Dieser Teil der Lodge war eine riesige Garderobe wie es den Anschein machte. Julies Blick schweifte weiter. In der Garderobe führte eine kleine Türe in den linken hinteren Teil der Lodge, in dem sich unter anderem das Badezimmer befand. Rechts von der kleinen Türe führte eine Treppe in den oberen Bereich der Lodge. Direkt daneben stand ein riesiger Brennofen mit zwei wuchtigen, metallenen Töpfen darauf. Hinter und neben diesem befand sich die Küche. Ein alter Schrank und viele Ablagemöglichkeiten an den Wänden, auf denen sich Gewürze, Geschirr und andere Küchenutensilien befanden, rundeten das urige Bild, das alles ergab, ab. Eine sehr einfache Spüle befand sich in der Mitte der Küchenwand direkt unter einem Fenster. Ein weiterer Schrank und eine massive Arbeitsplatte mit Stauraum darunter, grenzten den Küchenbereich vom Essbereich ab. An der Decke verliefen kupferne Gasleitungen, die die Lampen mit dem nötigen Brennstoff versorgten. Auf der Treppe befanden sich ein paar große Wasserkanister, die die Wasserversorgung sicherstellten. Es war somit nicht zu übersehen, in welcher Einfachheit man hier lebte.

 

Der Regen setzte abrupt und heftig ein und verstärkte das Gefühl der Gemütlichkeit für den Besucher. Trudy bat Julie ihr zu folgen. Sie wollte ihr das Zimmer zeigen, in dem sie für eine Woche wohnen konnte, bevor man sie zur Hütte begleiten würde. Gemeinsam gingen sie die knarzende Holztreppe hinauf. Im oberen Stock befand sich ein großer Aufenthaltsraum, in dem ein gemütliches, altes und durchgesessenes Sofa stand. Ein paar Sessel im gleichen Stil standen ebenso im Raum verteilt. In der Mitte gab es einen Tisch und an der Brüstung zur Treppe befand sich ein kleines Bücherregal. Die Wände waren nur halb hoch, da sich das Dach weit nach unten zog. In den Dachschrägen befanden sich ein paar Fenster, die wie kleine Gauben in das Dach eingelassen waren und dem Raum eine gewisse Niedlichkeit verliehen. Trudy führte Julie nach rechts und wies ihr in einem kleinen Vorraum ihr Zimmer zu. Es lag an der Nordseite der Lodge.

»Wenn du dein Gepäck verstaut hast, sieh dich ruhig in Ruhe um. Du kannst auch draußen die Hunde und die Pferde besuchen, wenn du magst. Ich möchte noch einige Vorbereitungen erledigen, bevor die nächsten Gäste eintreffen. Die anderen werden vermutlich nicht vor dem Abend hier sein. Wir werden dann gemeinsam zu Abend essen und das Wesentliche für die nächsten Tage besprechen. Ach, wenn du bis dahin Hunger bekommst, ich habe unten in der Küche eine Platte mit Käse für dich vorbereitet. Daneben liegt Brot. Wir haben immer frisches Obst in der Schale auf dem Esstisch, da kannst du dich auch bedienen. Cookies und andere Süßigkeiten findest du im Schrank hinter dem Ofen, falls du Lust darauf hast.«

»Das ist sehr lieb von dir, vielen Dank!« Julie machte eine kurze Pause und sah Trudy in die Augen. »Vielen Dank für alles, Trudy!«

Trudy hätte Julies Dankbarkeit auch ohne deren Worte alleine in ihren Augen lesen können und so erwiderte sie dies mit einem kurzen Lächeln. Sie nickte. »Gern geschehen, und bis später dann, Julie!«

Nachdem Julie ihre Sachen im Zimmer, in dem sich lediglich ein großes Bett, zwei kleine Schränke und eine kleine Ablagebank befanden, verstaut hatte, spähte sie aus dem Fenster. Sie entschied sich trotz des anhaltenden Regens dafür, ein wenig hinauszugehen. Sie wollte sehen, wie die Hunde und Pferde untergebracht waren und was ihr die nähere Umgebung zu bieten hatte. Sie zog ihre Regenkleidung über, eilte die Treppe hinunter und ging hinaus.

