Hurra! Ich bin kein Engel

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‚Irgendwie schaffen das doch immer alle‘ war die beruhigende Versicherung der Freundin. Sie wird es schon schaukeln, das Leben mit Kind. Das Leben ohne Kind. Hält sich an Farben fest, an Gerüchen, stiehlt Momente zusammen, die nur ihr gehören. Ignoriert Rufe und Schreie, pflückt vier Minuten hier und zehn dort. Erntet die Früchte, wenn eine Idee gerettet ist ehe jemand etwas zu trinken malen anziehen einschalten umkrempeln braucht muss will.

Man sieht nur mit dem Herzen gut, aber wie? Wenn Mensch kein kleiner Prinz ist, sondern EinJemand, an der von allen Seiten angerissen wird, auf einem stellenweise unübersichtlichen Planeten? Hast du schon, wann endlich – Hand auf’s Herz, Augen zu, hinein in den Kopf, wo das Gedankenkarusell sich dreht. Sie lässt eine imaginäre Murmel losrollen und in einer bedächtigen Spirale in den Herzraum hinunter kreiseln, bis sie dort zum Stillstand kommt. Schön warm hier.

Das Leben zahlt ihr täglich 84 600 Einheiten ein, die Gutschrift der Zeitbank ist nicht übertragbar, auf Pump mehr ergattern ist keine Option. No replay. Erst nach Ablauf der 24 Stunden Frist gibt es neue Sekunden. Reinkarnation give or take, im derzeitigen PersonenFormat hat sie das eine Gastspiel.

Revolutionsvorschlag: Verfallsdatum vom Traum abkratzen.

Als Kind sah sie Sterne in Bilderbüchern blinken und bekam von Vogelgesang vorgelesen. Die Sterne entpuppen sich als blasse Punkte und die Vögel singen keine Lieder, sondern zirpen? Woher wissen die Leute im Geschäft Bescheid über die Beschaffenheit ihrer Füße, Beine, Arme? Sie haben sie noch nie gesehen, wie können sie etwas parat haben, das genau ihr passt? Das Kind ist noch nicht standardisiert. – Welcher Tag ist heute? Heute ist heute, ohne Hilfslinien aus Daten, Wochentagen oder Sekundenbruchteilen. Kalenderkonstrukte und Prüfungstermine sind von der Zukunft ausgelegte Fallstricke, warum ist heute Montag und erst am Donnerstag kommt die Freundin? Wie oft schlafen, Monat klingt wie Montag oder Minute, kann ich noch hundert Minuten haben, in welchem Monat ist mein Geburtstag? Wie alt bist du, hundert?

Sie übt das FreiSchweben und horcht nach, wann meldet sich ein Hunger, Essenszeiten hin oder her? Kann sie über warm/kalt entscheiden ohne auf dem neuesten Stand der GradCelsiusVerhältnisse zu sein, nur per Nase in die Luft? Ohne den Rückhalt von just in case Schirmen und Jacken in die Welt hinausziehen? Traut sie sich den freien Fall zu, nur eine Hand als Fieberthermometer?

Wie ist es um die Müdigkeit bestellt, losgelöst vom Kontrollblick auf die Zeitanzeige? Keine Minute länger auf bleiben, obwohl die Schlafenszeit noch stundenlang auf ihr rechtmäßiges Erscheinen warten muss? Oder zu spät ins Bett, Auskosten der Zeitspanne, die nur ihr gehört? Der Morgen dämmert zu früh. In eine erneute Nachtwache verführt schiebt sie dem inneren Rebell die Schuld in die Schuhe.

Es gibt Tage, an denen muss sich der Staub monatelang gedulden, bis er Aufmerksamkeit erregt. Jetzt ist die Zeit. Zum Dasitzen. Sichdagegenstemmen. Mitziehen lassen. Auf eigenen Beinen stehen. Anlehnen. Ja! sagen, neindanke sagen. Ausreden erfinden. Briefkastenfirma eröffnen, Webseite zusperren, Wildwuchs.

