Eis.Leben

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ENDLICH ATMEN

„The girls to the right, the men to the left room, please.“ Neuseeländisch ist für das Ohr gewöhnungsbedürftig. Die Dame mit dem strengen Haarschnitt wedelt im CDC, dem Cloth Distribution Centre, mit einer Liste herum, versucht, den kopflosen Haufen irgendwie zu organisieren. Mit dem amerikanischen Forschungsfonds, dem National Science Foundation NSF, zu reisen, bedeutet, von ebendiesem völlig eingekleidet zu werden. In den Räumen, in welche wir nach Männern und Frauen getrennt geschickt werden, steht eine Unzahl an orangen Segeltuchtaschen auf dem Boden, jede mit einem Anhänger mit unseren Namen versehen. Für jeden stehen zwei vollgefüllte Taschen bereit. Die energische Dame erscheint und bittet uns, jedes Kleidungsstück anzuprobieren. Außer dem Inhalt dieser Taschen wird es wenig zivile Kleidung geben.

„Es mag ja ganz sexy sein, wenn die Dinge straff sitzen“, meint sie, und man spürt, dass sie diesen Satz schon oft wiederholt haben muss, „McMurdo jedoch ist kein Ort dafür, meine Damen, es kann einem die Monate auf dem Eis zur Hölle machen, wenn die Kleidung oder besonders die Schuhe nicht passen.“ Ein Argument, welches man gerne gelten lässt. Wenn man die Schuhe auspackt, vermutet man einen Irrtum. Sie gleichen überdimensionalen schmutzig-weißen Gummistiefeln und haben ein unglaubliches Gewicht. Auf der Seite befindet sich ein Ventil, ich versuche, über Blickkontakt zu einer anderen Frau Klarheit über dessen Funktion zu bekommen, hoffe, nicht die einzige zu sein, die nichts mit diesen hier bunny boots genannten Plastikmonstern anfangen kann. Kapiere schließlich, dass man mit dem Ventil das innere Luftvolumen variieren kann. Die zarte Frau neben mir legt sich zwei Stapel zurecht und antwortet ganz selbstverständlich auf mein fragendes Gesicht hin, „dieses Zeug bleibt hier, das kann man als Frau nicht gebrauchen.“ Dabei zeigt sie vor allem auf einen sogenannten Long John, einen Fleece-Overall ohne Ärmel. Ich finde den Overall herrlich flauschig, verstehe nicht, warum ich gerade darauf verzichten soll. Doch ich würde bald wissen, welche Dinge man als Frau wirklich gebrauchen kann. Um auf die Toilette gehen zu können, die es meist gar nicht gibt, gibt es nichts Unpraktischeres als einen Overall, den man zur Hälfte ausziehen muss, um sich erleichtern zu können.

Thermo-Unterwäsche ist dabei in Ockerbraun, Navy-Farben, olivgrüne Strümpfe, kratzig, Lederhandschuhe mit Ölflecken übersät, noch nach Öl stinkend. Eine grellrote Jacke mit angedeuteter pelzverbrämter Kapuze, der Pelz sieht abgenagt aus. Auf der Brust ist Platz für ein Namensschild. Ich krame in der Tasche, hier ist mein Schild. Ich wurde amerikanisiert, aus Birgit wurde Brigit. Über dem Schild ein Aufnäher des amerikanischen polaren Programms des NSF, für die stolze Brust. Schibrillen gegen Schneestürme, eine Plastikflasche. Wie praktisch. Ich fülle meine angefangene Cola-Dose in die Flasche um. Die Frau neben mir grinst süffisant und erklärt langgezogen, das würde sie lieber nicht tun. „Warum nicht? Wegen der Gefahr des Gefrierens?“ Sie lacht über meine Unwissenheit, verdammt, warum muss man sich hier bei jeder Gelegenheit blamieren?

„Diese Flasche wird zu deinem besten Freund“, erklärt sie mir, grinst immer noch schelmisch, ihr Lachen hat auch andere Frauen hergelockt, die offensichtlich das Geheimnis schon kannten, schon auf die Neuen, auf die Opfer gewartet haben. „Die pee-bottle wird gepflegt, sie darf nicht gefrieren, sonst bist du in fucking troubles.“

Erst jetzt erfahre ich, dass sogar Urin und Fäkalien wieder nach Amerika verschifft werden. Ihre Reise beginnt in dieser kleinen Plastikflasche. Jeder ist natürlich selbst für sich verantwortlich, seine Spuren zu sammeln.

