Die Bibliothek des Kurfürsten

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Der Spanier stutzte, fuhr sich hastig über den gepflegten Bart und nickte. »Gott zum Gruß. Herr Kommandant, ich bin verzweifelt.«

Maxilius wartete, bis der Lakai die Türflügel von außen geschlossen hatte, ehe er bedeutsam die brokatbespannten Sessel fixierte.

Rodriguez’ bleiche Wangen verfärbten sich. »Bitte, nehmt Platz, wollt Ihr …«

»Danke, nichts. Ihr habt bereits mehrfach bei mir vorgesprochen. Was kann ich für Euch tun?«

»Habt Ihr mein Haus nicht gesehen?«, ereiferte sich der Spanier. Er schien schon wieder kurz davor aufzuspringen, beherrschte sich aber. Seine Hände flatterten.

Maxilius’ Mundwinkel hoben sich. »Das habe ich, und ich vermute, dass es sich um gute deutsche Scheiße handelt.« Der Spanier öffnete den Mund, aber Maxilius ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Das ist bedauerlich, Ihr müsst allerdings bedenken, dass Ihr ein Katholik in einer protestantischen Stadt seid. Wenn Ihr nichts weiter vorzubringen habt …«

»Mein Leben wird bedroht. Ich wage mich nicht mehr aus dem Haus.«

»Das ist klug«, warf Maxilius trocken ein. »Bedauerlich, aber klug.«

»Aber … Ihr habt mir Schutz zugesichert, damals, als …« Als dein König dich im Stich gelassen hat, vervollständigte Maxilius im Geiste. »Ich sehe ihn nicht, diesen Schutz.«

Maxilius schlug die Beine übereinander. »Ihr seid am Leben. Ihr seid unverletzt. Lasst mich Euch eine andere Frage stellen: Warum seid Ihr noch hier?«

»Weil mein König es so wünscht.«

Maxilius beugte sich vor. »Und warum?«

Der Spanier presste sich in seinen Stuhl. Seine unruhigen Finger krampften sich um die Armlehnen. »Ihr werdet verstehen, wenn ich Euch darüber keine detaillierten Auskünfte geben kann. Ich rechne jedoch täglich mit einem Boten.« Er brach ab und blickte Maxilius aus geweiteten Augen an. »Was habt Ihr?«

»Sprecht ruhig weiter«, forderte der Stadtkommandant beinahe sanft. »Ihr erwartet einen Boten, der …«

»Mich abberufen soll. Weg aus diesem … Land.«

»War er schon da, dieser Bote?«

»Nein.«

»Nein. Wie bedauerlich. Wisst Ihr, dass ein junger Mann gestorben ist? Ein Bote?«

Jetzt sprang Rodriguez doch auf. Mit hastigen Schritten lief er an der hohen Fensterfront auf und ab. »Sind das Eure Soldaten?«

»Offensichtlich. Ihr wolltet Schutz. Da ist Schutz.«

Rodriguez schnellte herum. »Bin ich ein Gefangener?«

Maxilius hob beide Hände. »Wie kommt Ihr auf den Gedanken? Herr Gesandter, wer soll Euch schützen, wenn nicht meine Soldaten?«

»Und der Tote? Was hat es mit ihm auf sich?«

»Ein junger Mann namens Kuno.« Maxilius fixierte den Spanier starr.

Auf dessen Wangen brannten nun rote Flecken. »Kuno ist kein spanischer Name. Und er ist tot? Wie?«

»Ihm wurde die Kehle durchgeschnitten, dann wurde sein Gesicht durch Schläge unkenntlich gemacht.«

»Madre de Dios! Wieso denkt Ihr, dass er von meinem Herrn geschickt wurde?«

»Das denke ich nicht. Ihr sagtet, dass Ihr einen Boten erwartet. Wer arbeitet für Euch?«

»Mein Majordomus und vier Diener. Außerdem das Küchenpersonal.« Wenn der abrupte Themenwechsel ihn irritierte, ließ er es sich nicht anmerken. »Einer wurde auf dem Weg zum Markt zusammengeschlagen.«

»Von wem?«

Rodriguez hob die Schultern. »Männern. Euren Männern. Protestantischen Männern. Sie sind die Mörder. Nicht ich. Wieso fragt Ihr mich nach einem Toten? Verdächtigt Ihr mich und meine Leute? Stehen die Soldaten deswegen vor meiner Tür?« Das schöne Gesicht war beinahe hässlich in seiner Erregung.