Vertane Zeit ist ein Deckname, mit richtigem Namen heißt sie quality time, die Kinder und Uhren nicht ständig aufzieht und sogar sich selbst mal gehen lässt. Es ist an der Zeit? Umzukehren. Zurückzuweichen. Innezuhalten. Fehler zu machen. Fenster zu putzen. Das Fensterputzen bis auf weiteres einzustellen. Eine Erkenntnis zu gewinnen. Mit den Augen zu lachen. Etwas auf die lange Bank zu schieben. Märchen umzuschreiben.

Die Zeit ist gekommen. Wo es weitergeht. Wo es nicht mehr weitergeht. Wo es immer irgendwie weitergeht. Für Steine ist die Steinzeit nicht vorbei, die ZuMeinerZeitRechnung dauert noch an.

Wann ist damals?

Revolutionsvorschlag: No need to bow to clock-time.

Es ist nie zu spät. Gemüse hineinzuschneiden. Die Reise anzutreten. Das wieder gut zu machen. Anzufangen. In Nachtmusik wohnen, unter Tränen lachen, in Augen fallen, in Entdeckungen schwelgen, in Netzen zappeln. Trostloses beweinen, Arme herzen, über Zeilen fliegen, in Bildern schwimmen. Finden, Trennen, Finden. Zuhören, beim Lauf der Welt im Wettlauf mit der Zeit. The soundtrack of a future that is now?

Revolutionsvorschlag: Wenn nicht jetzt, wann dann.

Die Mutproben hören nie auf: Willst du mit mir gehen? Kündigung. SprechStunden. Liebst du mich nicht mehr? BeFörderung. Selbst und ständig ohne selbstständig. Zahlungsanweisung? Abneigung eingestehen, Ende einer Fahnenstange. Hypothekenbescheid, Bewerbungsgespräch. Schulaufgabe, Fleißaufgabe, HausAufgabe, StrafAufGabe? Scheidungs-, Heirats-, KonkursAntrag. UmSchulung. Umzug. Älterwerden, AltSein, BlutjungSein – Meisterprüfungen, wohin das Auge reicht. Jeder Lebensabschnitt ein neues ZeitAlter.

Sie weigert sich, das Sehnen einzustellen, auf Erfölgchen umzulenken, Visionen auszublenden, fixiert auf die unendliche Gerade des jetzt muss ich nur noch schnell. Hochfliegende Pläne unter Anschaffungen verscharren, Ambitionen auf Welterneuerung hinter Sofas verlegen? Warum Esgutseinlassen, das Recht, TeenagerTräume mit sich herumzuschleppen, verjährt nicht. Eines Tages wusste sie noch, dass es nichts gibt, was es nicht gibt. Sie kann jederzeit die Spur wechseln, macht sich auf, hinüber in die wahre Zeitrechnung, wo sie einer inneren Sonnenuhr folgt. Sie fängt Momente ein, einen nach dem anderen. Legt sie in den Korb, über Treppen in Keller hinunter. Türen verriegeln, den Schlüssel im Schloss drehen, again. Die erste Minute herausnehmen, anhauchen, fast zärtlich, polieren, umkrempeln. Sekunde um Sekunde auf links drehen, dem Trott entwinden. Von Produktions- und Effektivitätsanteilen reinigen, in Eigenzeit transformieren. Sie verwahrt alle gewonnenen Einheiten an einem sicheren Ort, der Vorrat ist angelegt. Wenn es nicht mehr geht, die Packung aufreißen, perlige Minuten auf den Tisch schütteln, langsam zurückzählen. Die Wirkung setzt sofort ein.

Abtauchen hinter die Bilder.

Alles hat seine Zeit.