Nun gut, also kein Cola in die Flasche.

Ich bin gekränkt, dass man hier immer nur die Hälfte erfährt. Doch hier ist kein Platz für Eitelkeit, schon bald lache ich darüber, denke an die vielen Frauen, die nach mir hier stehen und versuchen werden, Trinkbares in ihren besten Freund zu füllen.

Das Unterhemd zu klein, die Hose zu weit, die Schuhe wieder zu klein. Die Frauen stehen halb nackt oder mit irgendwelchen Einzelteilen aus den orangefarbenen Taschen bekleidet vor einem Tresen und warten, bis ihnen ein Mann in blauer Montur aus einem Lagerraum die passenden Größen hinüberschiebt. Es dauert, es ist mühsam, wir schwitzen, können uns nicht vorstellen, dass es irgendwann in der nächsten Zeit einmal so kalt werden kann, dass man all diese Dinge braucht. Genauso wie man es sich kaum vorstellen kann, wie sich Hunger anfühlt, wenn der Bauch gefüllt ist. Wir beobachten uns gegenseitig, sind alle ein komischer Anblick in unseren Uniformen, das bringt ein Gefühl der Solidarität, das das Eis brechen lässt.

Die Anprobe ist zu Ende, wir haben am Tresen umgetauscht, was möglich war, oder untereinander getauscht. Wir erfahren, dass der Flug vielleicht schon heute Nacht losgeht, wir sollten uns jedenfalls bereithalten und Christchurch nicht verlassen.

Ich spüre eine leichte Gänsehaut, fühle mich plötzlich überrumpelt, es geht mir jetzt doch zu schnell. Wir werden wieder in unsere Bleibe zurückgebracht, beklommen gehe ich zu Bett, ich möchte noch zuhause anrufen, mich verabschieden, es kann ja doch sein, dass ich mich lange nicht mehr melden kann. Einen Moment lang denke ich mir, die Polarpioniere des 20. Jahrhunderts können sich vor ihrer Abreise nicht anders gefühlt haben, aber dann wird mir klar, welch überhebliche Fehleinschätzung es ist, sich mit diesen Männern vor hundert Jahren vergleichen zu wollen. Heute wird es niemanden mehr berühren, ob du am Eis bist oder nicht, nur dich und die Deinen. Zum Glück. Aber das werde ich erst später erkennen.

Um drei Uhr morgens klopft es an meiner Tür, „get up, Bridschett, we’re going.“ Ich nehme in meiner Schlaftrunkenheit nichts auf, war doch gerade noch in einem Traum, höre nur immer wieder dieses „we’re going, we’re going.“ Fassungslosigkeit macht sich breit, langsam, als ob ich noch etwas verhindern könnte, ziehe ich mir meine dicken Hosen an, die Daunenjacke, lege mir die Handschuhe zurecht, die luftisolierten Gummistiefel.

Wie absurd, es ist Sommer, alles ein Theaterstück, eine neuseeländische Sommergroteske.

Vor der Zimmertür wird es laut, hektisch, die Leute auf dem Gang sind nicht mehr zu erkennen in ihren schweren Jacken. Wer seid ihr? Wem vertraue ich mich hier eigentlich an? Die Wirtsleute, in Morgenmäntel gehüllt, geben uns noch Tee und Zwieback, wünschen uns lächelnd alles Gute, „see you in some months, maybe“, gehen wieder zu Bett, als der Bus uns vor der Tür abholt. Die Szene wiederholt sich für sie von Saison zu Saison, es ist ihr normaler Rhythmus: Schichtwechsel auf dem Eis, egal, zu welcher Uhrzeit. Hat für sie wohl dieselbe Brisanz wie eine gute Tasse englischer Tee.