Maxilius musterte es kalt. »Ihr wirkt sehr nervös.«

»Natürlich wirke ich nervös!«, rief Rodriguez schrill. »Ich fürchte mich.«

»Dann helft mir, Euch zu schützen. Wer hat Euren Diener angegriffen?«

»Vier oder fünf Männer. Sehr jung, hat mein Diener gesagt. Bauern vielleicht.«

Maxilius wölbte skeptisch die Braue, er vermutete, dass für den Spanier jeder einfache Mann ein Bauer war. »Ich werde mich darum kümmern«, versprach er. »Und meine Soldaten werden Euer Haus im Auge behalten.«

»Aber … das ist nicht nötig. Nicht immer, meine ich. Nur …«

Maxilius lächelte breit. »Bitte, wir Protestanten sind gute Gastgeber. Und Euer König soll nicht sagen, dass wir seinen Gesandten nicht beschützt haben. Gibt es noch etwas?«

»Nein.«

Maxilius erhob sich, doch ein Einfall ließ ihn innehalten. »Sagt Euch der Name Jakob Liebig etwas?«

»Nicht, dass ich wüsste«, antwortete Rodriguez prompt. »Ist er auch tot?«

Maxilius seufzte. »Nein, der nicht.«

Rodriguez betrachtete angestrengt seine linke Hand, an der mehrere kostbare Ringe funkelten. »Herr Stadtkommandant«, begann er langsam, »eine Sache gibt es doch noch. Ich bin Katholik, die Leute misstrauen mir. Wenn ich abreise, werde ich viel Gepäck zu transportieren haben. Ich werde Leute brauchen, Kisten, Pferde …«

»Ja?«

»Könnt Ihr mir Namen nennen? Männer, die für gutes Geld gute Arbeit leisten? Einen Zimmermann vielleicht, der auch für einen Katholiken tätig wird?« Er drehte wie zufällig einen schweren Goldring an seinem mädchenhaft schmalen Finger.

Maxilius lächelte verächtlich. »Ich denke, Geld regiert auch in unruhigen Zeiten die Welt. Ihr werdet schon jemanden finden.«

»Ja, Herr Kommandant. Danke. Luis …«

Der junge Majordomus erschien mit der Lautlosigkeit, die Maxilius an höfischen Lakaien noch nie hatte leiden können. »Begleite den Herrn Stadtkommandanten nach draußen.«

»Ja, Herr.«

Auf der Straße ging Laurenz dem Major entgegen und wartete respektvoll, ob sein Vorgesetzter ihn ins Vertrauen ziehen würde. Maxilius betrachtete erst zufrieden die Menschentraube, die herauszufinden versuchte, was die Soldaten von dem Katholiken wollten, ehe er sich dem Hauptmann zuwandte. Der junge Mann hatte ein offenes Gesicht, das Maxilius vom ersten Augenblick an angenehm gewesen war. Er arbeitete zuverlässig und hart. »Zwei Männer bleiben hier als … Schutz.«

Laurenz grinste. »Wir schützen den Herrn vor unbedachten Handlungen?«

»So ähnlich. Vielleicht finden wir heraus, warum er überhaupt noch hier ist. Als er von der dauerhaften Leibwache erfuhr, war er gar nicht mehr so erpicht auf Schutz.«

»Denkt Ihr …«, Maxilius bedeutete dem jungen Offizier, weiterzusprechen, »… dass er etwas mit dem Toten zu tun hat? Oder mit dem Schreiber?«

Maxilius zuckte die Achseln »Wenn ich das wüsste! Ich bin sicher, dass er lügt, aber ich weiß nicht, wobei. Gott verdamme alle Politiker!«

IV

Die Presse quietschte vor Überanstrengung, als die hölzerne Platte zum letzten Mal von den Lettern gehoben wurde. Vorsichtig löste Ludwig das feuchte Blatt ab und legte es zum Trocknen auf den Fußboden. Er stemmte die Fäuste ins Kreuz und bog den Rücken durch. Sein Gefährte reckte die Arme, um die verkrampften Muskeln zu lockern.