Das Dasgehörtsichnicht-Joch gehört sich so! nicht

Aushilfskraft in diesem Musikgeschäft sein zu dürfen! Sie wird vorgeladen, um sich durch Dialogfangnetze hindurch zu antworten bis zur vorhersehbaren Fangfrage: Was würde sie kaufen, für 30 Pfund? Panisches Stöbern in Hirnwindungen, nach einer Schweigeminute nennt sie einen Buchtitel, den Anfang vom Ende. Trotzdem hoffen wie wild, den langen Nachhauseweg entlang, bis in den nächsten Morgen hinein. Heimkommen, nach erneuten Gesprächen, andere Kulissen und Nebendarsteller, in der tube versuchen, die Hoffnungen in Zaum zu halten. Sie schafft es nicht, wieder brennen sie ihr durch. Von Zuversicht getragen ins Mietzimmerchen zurückgeschwebt, per Telefon abgewürgt. Ein netter Mensch am anderen Ende der Leitung sagt how great! doch alles gewesen wäre und yes, no, nothing this time round unfortunately, sorry. We’ll keep your records on file. Der begehrte Job gehört einem anders klingenden Namen. Tränen wider Willen, rote Augen, verrutschte Wimperntusche, Reparaturarbeiten. Der Gesichtsbaustelle in die Wangen kneifen, auf Lippen beißen, um die natürliche Röte ins Gesicht zurückzuzwingen. Durchatmen, an Kleidungstücken ziehen, sich durch Zupfen zurechtrücken, an Bund und Ärmeln zurück ins richtige Licht zerren. Come on.

Im Kellerraum einer Zeitarbeitsagentur bringt ihr ein Jüngling die Regeln des Servierens nahe. Hierhin die Gabel, Servietten falten, Wein einschenken von dieser Seite. Sie ist zu nervös, um sich etwas zu merken. Dann im erleuchteten Saal mit Horden anderer Laienkellner Tischleinen aufziehen. Über dampfenden Blechkannen Besteck polieren, zur Not nachhauchen, eindecken und schon kommen sie, die nichtsahnenden dinner guests. Sie wissen nicht, dass es ihr erstes Mal ist, ruhig bleiben, Rettungsankerblicke durch den Saal werfen, nachahmen, lächeln. Sie lernt, wie relativ Statistik ist, ein Großteil ihrer Kollegen im Bedienungsteil der catering industry sind vom anderen Ufer. Andere aus Ländern, die sie nicht sofort dem korrekten Kontinent zuordnen kann. Manche haben noch nie von Germany gehört, nach einer Weile antwortet sie Munich auf das unablässige where are you from? Sprachengewirr, ein Esperanto der Geografie, in dem Englisch immer wieder nach oben taucht.

Ihre Garderobe verfügt nicht über die Uniform adrettesRöckchenweißeBluse. Auch Schuhe, die keine Stiefel sein dürfen, hat der Koffer nicht vorzuweisen. Auf Schnäppchenjagd entdeckt sie einen charity shop, stülpt die glattgekämmt farblose Verkleidung über und ist sich wieder ein Stück weit abhanden gekommen. Die Stirn-Tätowierung That’s not me, I’m so much funkier in real life! ist kein zugelassener Teil des Service Outfits. Das Schlimmste: die Haare zurückbinden zu müssen. Gezähmtes ist Stilbruch und rührt an kindliche ZopfTraumata mit Friseurbesuchs-Finale als Triumpfzug in die Selbstbestimmung. Ihren Vornamen muss sie in der Fremde als Kreuz tragen, dann aufgeben. Stutzt sich zurück in einen Anfangsbuchstaben just call me B, sonst tun freundliche Menschen ihrem Namen Gewalt an und betiteln sie versehentlich als bird shit. Versprechen sich, buchstabieren sie um sorry, how do I pronounce your name, Börgiette?- Well, sort of. – No offence! – No worries. Bis eine Freundin ihr den neuen Namen schenkt: Come on, Bridge. Damit lässt sich leben, sie spannt sich gerne über Gräben, auch die der Verständigung.