Niemand spricht, alle sind müde, beklommen, wir fahren wieder ins CDC, dort werden unsere Daten auf einer Liste abgehakt. Beim Verlesen der Namen bekommt jeder zwei Aluminiumplaketten. Ich kenne sie noch von meinem großen Bruder, als er beim Bundesheer seinen Heeresdienst absolviert hat. Ich war damals acht Jahre alt, mein Bruder hatte immer diese Aluminiumkette um seinen Hals, auf der sein Name eingestanzt war. Auf dieser hier steht B Sattler. Eine Plakette mit einer langen Kette, eine mit einer ganz kurzen. Mit großen Augen starre ich einem Amerikaner, der neben mir steht, ins Gesicht. „Wofür?“ Er versteht, sagt, die kurze Kette komme dann an die große Zehe. Ich verstehe noch immer nicht.

„Falls der Vogel schneller runterkommt als geplant, dann bleibt nicht mehr viel übrig von dir, girl, dann müssen sie dir doch noch einen Namen geben, oder?“ Lächelnd hängt er mir die lange Kette um den Hals. Ist noch nie passiert, meint er in sanfterem Ton. „Stay cool, babe“, sagt er, ich denke mir, verschwinde. Du hast ja keine Ahnung.

Dabei bin ich es, die keine Ahnung hat. Das ist jetzt der Schritt, an dem ich zu weit gegangen bin, denke ich mir, es wird das Risiko mitgedacht, dass wir nicht mehr zurückkommen. Ein fast schon zu großes Gefühl, dieses Risiko einkalkulieren zu müssen. Dieser Gedanke, der schon sehr lange hätte gedacht werden müssen, ist in diesem Hunger untergegangen. Nun steht sie da, erbarmungslos, grinst mich an, verhöhnt mich mit meiner Gier. Jetzt ist es zu spät.

Während wir uns bereithalten und mit der gesamten Ausrüstung bekleidet in der Flughalle warten, wird uns ein Film gezeigt: die Schönheiten der Antarktis, der Schrecken des Kontinents, Frostbeulen, Schneestürme, euphorische Menschen, flatternde Zeltplanen, unglaubliches Licht, irisierend, unberechenbare Eisspalten, watschelnde Pinguine, kalbende Gletscher. Der Film endet mit einem Ausspruch Scotts: „Oh mein Gott, was für ein grausamer Ort.“ Wie grausam kann dieser Ort werden, denke ich mir, wenn nicht einmal Scott mit ihm fertig geworden ist? Scott, mein Kinderheld, beginnt zu schwächeln. Der schöne Stuck aus Opas Wohnzimmer bröckelt ab.

Unser Gepäck wird von neuseeländischen Soldaten nach draußen befördert, uns bleibt jedem noch eine orangefarbene Tasche oder persönliches Handgepäck. Langsam wird es hell, ich werde gewogen, fühle mich ausgestopft wie ein Plüschtier mit all der Ausrüstung, bekomme einen Passagierschein und gehe auf die Rollbahn hinaus, den anderen roten Jacken hinterher. Es mischen sich auch ockerfarbene Uniformen dazwischen. Die Arbeiter, die für das Funktionieren der gesamten Station verantwortlich sind, tragen laut NSF-Statuten kein Rot.

Es ist grün, draußen steht eine Maschine, im ersten Moment wirkt sie drollig auf mich, die schwarz lackierte Nase der Herkules erinnert irgendwie versöhnlich an eine Comicfigur. Ein Flugzeug in Olivgrün, flankiert von Soldaten in Tarnanzügen, keine Fenster. Ein massiver Blechbauch, hinten offen, frisst unsere Taschen, Schneeraupen, Schneemobile, mehr Soldaten. Frisst und frisst. Mein Lieblingskinderbuch fällt mir ein: Die kleine Raupe Nimmersatt.

 

Beim Einsteigen werden Lunchpakete in braunem Papier ausgeteilt mit etwas Schokolade, einem Sandwich, einer Orange und Nüssen, dazu Oropax. Eine steile Metallstiege führt in das Dunkel des Flugzeuges, es gibt keine Sitze, nur Metallholme, zusammengehalten mit geflochtenen roten Bändern, Bänke zu beiden Seiten. Männer und Frauen sollen sich getrennt hinsetzen, hinten ist nämlich die Damentoilette: ein Kübel hinter einem Vorhang zwischen der Ladung, welche inzwischen verzurrt wird. Vorne die Herrentoilette: ein hohes, schmales, senkrecht stehendes Metallrohr in einer engen Kabine.