Ohne überhaupt eine Ahnung zu haben, wo sich auf der Ranch was befand, blieb Julie nach wenigen Schritten vom Haus entfernt stehen. Sie überlegte sich, in welche Richtung sie gehen wollte. Zu ihrer Linken sah sie einen Holzzaun, der einer Koppeleinfassung glich. Plötzlich drang aber heftiges Hundegebell direkt vor ihr an ihr Ohr und sie entschied sich dem Weg geradeaus zu folgen. Sie war neugierig, wie viele Hunde im Stande waren, solch einen Lärm zu verursachen.

Nach ein paar hundert Metern sah Julie auf der linken Seite einen mit lichten Fichten bewaldeten Platz, an dem die Hunde untergebracht waren. Jeder der Hunde war mit einer langen Leine an einem niedrigen Pfosten angebunden und hatte eine blaue Tonne in seiner Nähe, die als Hütte umfunktioniert war. Sie lag waagerecht auf dem Boden und hatte eine ausgeschnittene Luke als Eingang. Eine dicke Einlage Stroh diente als Mattratze. Sie hielt kurz an, um diesen Eindruck auch wirklich begreifen zu können. »Ach du meine Güte!«, staunte sie. »Das müssen hunderte sein!« Sie vermochte sie nicht zu zählen.

Je weiter sie nun dem Weg folgte, umso weiter begab sie sich zwischen die Hunde. Als sie stehen blieb, um diese genauer betrachten zu können, befand sie sich mitten in deren aufgewühlten Stimmung und das Bellen schien für kurze Zeit ihre Ohren zu betäuben. Dann sah Julie, weshalb die Hunde so aufgebracht waren.

An einer riesigen Werkbank, die sich zwischen zwei kleineren Hütten befand, verarbeitete jemand einen immensen Berg Fleisch und Knochen. Alle Hunde hofften davon ihren Teil abzubekommen. Es gab manche, die, während sie bellten, einfach nur dasaßen, andere, die Runde um Runde um ihren Platz liefen und wieder andere, die hektisch gegen ihre Leine sprangen, da sie sich erhofften, dadurch eher etwas von dem leckeren Fleisch abzubekommen.

Die Hunde, die sich in nächster Nähe zu Julie befanden, unterbrachen ihr Jaulen und hofften stattdessen auf ihre Aufmerksamkeit. Julie fiel eine aufgeweckte und wunderschöne Hündin direkt neben sich auf, die in ihrem graumelierten Fellkleid etwas Wolfsähnliches hatte. Sie trat näher an sie heran und begann sanftmütig mit ihr zu sprechen: »Na du? Du bist aber eine Hübsche!« Dabei bemerkte sie, dass auf jeder der Hundehütten der Name des jeweiligen Hundes mit dicker weißer Farbe geschrieben war. Auf der Tonne des Hundes zu ihrer Linken war der Name ›Fuzzy‹ zu lesen. »So heißt du also. Fuzzy!«

Die Hündin wedelte freudig mit ihrer Rute und war dennoch hin- und hergerissen, ob sie nun Julie oder dem entfernten Fleisch ihre volle Aufmerksamkeit schenken sollte.

Julie überschaute den Hundeplatz und bedauerte zugleich, dass sie es heute nie und nimmer schaffen würde, jeden einzelnen von ihnen zu begrüßen und zu streicheln. Stattdessen beschränkte sie sich auf die Hunde, die um sie herum waren, und ließ zumindest diese ihre Liebe für sie spüren.

Etwas wehmütig entschloss sich Julie letzten Endes, nach einem nur kurzen Besuch bei den Hunden, einmal nach den Pferden zu sehen. Da es immer noch in Strömen regnete, sollte ein kurzer Überblick daher vorerst genügen. Sie ging denselben Weg zurück den sie gekommen war, in Richtung des Weidezaunes, den sie zuvor gesehen hatte. In der gesamten Einzäunung befanden sich jedoch keine Pferde. So ging sie auf dem Weg, den sie mit dem Auto gekommen waren, weiter. Sie wollte nachsehen, ob sie in dem Paddock, den sie vorher nur aus dem linken Augenwinkel bemerkt hatte, Pferde ausfindig machen konnte.