Kommunikation bedient sich der Sprache, kommt aber ohne sie aus. Gesichtsausdrücke stehen zur Verfügung, Grimassen, Gebärden, Durcheinandergerede, Hände in der Luft. Lächeln kann sie fließend. Sie verteilt Küsschen, hakt sich unter, wie zu Hause. Da muss frau nichts übersetzen. Muss sie aber doch: Will die was von mir? Spaniern oder Brasilianerinnen lassen die Briten körperliche Freizügigkeiten durchgehen, die berühren schon mal einen Arm, da sie bekanntermaßen südländisch und daher feurig veranlagt sind. Germans however sind eher steif wie der Brite weiß, also haben reservierte Menschen nun Angst, dass sie sie heiraten will. Sogar manche Australier, denen sie zu oft um den Hals fällt. Wer tritt einem schon so nahe, ohne ernsthafte Absichten? Sie tappst durch KulturStereotypen im Quadrat und versucht tapfer, vergeblich, again? sich auch daraus nichts zu machen. VerkanntWerden ist ihre Opfergabe an den Reiz des Neuen. In der ihrer Welt wird sie so lange unbeirrbar über die Stränge lieben, bis es sich herumgesprochen hat, dass niemand das persönlich nehmen muss. Bis sie als menschliches Feuerwerk enttarnt ist und alle Gegenübers sich in unverfänglicher HerzensWärme sonnen.

 

Flashback: Solange sie zum Ausziehen zu jung war, blieben Umsturzversuche auf Kleidung und Frisur beschränkt. Als sie mit einer Seite kurz, einer Seite lang nach Hause kommt, kann sie die Aufregung nicht nachvollziehen. Das Donnergrollen, das über sie hereinbricht, wenn sie sich ausprobiert, warum auch nicht? Sie versteht erst in der Rückschau, als sich die Zeit der Nahkämpfe als Meisterkurs entpuppt, für alle Beteiligten. Als ihr das Herz stockt, weil sie so grau geworden sind, fast weiß. Die Eltern, denen sie sich als LanghaarigGepiercte oder Abrasiert-Tätowierte zumuten musste. Sie will niemanden provozieren, nur so sein dürfen wie sie ist.

Auf Bestattungen trägt man schwarz? Sie beschließt mutig zu sein, der Uniformierung auszubüchsen und anzuziehen wonach ihr ist: eine lila Jacke, darunter eine nicht wirklich schwarze, da orange Bluse. Dasgehörtsichnicht! Vibes wabern ihr entgegen, sie kann die entrüsteten Gedanken hören. ‚Hat die sich in der Adresse geirrt, hier ist keine Modenschau. Um die geht’s heute nicht!‘ Nach der Friedhofszeremonie tritt einer der Nachbarn auf sie zu und kommentiert ihre Farbwahl. Erzählt, er hätte auf Beerdigungen früher gerne seine schwarz-lila Krawatte getragen, doch Freunde wiesen ihn so lange auf diese Unangebrachtheit hin, bis seine Frau den aufsehenerregenden Schlips entsorgte. Das Programm „Einfügen in die Norm, nicht ausscheren!“ wird von Eltern und Ausbildungssystemen installiert, bis es keine Schäfer mehr braucht. Mitmenschen springen als Wachpersonal ein, wenn jemand extra-vagant probiert.

Sie wünscht sich ein AbschiedsFest ohne Dresscode, mit tränendurchtränktem, freudestrahlenden Dank für das MitEinander. Wo gefeiert wird, dass der Tod Liebende nicht trennen kann. Dass es ein OhneEinander gar nicht gibt.

Revolutionsvorschlag: Alle Farben leben!

Nächste Szene: Hochzeitseinladung. Sie möchte das lange Glitzerkleid anziehen, die Mutter äußert die Befürchtung, sie wolle der Braut die Schau stehlen. Auch auf den Kopf ist Verlass, er funkt erwartungsgemäß dazwischen. ‚Damit bist du overdressed, das wird peinlich, warum musst du dich so aufdonnern? Nimm die graue Hose und das schwarze Top, das ist klassisch und fällt nicht auf.‘ Zeit für ein Revolutiönchen. Prachtfummel übergestülpt, Prinzessin wiederbelebt, Freudevibes verstrahlt, mission accomplished: Farbinfusionen in Augen versprüht, die sich sonst an dezent hätten sattsehen müssen. Als sie verdutztem Servicepersonal lottogewinnähnliche Trinkgelder verehrt, zieht ihr Glückstag Kreise. Sie sagt Umstehenden und sich selbst vor: du kannst anziehen, was du willst! und lässt Kleidung und Haartracht bei der friedlichen Revolution aushelfen. Schnallt sich Gummistiefel an die Fersen und muss selbst Pfützen nicht mehr ausweichen! Wer das falsche Trikot trägt wird angegriffen? Das SportUniversum weiß, dass Völkerverständigung am Rande der Fankurve beginnt. Als korrekter Klon im Einheitsbrei verschwimmen ist EnergiesparModus, IndividuumBleiben kann anstrengend sein. Sie dribbelt tapfer weiter, entwischt der Gleichschaltung und fragt Aristoteles. Der wusste schon vor tausenden von Jahren, wie sich Kritik vermeiden lässt: Sag nichts, tu nichts, sei nichts. Laotse formulierte es so: Solange du dich darum sorgst, was andere von dir denken, wirst du ihr Gefangener sein. Version Jahrtausend 3.0: If you don’t build your dreams, someone else will hire you to build theirs.