Ich klammere mich an meinen Rucksack, den ich gegen die orangefarbene Tasche ausgetauscht habe, um noch etwas Persönliches zu haben. Setze mich auf die Bänder, versuche, mich im Dunkel des Bauches zu orientieren. Fühle mich wie ein Lemming, wir trotten alle in diesen Bauch hinein, es ist kalt im Inneren. Unzählige kleine Lampen glühen von der unverkleideten Decke, die übersät ist mit Leitungen und Kabeln, ein ungeschminktes Flugzeug.

„Wird hier wohl keinen Film geben nach dem Menü“, sagt eine rote Jacke neben mir. Bin nicht aufnahmefähig für irgendwelche Scherze. Er kann nichts dafür.

Die würzige Morgenluft zieht durch das Flugzeug, übernächtigt ziehen sich die rund sechzig Passagiere die Mützen tiefer in das Gesicht, es dauert eine Ewigkeit, die Turbinen werden gestartet und wieder angehalten. Und wieder dasselbe Spiel. Der Lärm erstickt jedes Gespräch. Ein Soldat mit Megafon erklärt uns schlussendlich jenen Inhalt, den bei zivilen Luftlinien sonst adrette Stewardessen mit einem Lächeln, getunkt in viel Lippenstift, säuseln würden. Es gebe einen point of no return, wenn der überschritten sei, können wir nicht mehr umkehren, erklärt er uns. Okay, und was soll das jetzt heißen? Viele rote Jacken schauen sich fragend an, ohne Antwort. Irgendwie bin ich noch nicht ganz im Reinen mit mir, warum nur habe mich selbst in diesen Schlund gestoßen?

Nach einer kleinen Ewigkeit wird die Eingangstüre geschlossen, der Bauch schließt seine Klappe, wir schnallen uns mit den breiten Gurten an und nach einem kurzen Ruck bewegt sich die Maschine langsam auf dem Rollfeld. Im Halbdunkel beobachte ich die Menschen um mich herum, man erkennt sofort jene, für die es nicht mehr die erste Erfahrung ist, sie hängen lässig in den Bändern, zwischen ihrem Gepäck irgendwo ein Buch, sie tragen nicht mehr die Daunenjacken, beginnen schon, das Lunchpaket zu plündern. Die Erstlinge, verkrampft und fremd in den Gurten, die gesamte Ausrüstung praktisch im Anschlag, fingern nervös an ihrer Aluminiumplakette herum, warten angespannt auf den Start, der mit lautem Dröhnen vonstattengeht und uns das letzte Mal das Grün der neuseeländischen Berge, das letzte Mal den schon verblassenden Mond erahnen lässt, der schon längst der Sonne Platz gemacht hat. Wir werden ihn über Monate nicht sehen. Auch die Sterne nicht.

Der Ortswechsel in die Luft verändert auch mein Denken, das Eis fließt mir entgegen, das Denken öffnet sich dem Eis. Bald schon falle ich in einen ruhigen Schlaf, die Versöhnung zwischen dem Drang nach Neuem und der farblosen Sicherheit in alten, ausgetrampelten Pfaden findet statt. Die Zerrissenheit weicht einer Entschlossenheit. Ich reiße mir die Oropax aus den Ohren, ich muss mich nicht mehr schützen, kann mich fallen lassen, bereit, alles zu erleben, sauge alle Eindrücke um mich herum auf.

Endlich.

Der Flug ist wie ein langer Tauchgang durch dunkles Gewässer, Strömungen bringen mich in unbekannte Königreiche, niemals begriffen, immer erhofft, immer davon geträumt und niemals wirklich erfasst, wovon man träumt. Nun erahne ich die Weiten dieser Hoffnungen, dieser Gier und stehe zu ihr. Ich bewege mich nach vorn, klettere über unzählige Paare weißer Gummistiefel, über schlafende Menschen, lesende, essende, sinnierende, fresse mich in meinem Hunger nach dem Neuen durch die Menschen, Körper, Lebensgeschichten.