In der Mitte des Paddocks standen zwei große Futterplätze und es gab einen geräumigen Unterstand. Außerhalb der Einzäunung stand eine Hütte, die vermutlich als Futter- oder Sattelkammer genutzt wurde, und des Weiteren war das zuvor kurz von Julie wahrgenommene Büro schräg gegenüber zu sehen. Allerdings keine Pferde.

»Hm, etwas seltsam ist das schon …! Auf der ganzen Ranch ist weit und breit kein Pferd zu sehen«, überlegte Julie. Sie ging jedoch davon aus, dass sich dies später klären würde, wenn sie jemanden fragen konnte.

Der Regen hatte ein wenig nachgelassen und so entschied sie sich nun zu guter Letzt den ›Fish Lake‹ aufzusuchen. Sie sah den See schon von weitem in der Ferne liegen. Soweit das Auge reichte, erstreckte er sich Blauschwarz in südlicher Richtung. Der See war umgeben von Bergen, deren Gipfel bis zur Hälfte mit dicken aschgrauen Regenwolken verhangen waren. Das Ausmaß der Berge war daher nicht wirklich einzuschätzen. Die Oberfläche des Sees schien seiden weich zu sein und nur die feinen Regentropfen rissen selbige immer wieder kurz auseinander. Julie stand da und genoss für einen Augenblick die Aussicht und das sich ihr darbietende Schauspiel des reinen Elementes, bevor sie sich wieder auf den Rückweg zur Lodge machte.

Triefnass vom kurz zuvor wieder heftig einsetzenden Regen betrat Julie die Lodge, als Trudy gerade in der Küche eine große Kanne mit Tee kochte. »Hallo Julie, komm herein, du kommst gerade richtig. Ian wird auch gleich da sein und dann können wir gemeinsam einen Tee trinken.«

Julie begrüßte Trudy ebenso und erkundigte sich, ob sie denn ihre Vorbereitungen hatte alle erledigen können. Währenddessen entledigte sie sich ihrer nassen Regenkleidung.

»Ja, ich habe alles hinbekommen. Ging doch wieder zügiger, als ich gedacht habe. Ach, übrigens haben sich kurzfristig für heute Abend zwei Frauen einer Reiseagentur gemeldet, die einen Bericht für ihr Reisejournal über unsere Ranch schreiben möchten. Ian wird sie mit den Pferden auf den Berg dort drüben führen. Von dort aus hat man eine schöne Aussicht und ich denke, das wird den beiden gefallen.« Dabei zeigte sie mit dem Finger aus dem Fenster und wies in Richtung einer der nahe gelegenen Berge.

»Die Wolken hängen sehr tief«, merkte Julie an, während sie versuchte, ihre zerzauste Frisur etwas zu richten.

Gemeinsam setzten sie sich zunächst an den Tisch.

Trudy goss herrlich nach Früchten duftenden Tee in ihre Tassen. Sie wusste sofort, was Julie damit sagen wollte. »Hier kann man nie wissen, wie das Wetter wird. Regnet es in einem Moment, kann es eine Stunde später schon wieder strahlenden Sonnenschein geben. Von daher lassen wir uns einfach überraschen, was wir am Abend für ein Wetter bekommen. Ian wird dich bestimmt mitnehmen. Ich denke auch, dass er ein gutes Pferd für dich ausgesucht hat.«

Julie unterbrach Trudy: »Apropos Pferd, ich habe weit und breit um die Lodge kein Pferd gesehen. Wo sind die Pferde denn untergebracht?«

»Ah, gut, du hast dich also schon ein wenig umgesehen. Nun, wenn wir keine Gäste auf der Ranch haben, die zum Reiten hier sind, lassen wir die Pferde einfach in der gesamten Umgebung laufen. In der Nähe gibt es eine gute Weidemöglichkeit für sie. Vermutlich halten sie sich dort auf. Ansonsten holen wir die Reitpferde oder Packpferde, die wir brauchen, auf die Ranch und bringen sie auf dem Paddock und der eingezäunten Weide hier gleich ums Eck unter. Sie sollen ihre Freiheit genießen, wenn möglich, und außerdem laufen sie nie weit weg. Sie halten sich immer in einem bestimmten Radius zur Ranch auf. Sie wissen ja auch, dass sie hier ihr Heu und Kraftfutter bekommen. Ian wird, denke ich, jetzt gerade noch unterwegs sein, um die Pferde für den Ausritt am frühen Abend zu holen.«

Julie gefiel die unkomplizierte, offene Art von Trudy. Es schien, als würden sie sich schon eine ganze Weile kennen. Obwohl sie noch nicht einmal einen ganzen Tag hier war, fühle sie sich dadurch schon fast heimisch und sie war sehr erleichtert darüber.