Vorschrifts- und Warnschilder sind oft in Blicke gemeißelt, in Stirnfalten gegraben und von bekümmerten Blicken durchtränkt. Das kannst du mir nicht antun. Sowas tut man nicht. Das war schon immer so. Das ist doch nicht zu viel verlangt! So etwas tut man nicht, aber sie probiert es jetzt einfach mal. Das wurde schon immer so gemacht? Dann wird es höchste Zeit für Anders! Auf welcher Basis sollen wir dann noch diskutieren? Der kleine Konsensus möchte aus dem gemeinsamen Nenner abgeholt werden, da wird es ihm zu eng. Er möchte durchgerüttelt werden und angestupst und durch die Luft geschwenkt, dann kann er ins Wanken geraten, dann wird alles so schön bunt hier und aufgelockert! Dann wird die Weltkarte zu klein und die was werden Eltern/Freunde/Nachbarskindeskinder sagen? Bremse greift nicht mehr, der Schwung kommt in die Bude, steigt ausholenden Schrittes hoch bis in Gesichter und zieht Lippen in die Breite. Verleitet zum Spähen, vielleicht ist das Gras außerhalb des Freigeheges doch grüner? Dann wird improvisiert, in die Tasten gehauen, dass es einen Sinn ergibt, nicht länger ImKreisHerum marschiert, sondern drauflos galoppiert soweit die Visionen tragen, hoch hinaus! Zwischenschritte überspringen, mittenhinein in den Superlativ und ohne Fußnoten oder Bausparvertrag so oft am RichtigUndPerfekt vorbeischrammen bis die Kratzer abstrakte Kunst ergeben.

WeltenBereisen, die Kündigung einreichen, Ernst machen, ohne sich auf Regelbüchern oder meinen Segen hast du abzustützen, kostet Zutrauen. Jedes Weitermachen, immer wieder Anlauf nehmen und Durchziehen erfordert LangMut. Sie packt die Anarchiekiste aus und beschriftet: 1. Avoid alliteration at all costs. 2. KEINE GROßBUCHSTABEN 3. Eine Taube auf dem Dach ist besser als der Spatz in der Hand 4. Das Leben ist ein Wunschkonzert 5. Auch ohne Fleiß ein Eis 6. Natürlich bin ich eine TraumFrau (m/w), ich erinnere mich nur nicht jeden Morgen daran 7. Gelebte Intention ist friedliche Revolution! Dann legt sie den Nikolausbrief hinein: Lieber Santa, ich war nicht wirklich brav, aber es hat Spaß gemacht! Geschenke besorge ich selbst, no worries. Liebe Grüße!

Sie unterwirft sich keinen VerhaltensVerordnungen mehr, geschriebenen oder ungeschriebenen: Wenn sie der Tod eines geliebten Menschen nicht fast umbringt, wenn sie sich um andere nicht permanent ‚sorgt‘, ‚liebt‘ sie nicht? Nur eine ‚gute Ausbildung‘ bringt einen ‚guten Job‘ ist gleich Geld ist gleich Glück ist gleich Liebe und Freiheit? Massenkonsum schafft Arbeitsplätze, wir leben in einer Demokratie, viele Waffen bringen viel Frieden und Sicherheit? Amen, Ende der Durchsage? Wohin wächst es denn, das Wirtschaftswachstum? Wie schaut echtes Wachstum aus?