»Fünfhundert Seiten«, ächzte er. Auf seinen Lippen lag ein stolzes Grinsen. Die beiden Laternen, die unter der Decke hingen, beleuchteten die verschwitzten, mit Druckerschwärze beschmierten Gesichter der jungen Männer.

Ludwig strahlte. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, sodass ein weiterer klebriger Streifen erschien.

Albert lachte. »Du bist spät gekommen, aber du hast gut gearbeitet! Und dein Holzschnitt ist noch besser als der letzte. Jetzt brauchen wir noch Thomas. Wo ist er eigentlich?«

»Woher soll ich das wissen? Er ist dein Bruder.«

»Leider.« Albert schichtete die trockenen Flugschriften auf einen Stapel. »Wirklich gut. Aber du siehst schlecht aus. He, das würde ich lassen.« Ludwig hatte sich heftig die Augen gerieben. »Wasch dich, bevor du rausgehst.« Er selbst ging zu einer Schüssel, die in einer Ecke stand, und schrubbte Arme und Gesicht. Dann ließ er sich auf einen Hocker fallen und legte die Beine auf einen zweiten. Er gähnte. »Warum bist du eigentlich erst jetzt gekommen? Ich hab fast die ganze Arbeit allein gemacht.«

»Es ging nicht früher. Der Meister ist nicht zum Abendbrot gekommen und die Meisterin hat mich sprechen wollen.«

»Was hat die Alte denn gewollt?«

Das Strahlen verblasste. »Nenn Frau Abele nicht so! Sie hätte mich ganz anders rannehmen können. Ich hab in letzter Zeit wirklich Mist gebaut.« Er folgte Alberts Beispiel und wusch sich über den Waschzuber gebeugt.

»Hier darfst du dir das nicht leisten. Das ist dir hoffentlich klar.«

Ludwig nickte und gähnte ebenfalls. »Ich schlafe einfach im Stehen«, witzelte er.

Albert schwang die Beine vom Hocker, ging zu einem Schrank und schenkte Ludwig einen Becher Bier ein. »Solange niemand mitkriegt, was wir hier machen. Du musst vorsichtig sein! Es ist eine Schande, dass andere Druckerpressen ganz legal arbeiten dürfen.«

»Der Stadtkommandant will es eben nicht!«

»Der Feigling!«

»Die Meisterin sagt, dass er viel für Heidelberg tut!« Ludwig versuchte, empört zu klingen, aber seine Worte gingen in einem erneuten Gähnen unter.

Albert schenkte sich selbst ein. »Auf die fünfhundert!«

Er hielt den Krug einladend hoch und Ludwig streckte ihm wider besseres Wissen den Becher hin. Der Alkohol schoss ihm mit Macht in den Kopf. Wenigstens betäubte er das schlechte Gewissen. Nicht nur, dass er sich aus seiner Kammer, die er mit dem anderen Lehrling teilte, weggestohlen hatte, er hatte die Abwesenheit des Meisters genutzt, um sich mit einer Lüge vom Abendbrottisch zu entfernen. Ludwig stellte den Becher neben die Flugschriften. Das schlechte Gewissen wandelte sich in pure Freude, als er seine eigene Zeichnung vielfach gedruckt auf Papier sah. »Findest du die wirklich gut?«

 

»Sonst hätte ich dich nicht gefragt, ob du dabei sein willst. Aber Ludwig, das hier ist kein Kinderspiel.«

Etwas unsicher wandte Ludwig ein: »Die Meisterin sagt, dass diese Schriften Hass schüren.«