»Warst du auch schon bei den Hunden?«, fragte Trudy nach einer kurzen Pause.

»Ja, ich habe sie schon von weitem gehört. Ich musste nur ihrem Jaulen und Bellen folgen. Ich war überwältigt, wie viele es sind. Wie viele sind es denn eigentlich?«

»Hm …«, überlegte Trudy, indem sie grüblerisch ihre Stirn in Falten legte. »Wenn ich ehrlich bin, weiß ich die genaue Zahl auch nicht. Da musst du später Ian, Adam oder Jocelyne fragen, wenn du es genau wissen möchtest. Die drei beschäftigen sich am meisten mit den Hunden. Aber es dürften ungefähr hundertfünfzig sein. Im Winter haben wir ziemlich viele Touristen, die entweder für ein paar Stunden, einen oder mehrere Tage hier sind, um Hundeschlitten zu fahren.«

Julie dachte gerade daran, wie wunderbar es wohl sein musste, eigens einen Hundeschlitten zu führen. Sie war bisher erst einmal in den Genuss einer Hundeschlittenfahrt gekommen, als sie in Whistler eine zweistündige Tour mitgemacht hatte. Allerdings saß sie da im Schlitten und wurde von einem Musher, der hinten auf den Kufen stand, durch die Winterlandschaft gefahren. Sie war damals so überwältigt und fasziniert gewesen, dass sie dies eines Tages unbedingt selbst machen wollte. Den eigenen Hundeschlitten führen! Hier also im Yukon sollte ein weiterer ihrer Träume in Erfüllung gehen.

 

»Ich habe unten am Hundeplatz einen jungen Mann gesehen, der Futter für die Hunde gehackt hat. Ich wollte ihn nicht stören. Ist er auch ein Musher?«, fragte Julie neugierig.

»Das wird wohl Adam gewesen sein. Er kommt eigentlich aus dem Osten Kanadas und ist dort Musher. Er kam hierher, um zu sehen und zu überlegen, ob die Arbeit mit den Pferden etwas für ihn sein könnte. Aber seine Leidenschaft sind eben die Hunde und so kümmert er sich auch um sie. Er ist sehr einfühlsam und macht einen guten Job. Ich hoffe, er wird sich entscheiden hier zu bleiben. Er wird Ian und dich gelegentlich mit den Pferden begleiten, da er die Gegend auch noch besser kennenlernen möchte.«

In dem Moment, als Trudy fertig gesprochen hatte, sah Julie wie ein sehr großer Mann um die Lodge ging, die Veranda betrat und dann zur Türe hereinkam. »Das muss er sein!«, schoss es ihr in den Sinn.

Trudy schloss sogleich jeglichen Zweifel aus: »Hey Ian, da bist du ja. Wir haben uns schon Tee eingeschenkt. Das hier ist Julie.«

Julie stand auf und trat Ian entgegen. »Meine Güte, was für ein Bär von Mann!«, waren ihre ersten Gedanken. Ian war locker zwei Köpfe größer als sie. Sie zählte zwar nicht gerade zu den kleinsten Frauen, aber im Vergleich zu ihm kam sie sich nun doch ziemlich schmächtig und klein vor. »Hallo Ian, es freut mich sehr, dich kennenzulernen!«

Ein kurzes »Hey, mich auch!« war seine Antwort. Dabei lag ein so sympathisches Lächeln auf seinen Lippen, dass Julie ihn sofort ins Herz schloss. Es schien, als könne sie auf Anhieb die Sanftmut, die Warmherzigkeit und die Güte, welche seine leuchtend blauen Augen wiederspiegelten, in ihm erkennen. Außerdem rief sein Auftreten im Gesamten bei Julie sofort Sympathie hervor.