Sie sagt nicht Bescheid, taucht unter und wieder auf beim Überraschungsbesuch. Danach weiter zum Turnen, sie übt AusderReihetanzen: trinkt Kaffee mit dem Strohhalm obwohl kein Eis drin ist und das Bier aus der Tasse, die Salatsoße kippt sie über den Reis. In Fachkreisen werden solche und ähnliche ungewöhnliche Verhaltensweisen als eine Unterart der Eigeninitiative gehandelt. Im nächsten Schritt ersetzt sie die hohlen Fragen der BekleidungsPolizei – trägt man das jetzt so? macht das dick? – durch faszinierendere: Lasse ich mir ein Format überstülpen? Engt mich das ein? In welcher Schablone sitze ich fest? Sie entlässt die Hauptverdächtigen Schokolade, Eis und Chips aus der Verantwortung, weil sie herausgefunden hat, was dick macht: Kinder kriegen und die Beleuchtung in Umkleidekabinen! Sie haut auf die Pauke und dann auf den Putz und nimmt sich die Zeit, das WastragenWannWachpersonal aufzuklären, dass dick ein Synonym für voll schlank! ist. Verabschiedet sich vom Gewicht aus GelangweiltGründen, nimmt ihren rechtmäßigen Platz ein und stellt sich weit über jede Skala. Sie überhört den letzten Schrei und trägt in aller Seelenruhe ihre LieblingsHose, die schon immer out war, also zeitlos, vintage! Trägt den Weihnachtspulli an Ostern, outet sich als bekennende Freundin des schlechten Geschmacks und singt, grundlos. Wählt die unpassendste Tasche, feiert die glorreiche Verrücktheit zu hoher Absätze und stakst los, als Unikat. Wacklig, klackernd, dem Glück entgegen, das eventuell sogar böse enden wird, wenn alles gut geht!

Kleidung zeigt ihr in Jahresringen die Kreise auf, die sie geflogen ist. Von der Studentin zur Geschäftsfrau, bis die business lady sich Künstlerschals um den Hals drapiert und buntflatternd den Weg zum Bahnhof antritt. Bis die Künstlerin nicht mehr ohne die Handtasche der anderen aus dem Haus geht, bis knallige Kostümchen Professionalität und Kreativtiät vermengen.

Kleidung ist Verkleidung, Fest der Identitäten, sie streift mit wechselnden Rüstungen neuentdeckte Persönlichkeiten über. Zieht Cowboystiefel die Beine hinauf und treibt Staubwolken vor sich her während sie Kinderwägen durch Pfützen bugsiert. Galloppiert ohne Sattel auf dem Rücken der Gehwege entlang, high heels at high noon schwingen Hüften und bringen die Metamorphose zustande: eben noch Muttertier, jetzt Vamp, das neue Kostüm passt. Haare hochgezurrt, vereinzelte Strähnen baumeln der Freiheit entgegen. Sie setzt ein Lächeln auf wie einen zu großen Hut und blinzelt darunter hervor. Schaltet um von verschmitzt auf geheimnisvoll, im richtigen Moment. Stapft los, in ihre Welt hinein, die an der U-Bahn anfängt und an der Nachbargalaxie noch lange nicht aufhört.

Aufschwingen, aus dem Sattel heben. Stehend über Wurzeln und Steine, holperndes Rasen. In den Wind lehnen auf ihrem Stahlross, Rappen-Schimmel, Vollblut.

Steigen Sie an allen Türen zu, gehen Sie im Wageninneren durch und versperren Sie nicht den Einstieg? Sie weiß, wie der Hase läuft und geht in die Gegenrichtung, immer der Nase nach, am unbeabsichtigten Ende warten die Annalen. Sie wirft den Angelhaken aus, in hohem Bogen, selbst auf die Gefahr hin, dass er sich verheddert, reißt, in Untiefen verleitet. Sie fischt nach Ideen und zieht einen zerfledderten Schuh aus dem Wasser – der hat ihr gerade noch gefehlt! Sie baut ihr eigenes Floß und schippert in selbstgewähltem Tempo einem LebensStandard davon, der mit ihrem Glücksquotienten nicht kompatibel ist.