Ein Soldat bedeutet mir mit einer Geste, zu ihm zu kommen. Er lädt mich ein, hinauf auf das Kommandodeck. Ich steige die steile Eisentreppe hinauf, trete in einen offenen Raum, grelles Licht, Kontrolllampen, ich sehe nichts, das Auge ist verletzt durch das lange Dunkel. Langsam jedoch erkenne ich: Eis, nur Eis.

Nichts anderes mehr, irgendein Gott hat seine Laken verloren, weiße Flächen, Packeis, aufgetürmte Eiskolosse, ungeplante Strukturen, dazwischen angedeutete offene Wasserflächen des polaren Ozeans. Ich setze mich neben den Navigator hin, staune, wie in Honig schwimmend, zäh, unfähig, mich zu bewegen, unfähig, dies alles zu erfassen. Der Pilot blickt über seine Schulter zurück zu mir, grinst, ich erkenne an seinem Gesicht, ich bin als Fingee enttarnt. Es macht mir nichts aus, ich fühle mich hier oben nackt bis auf das Skelett. Jeder zusätzliche Breitengrad wirkt wie ein Magnet. Das Neue hat seinen Schrecken verloren, wirkt fast schon vertraut, obwohl ich kaum was davon gesehen, noch nichts davon gekostet habe.


Jede Struktur scheint hier vor Kälte erstarrt zu sein, trotz des noch aktiven Vulkans Mount Erebus im Hintergrund.


Es ist ein Leichtes, sich in dieser Weite zu verlieren – orientierungsmäßig wie gedanklich.


Das Packeis über dem polaren Ozean lockert sich im Südsommer für nur kurze Zeit.


Mächtige Gebilde schwimmen träge im Meer, Fragmente aus Tafeleisbergen, stets zum Kippen bereit.


Der gewaltige Abbruch des Matterhorn Glacier in den McMurdo Dry Valleys ist wie ein Klimaarchiv zu lesen.


Ein „Einzelzimmer“ in einem historischen Scott-Zelt vor der ständig brechenden Flanke des Canada Glacier.


Die amerikanische McMurdo Station – die größte Forschungsstation auf dem Kontinent – ist das ganze Jahr über besetzt.


Anders als die Polarpioniere können wir uns mit Schneemobilen fortbewegen, um unsere Camps zu erreichen.

Trotz unserer Daunenjacken frieren wir im Flugzeug, die Leitungen an der Decke sind inzwischen schon mit dickem Reif überzogen. Die Maschine kann nicht beheizt werden. Viele haben immer noch ihr Buch aufgeschlagen, der Großteil liest über ein Schicksal einer der Polarpioniere.

Man spürt am Druck in den Ohren, dass wir uns im Landeanflug befinden. Ich würde so gerne etwas sehen, doch muss man sich hier auf andere Sinne verlassen. Ich spüre, wir kreisen, scheinbar endlos lange, der Schmerz in meinen Ohren gibt mir nun jede Bewegung weiter. Ein Offizier poltert plötzlich die Treppe vom Kommandodeck hinunter, blickt auf die langen Reihen, die nun endlich verstehen, dass es hier um eine Botschaft ohne Gesprochenes geht. Der Offizier macht mit der Hand eine kreisende Bewegung. Wieder und wieder. Viele schauen verstört, verstehen die Wörter in seiner Hand nicht. Wir schauen uns fragend an. Langsam dringt die Nachricht von den Erfahrenen durch. Die Handbewegung bedeutet einen Bumerang-Flug. Keine Landung, we go back, sickert die Botschaft durch.

Was, wir kehren um? Wohin? Keiner kann sich ein Zurück vorstellen, weiß gar nicht mehr, wo „zurück“ ist. Der Lärm lässt keine langen Unterhaltungen zu. Wir müssen schlucken, „that’s the word.“ Das letzte Wort, wir fliegen wieder acht Stunden zurück. Eine Landung war wegen Schlechtwetters auf der Forschungsstation McMurdo nicht möglich. Man konnte nichts sehen, es tobte ein Schneesturm, welcher die Sicht unterhalb von 50 Metern absolut unmöglich machte. Enttäuscht rolle ich mich neben meiner Nachbarin zusammen.