Als Ian die Lodge betreten hatte, hatte er als erstes seine Mütze abgenommen. Darunter kam sein halblanges dunkelblondes Haar, das nun völlig zerzaust in sämtliche Richtungen stand, hervor. Dies allerdings schien ihn nicht im Geringsten zu interessieren. Während er nun nach der Begrüßung zum Küchenschrank ging, um sich eine Tasse herauszunehmen, fiel Julie sein schlurfender Gang auf. Etwas schwerfällig und mit einer Gemütsruhe durchquerte er den Raum. Dabei spitzte er beim Atmen hochkonzentriert seine Lippen, so dass es den Anschein machte, als würde er auf eine Art Pfeifen.

»Hast du die Pferde geholt?«, fragte ihn Trudy.

»Ja, das habe ich.«

»Waren sie unten auf der großen Weide?«

»Ja.« Und wieder nur eine kurze Antwort seinerseits.

Es kam Julie so vor, als ob Ian kein Mann vieler Worte war und dennoch ließ ihn das nicht weniger liebenswert erscheinen. Im Gegenteil. Auch dies gefiel Julie gleich an ihm. Sie wusste, dass es genug Menschen gab, die mit vielen imposanten Worten viel heiße Luft um nichts machen konnten, und so war ihr Ian auf jeden Fall lieber.

Ian setzte sich zu den beiden an den Tisch, goss sich ebenso dampfenden Tee in seine Tasse und nahm sich einen Cookie, in den er herzhaft hineinbiss. In den Tee gab er Zucker. Eine Menge Zucker. Er sah Julie kurz an, während er mit seinem Tee beschäftigt war. »Nun, du wirst also für die nächste Zeit hier bei uns bleiben?«

Obwohl er dies sehr ruhig und auch eher langsam sagte, hatte Julie Probleme, Ian richtig zu verstehen. Dies lag weniger an seinem Dialekt, als vielmehr daran, dass er in seinen nicht vorhandenen Bart nuschelte. Aber dennoch, nachdem sie ein paar Sekunden verstreichen ließ, konnte sie sich den Satz zusammenreimen und gab ihm eine kurze Antwort: »Jep!«

Ian erwiderte ihre Fröhlichkeit mit einem feinen Lächeln, kurz hochgezogenen Augenbrauen und einem leichten Nicken. Danach war alles gesagt. Sie mochten sich beide auf Anhieb.

Gemeinsam am Tisch aßen sie eine Kleinigkeit und besprachen nun alles, was für Julie wesentlich war. Angefangen von den bevorstehenden Einkäufen, den finanziellen Dingen, der Unterbringung, bis hin zu geplanten Ausflügen, die zur Erkundung und Zurechtfindung für Julie gedacht waren. Eigentlich war es viel mehr ein Dialog zwischen Trudy und Julie. Ian hörte sich alles an. Es machte ab und zu den Anschein, als sei er gelegentlich geistesabwesend, aber dennoch entging ihm nichts.

Julie stellte fest, dass sich Trudy einige Gedanken um sie gemacht hatte. Alles in allem hörte sich das Ganze dadurch äußerst unkompliziert und wohl organisiert an. Sie war wirklich froh darüber, dass sie zuhause alle beruhigen konnte.

»Nun …«, meinte Trudy, »jetzt haben wir doch schon vor dem Abendessen und ohne die anderen alles durchgesprochen. Aber durch den kurzfristigen Besuch der beiden Journalistinnen hat sich der eigentliche Plan nun eben etwas geändert. Wir werden dann erst später zu Abend essen und können uns dabei besser kennenlernen.«

Nachdem Julie ihren letzten Schluck Tee getrunken hatte, nickte sie Trudy zu. »Darauf freue ich mich jetzt schon!«

Ian stand währenddessen auf. Er räusperte sich nun und sagte in ruhigem Tonfall: »Okay, dann werde ich jetzt die Pferde satteln gehen. Ungefähr in einer halben Stunde werden die beiden da sein. Du kannst nachkommen, sobald du startklar bist.« Dabei sah er kurz zu Julie hinüber.

»Oh, prima! Ja, ich komme dann gleich nach!«, entgegnete sie ihm in freudiger Erwartung.

Ian nahm anschließend seine Tasse vom Tisch, um sie in der Spüle abzustellen. Danach zog er seine Schuhe und seine Jacke an und verließ kurz darauf die Lodge.