Mit einem Satz war Albert bei seinem Freund und packte ihn an den Oberarmen. »Hast du etwa mit ihr darüber gesprochen, du Narr?«

»Sie kannte diese Schrift. Das hat nichts mit mir zu tun!«, log Ludwig. »Und sie hat gesagt, dass Hass falsch ist. Wer schreibt diese Texte eigentlich?«

»Das geht dich gar nichts an. Wir waren uns doch einig, dass du keine Fragen stellst. Zeichne deine kleinen Ungeheuer und halt den Mund. Klar?«

Kleinlaut nickte Ludwig. Dann hellte sein Gesicht sich auf. Er zog ein Stück Papier aus seinem Hemd und hielt es seinem Freund schüchtern hin. »Schau her. Die Idee ist mir gekommen, als … egal.« Plötzlich kam es Ludwig falsch vor, Albert von dem Katholiken im Haus seiner Meisterin zu erzählen. Er durchforschte die Züge seines Freundes gespannt.

Der schlug ihm auf die Schulter. »Genial! Das katholische Ungeheuer bricht in protestantische Häuser ein. Das ist gut. Wirklich gut. Mach noch eins über den Spanier. Der sitzt hier schon zu lange wie die Made im Speck, sagt Hans.«

Ludwig nickte eifrig.

»Wenn man vom Teufel spricht …« Rasch räumte Albert den Bierkrug und die Becher in den Schrank.

Die Tür wurde geöffnet. Die Lampen flackerten, und die Schwärze draußen erinnerte Ludwig daran, dass er sich längst auf den Heimweg hätte machen müssen.

Ein hünenhafter Mann zerrte einen Jungen hinter sich her und stieß ihn, kaum dass sie drinnen waren, auf die beiden zu. »Passt auf den Balg besser auf. Der bringt uns noch in Schwierigkeiten.«

Thomas strauchelte und prallte gegen die Presse.

Ludwig und Albert stürzten gleichzeitig auf die Flugschriften zu. Im Vorbeigehen versetzte Albert dem Jungen eine Kopfnuss. »Was hast du jetzt wieder angestellt?«

»Ich kämpfe für die protestantische Sache!«, krähte der Junge und funkelte seinen Bruder trotzig an. Gleichzeitig riss er die Arme hoch, als sowohl Albert als auch der Mann namens Hans auf ihn losgingen.

»Pass auf den kleinen Spinner auf!«, wiederholte der Hüne wütend. »Das ist hier ernst und ich bin kein Kindermädchen. Er soll die Flugblätter verteilen und sonst nichts.«

»Neulich habe ich dem Stadtkommandanten gesagt, dass …« Thomas brach ab, als eine Maulschelle ihn quer durch den Raum stolpern ließ.

»Bist du wahnsinnig?«, donnerte Hans. »Der Stadtkommandant ist der Letzte, den wir auf den Fersen haben wollen. Noch nicht! Habt ihr es wenigstens geschafft?«

»Alle fünfhundert Bogen!«

Hans betrachtete das oberste Blatt. Er bleckte die Zähne. »Gut. Du bekommst dein Geld.«

Ludwig vernahm den Seufzer der Erleichterung seines Freundes. Schuldbewusst fragte er sich, ob er seinen Anteil an dem Verdienst Albert geben sollte. Er selbst hatte keinerlei Geldsorgen, sein Vater war wohlhabend, während Alberts verwitwete Mutter oft genug Not litt. Aber Albert war stolz.

»Wann bekommen wir unser Geld?«

Hans langte in seine Hosentasche und warf Albert einen klimpernden Beutel zu. »Da. Morgen in aller Frühe bringst du«, er zeigte auf Thomas, »die Schriften unter die Leute!«

Der Kleine nickte, kam aber nicht näher. Seine Wange glühte in feurigem Rot.

»Sieh mich an, wenn ich mit dir rede!«, herrschte Hans ihn an. »Und mach es gut. Diese Botschaft muss unter das Volk. Das Blutgericht von Prag darf sich nicht wiederholen.«

»Das was?«, raunte Ludwig Albert zu, aber der machte nur eine ungeduldige Bewegung. »Thomas wird den Herrn nicht enttäuschen«, versprach er.