Aber was hatte ich denn gedacht? Naives Ding! Ein Flug in das Herz der Antarktis ist eben keine Urlaubsreise. Dieser Durst wird nicht nach Bedarf gestillt. Schon gar nicht dosiert.

Als wir landen, ist es bereits wieder dunkel geworden in Neuseeland. Das Eis hat uns ausgespuckt, das Grün hat uns wieder, doch wir passen hier nicht mehr hin. Voll adjustiert stehen wir etwas verloren auf der grünen Wiese neben der Rollbahn herum, die Müdigkeit und Enttäuschung übermannt uns, hektisch wird es um das Flugzeug. Wir sollen uns für morgen bereithalten, vielleicht morgen, sagt uns wieder die energische Dame. Man merkt ihr die Müdigkeit nicht an, derselbe perfekte Lidstrich wie am Morgen. Pfeif drauf, denk ich mir, krabble in den bereitgestellten Bus, wir werden wieder in unser Bed & Breakfast gebracht. Die Wirtsleute, die sich heute Nacht für ein paar Monate von uns verabschiedet hatten, wirken nicht überrascht, als wir wieder vor der Türe stehen. Als Allheilmittel gibt es hier immer Tee, so auch jetzt. Red nicht, trink Tee. Das Wetter ist der Boss, das war alles, was ich dort gelernt hatte. Nichts ist so unberechenbar auf dem Kontinent wie das Wetter.

Der nächste Morgen, dieselbe Prozedur, geweckt werden, Tee trinken, anziehen, warten, in den Bus steigen, Namen abhaken, warten, in den Bauch steigen, warten. Abheben, beleidigte, pfeifende Ohren, die Gedanken heben wieder ab, es ist alles schon etwas vertrauter, nicht mehr so bedrohlich, nicht mehr so kalt, das Fehlen der Stewardessen nicht mehr so lächerlich. Auch ich lese jetzt die Geschichte eines Polarpioniers, The Worst Journey of the World von Apsley Cherry-Garrard, Doug, ein Kollege meines Teams, hat es mir vor dem Abflug geschenkt. Lese, döse, warte, lese, esse meine letzte Orange, denke, staune, bis ich Stunden später wieder den Druck auf den Ohren spüre und merke, dass wir im Sinkflug sind, Schleifen ziehen, unzählige, so scheint es, es hebt und senkt sich ganz empfindlich mein Mageninhalt, wir steigen und sinken, es scheint nie zu enden. Plötzlich ein hartes Aufsetzen und wir holpern dahin. Kommen auf genau zwei Meter dickem Eis zu stehen, nichts mehr trennt das tonnenschwere Flugzeug vom eisigen Polarmeer. Der Lärm wird gemein, als die Schubumkehr dagegen arbeitet, ein Einsetzen der Bremsen ist auf dem Eis nicht möglich. Die Turbinen laufen noch, die Herkules vibriert.

Ein schrilles Megafon heißt uns in der Antarktis willkommen: Vergiss nie, wo du dich befindest, vergiss niemals deine Umgebung, du bist hier der Eindringling. Die erste Botschaft auf dem Eis, alles in Militärjargon. Entzückend. Endlich stehen wir, die Türe geht auf, schrilles Licht empfängt uns, es ist neun Uhr abends, die Sonne steht hoch am Himmel, sie wird uns über die ganzen Sommermonate begleiten. Unruhig wird es im Flugzeug, die kalte Luft von außen hat schon das Innere erobert, kriecht bis in die letzte Lücke, Körper werden eingepackt, bewegen sich zaghaft über die Treppe nach unten, den ersten Schritten auf das Eis entgegen.

Ich warte, zu einfach erscheint es mir, nun einfach auf das Eis zu treten.

Für mich selbst ist dieser erste Schritt auf das Eis so bedeutungsvoll wie ein Schritt in eine völlig andere Welt. Was ich hier, auf den Metallstiegen, sofort lerne: Jegliche Empfindung wird an Orten wie diesen schamlos übersteigert. Ich weine. Vor Erleichterung. Vor Glück. „Opa, ich bin jetzt da“, sage ich laut.

Bin angekommen. Endlich. Die Seele kann atmen, weit ist alles, mein Brustkorb fühlt sich so weit und so tief an wie das Meer, über dem ich stehe.

Endlich atmen.

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