Es ist an der Zeit, zwei alte Bekannte zu verabschieden: die Diffuse-Scham und das SchlechteGewissen dürfen sie keinen Tag länger in Grund und Boden kritisieren, sie müssen anderswo mäkeln gehen. Du konsumierst zu viel. Du konsumierst falsch. Du konsumierst zu wenig, wir können doch das Bruttobrutalprodukt nicht hängen lassen! Du wirfst zu viel weg. Du wirfst zu wenig weg. – Winkewinke! Sie reduziert den heimlichen Verdacht, dass etwas mit ihr nicht stimmt, dass etwas repariert werden muss, zum faux pas, kann passieren und tschüss. Warum sich selbst beschimpfen, wenn andere Autofahrer das viel besser können?

Revolutionsvorschlag: Rien de rien, je ne regrette rien!

Als Neuzugang auf den britischen Inseln feiert sie die Feste gemäß heimischer Sitten und Gebräuche. Christmas ist ein anderes Wort für Party, ein willkommener Anlass für den liquid lunch, alkoholische Flüssignahrung als Mittagsmahl. Besinnliches KerzenAngezünde mit Tannenzweigdeko hat keinen Platz im englischen Weihnachtskonzept. Die Vorstellung, einen Baum mit Liedern anzusingen, ruft erstauntes Lächeln hervor. Jenseits des Kanals werden die Girlanden bereits Anfang Dezember ausgemottet, Baum gerne aus Plastik, Hauptsache bunt. Weihnachtsrummel auf British geht wie Fasching in deutschen Landen, keine Spur von AdventAdventein-Lichtleinbrennt, die Papphüte ein Kulturschock! Gebundene holly als entfernte Verwandte des Adventskranzes wird nicht bekerzt auf Tischen platziert, sondern an die Eingangstür gehängt. Weihnachtskarten in ungeahnten Stückzahlen sind Bestandteil der Dekoration, trophäenartig aufgereiht oder an durchs Zimmer gespannte Schnüre gepinnt, je mehr desto besser. Boten aus aller Welt we’re thinking of you!

Die, die nie ausgezogen sind, um bei den Klischees zu Hause vorbeizuschauen und sie auf ihren Wahrheitsgehalt abzuklopfen, wissen Bescheid. Laut der ZurückGebliebenen ist die Insel eine Nebelsuppe im Dauerregen. Sie vermeldet Niederschlagsmengen wie zu Hause, den oft beschworenen fog erlebt sie selten. Und doch ist er anders, der fremde Regen, der Himmel immer irgendwo blau. Every cloud has a silver lining. Das Wetter schlägt um von einem AugenBlick zum anderen, Wolkenkino, blaugrauweißes Farbenspiel. Die gräßliche englische Küche entpuppt sich als Köstliches aus aller Welt, sobald dazugehörige Viertel ausfindig gemacht sind. Kaffebars manövrieren die tea time ins Abseits, das globale Dorf mit seinen Ketten ist auch in abgelegene high streets vorgerückt. Als Lebkuchen und Bratwürstchen in Supermärkte einziehen, kann sie sich ein vermisstes Stück Heimat einverleiben, beglückt die Lippen lecken und weiter wegbleiben.

 

Vertickende Jahre sind Verbündete beim SichAussöhnen, gestatten ein Stolzsein darauf, was sie hinter sich gelassen hat und dadurch geworden ist. We are what we have lost. Unbeschilderte Wege entlang, mit Leib und Seele in die schillernde Pracht eines LebensMosaiks: Erwachsen, Kind, JugendlicheTanteTote? Sie fügt sich in erwartungsvoller Neugier in jede Inkarnation ein, packt viele Leben in das eine, die Sammlung wächst.

Sie hängt eine neue Maske dazu, die Schreibende ist gerade fertig geworden. Die Ausgewandert- ist zur BewandertMaske gereift, die Mädchenmaske zur Unkenntlichkeit verwittert, die Frauenmaske von feinen Linien durchzogen. Die Künstlermaske sieht mitgenommen aus, in Auflösung begriffen. Tochter- und Muttermaske sind mit dem Gesicht verwachsen.

Unwiderbringliche, nicht-existente, oh du liebe Zeit!