Hans knurrte. »Du bist ein guter Calvinist. Ihr hört von mir. Und jetzt raus mit euch!«

Die drei beeilten sich, dem Befehl zu folgen. Albert und Ludwig zogen ihre Mäntel an und schlugen den Kragen hoch. Das Haus stand abgelegen in der Nähe der südlichen Stadtmauer im Schutz einiger verwahrloster Obstbäume, und sie gaben sich keine Mühe, leise zu sprechen. Im Gehen drehte Ludwig sich noch einmal um. Mit den geschlossenen Fensterläden war das einstöckige Gebäude kaum mehr als ein Schattenriss. Das Dach glänzte im Mondlicht. Ludwig hätte das Spiel von Licht und Dunkelheit gern gezeichnet, und ein paar Herzschläge stand er reglos da, bis Albert ihn in die Seite boxte.

»Träumst du schon wieder?«

Mit einem verlegenen Lachen drehte Ludwig sich um, aber Albert unterzog bereits seinen kleinen Bruder einem Verhör.

»Was habt ihr angestellt, du und deine nichtsnutzigen Freunde?«

»Wir waren bei seinem …«, er deutete auf Ludwig, »Haus. Wir haben Steine geschmissen. Dann ist so ein großer Kerl mit einem komischen Akzent aufgetaucht und Hans hat ihn niedergeschlagen. Und der Katholik, der da wohnt …«

»Ich muss nach Hause«, stieß Ludwig hervor. »Bis bald.« Er lief los, ehe Albert ihn zur Rede stellen konnte, doch nach ein paar Schritten fiel ihm ein, dass er seine Kappe neben der Druckerpresse vergessen hatte. Er war todmüde, aber Albert hatte ihm eingeschärft, dass sie nicht entdeckt werden durften. Außerdem mochte er die Kappe. Seufzend kehrte er um. Die Schritte seiner beiden Gefährten waren verhallt. Die Stadt hinter ihm war in schwärzeste Finsternis gehüllt. Ludwig wurde bewusst, dass er ganz allein war.

»Sei kein Feigling«, befahl er sich. Er war in der Vorstadt aufgewachsen und fand sich im Dunkeln zurecht. Und dieser Hans würde ihm schon nicht den Kopf abreißen, auch wenn der finstere Mann mit den verwegenen Narben im Gesicht ihm einen heimlichen Schauer über den Rücken jagte. Ein Windlicht tanzte zwischen den Bäumen und eine Gestalt näherte sich dem Haus. Ludwig wich zurück. Stiefelsohlen knirschten; das Licht schwebte höher, etwa auf Augenhöhe eines großen Mannes. Dann durchschnitt ein Geräusch die Stille. Es war nicht wirklich ein Klopfen, eher ein Tritt, zwei Tritte, drei. Die Tür wurde geöffnet. Ein schmaler Lichtstreifen fiel auf den Weg. Ludwig erkannte Hans und einen großen Mann in einem weiten Umhang. Hans packte den Neuankömmling freundschaftlich an der Schulter, die Tür wurde geschlossen. Ludwig verharrte einen Moment, dann machte er kehrt und rannte nach Hause, ohne innezuhalten.

Ein Schatten fiel über Matthias’ Tisch. Etwas glasig schaute er auf. Vor ihm stand Rudolf Mohr, Bierbrauermeister und Wirt des Gasthauses »Zum Mohren«, und stellte ihm einen Humpen hin.

»Auf Euer Wohl, Meister Abele. Der geht aufs Haus. Darf ich mich zu Euch setzen?«

»Natürlich. Gerne.« Matthias leerte seinen Becher und zog den frischen näher. Heute Nacht würde er schnarchen. Sophie würde nicht begeistert sein. Aber ein Mann musste doch auch feiern dürfen.

Rudolf setzte sich auf den Hocker Matthias gegenüber. »Ihr wart selten hier in letzter Zeit. Daher wollte ich die Gelegenheit nutzen und fragen, wie sich mein Sohn anstellt.«

Matthias brauchte ein paar Sekunden, um sich zu erinnern, wovon Rudolf Mohr sprach. Der wohlbeleibte Mann mit den drahtigen grau-blonden Haaren war nicht nur Zunftmeister und ein wichtiger Mann in Heidelberg, sondern auch der Vater seines missratenen Lehrlings Ludwig. Sein Lächeln geriet etwas angestrengt. »Er leistet … recht gute Arbeit. Ein paar Flausen hat er im Kopf, aber er ist noch jung.«

»Ihr meint das vermaledeite Gekritzel?«, fiel Rudolf ihm erbost ins Wort. »Ja, ich weiß. Arbeitet er wenigstens gut?« Als Matthias nickte, seufzte Mohr erleichtert. »Ihr nehmt mir eine Last von der Seele.«

Auch Matthias seufzte, als er an das verbrannte Backwerk der letzten Tage und Wochen dachte. Aber gerade jetzt brauchte er einflussreiche Freunde, und wenn er dem Rat wirklich finanziell unter die Arme griff, würde ein Blech Brötchen seine geringste Belastung darstellen.

»Ja, er ist tüchtig.« Matthias streckte den Arm nach seinem Krug aus. »Sagt einmal, bei Euch verkehren doch auch die Räte, oder nicht?«

Mohr grinste schlau. »Tun sie. Erst gestern war Hirsch wieder hier.« Sein Blick forderte Matthias heraus.

Der hätte gerne gewusst, welche Gerüchte in Heidelberg die Runde machten. »Denkt Ihr, er hat nach de Bonnevilles Tod Chancen, in den Oberen Rat berufen zu werden?«, fragte er möglichst unbefangen.

Rudolf warf den Kopf zurück und lachte dröhnend. »Und ist es wahr, dass Ihr hofft, seine Stelle einzunehmen?«

Matthias fühlte, wie sein Gesicht heiß wurde. Er wartete, bis der Heiterkeitsausbruch des Braumeisters sich gelegt hatte. »Ich …«

Ein Schlag auf die Schulter ließ ihn verstummen. »Schon gut, Meister Abele. Ihr seid ein guter Christ und ein vernünftiger Mann mit einer guten Frau. Habt Ihr ein Auge auf meinen Jüngsten, dann werde ich Eure Ansprüche gerne unterstützen. Haben wir uns verstanden?«

Matthias nickte langsam. »Das haben wir.«

»Das dachte ich mir«, wieder klopfte Mohr seinem Gast derb auf den Rücken. »Ihr seid mir immer willkommener.«

»Darauf werde ich gerne zurückkommen.« Ohne genau zu wissen, warum, fühlte Matthias sich unbehaglich. »Wie spät ist es eigentlich? Ich habe ganz die Zeit vergessen. Es war ein langer Tag.«

»Die achte Stunde ist ein Weilchen vorbei.«

Matthias schoss in die Höhe. »Himmelherrgott, ich muss los. Meine Frau wird mir die Hölle heiß machen!«

Rudolf schmunzelte verständnisvoll, reichte Matthias die Hand und schüttelte sie kräftig. Wieder hatte Matthias das Gefühl, einen Pakt abgeschlossen zu haben. Er wusste nur nicht recht, welchen.

Er schob die Hände in die Taschen seines Mantels, senkte den Kopf gegen die Kälte und schritt entschlossen aus. Der Weg durch die Vorstadt zog sich. Das Bier rumorte in seinem Schädel, ebenso wie die Gedanken, die sich nicht abstellen ließen. Dann fing auch noch sein Magen an zu knurren. Beschämt dachte er an das versäumte Nachtmahl. Sophie würde ihm keine Vorwürfe machen, und dieser Gedanke war plötzlich schlimmer als alles andere. Wie oft hatte er sich am Anfang seiner Ehe eine stille, fügsame Ehefrau gewünscht. Jetzt war Sophie auf dem besten Weg, eine zu werden, und es drückte ihm das Herz ab. Als er vor seinem Haus stand, sah er sofort den schwachen Kerzenschimmer im oberen Stockwerk.

»Sophie«, schwor er sich, »ich mache alles wieder gut. Ich sorge dafür, dass du wieder lachst!« Während er ungeschickt nach seinem Hausschlüssel tastete, überlegte er, warum in zwei Zimmern Licht brannte. Doch als sein benebeltes Gehirn die Wärme des Hausflurs wahrnahm, vergaß er das Aufblitzen von Verwunderung.

»Ich bin zu Hause!«, rief er. Seine Stimme hallte durch den engen Flur. Sofort kam Martha, um ihm den Mantel abzunehmen. Nicht zum ersten Mal fragte sich Matthias, ob die alte Magd ihn eigentlich leiden konnte. Er reichte ihr den Hut und kämpfte mit den Ärmeln.

»Bring mir etwas zu essen«, befahl er. »Ist meine Frau noch wach?«

»Sie hat auf Euch gewartet. Allerdings nicht mit dem Essen.«

Matthias biss die Zähne zusammen. Wortlos wandte er sich der Treppe zu, da hörte er das Quietschen der dritten Stufe. Durch die dunklen Streben des Geländers blinkte die Flamme einer Kerze.

»Matthias«, erklang eine leise Stimme.

Er nahm zwei Stufen auf einmal, breitete die Arme aus und umarmte Sophie fest.

»Matthias«, wiederholte sie und verstummte unter seinem Kuss. Als er sie endlich freigab, sah er beglückt, dass ihre Augen im Kerzenlicht strahlten. Mit einem verschämten Lächeln bemerkte sie: »Was sollen die Leute denken?«

»Auf meiner Treppe? Wenig. Und du bist meine Frau, da ist es kaum eine Sünde …« Das Funkeln erlosch. Matthias verfluchte sich bitterlich. Das Kreuz auf ihrer Brust schien ihn anzuklagen. Sanft ergriff er ihre Hand und führte sie nach oben, aber er fühlte, dass ihre Gedanken nicht mehr bei seinem Kuss weilten.

»Matthias«, begann sie, »du solltest etwas wissen.«

Er hasste diese neue Zaghaftigkeit. »Was, mein Liebes?«, erkundigte er sich betont munter.

Sie antwortete nicht, sondern ging zögerlich zum Ende des Flures. Unwillkürlich musste Matthias an das zweite Licht denken. Fragend sah er sie an, doch sie wich ihm aus und klopfte.

»Ja bitte?«

Matthias’ Unterkiefer klappte herunter. »Ist das etwa … Jakob?«

Die Tür wurde geöffnet. Ärger, Verwirrung, Überraschung überfluteten Matthias in einer jähen Woge – und dann warf er den Kopf zurück und fing an, schallend zu lachen. Er konnte nicht anders. Da stand er, schaute in das verdutzte Gesicht eines alten Jugendfreundes und -feindes und lachte aus vollem Hals. Als der Sturm der Heiterkeit sich endlich gelegt hatte, wischte er sich die Tränen ab und brachte hervor: »Komm ins Esszimmer. Und du, Schatz, überzeug Martha bitte, dass sie mir etwas zu essen bringt. Ich habe einen Bärenhunger.«

 

Wenig später saß die seltsame Runde um den dunklen Eichentisch im Wohnzimmer. Matthias trug noch seine Straßenkleidung, Sophie ein strenges, schwarzes Kleid, und Jakob hatte hastig eine Jacke über sein Hemd geworfen. Seine Finger spielten mit dem Stiel eines Weinglases, das Martha ihm hingestellt hatte.

Matthias verschlang mit großen Bissen kalten Braten. »Da bist du also wieder«, stellte er endlich fest und schluckte einen Brocken seines eigenen Brotes. Es war gut, wie er zufrieden feststellte. Seine Gedanken schweiften flüchtig zu Ludwig und zurück zu der absurden Situation, in der er sich gerade befand. »Bringt es etwas, zu fragen, warum?«

»Der Stadtkommandant hat mich hier einquartiert«, entgegnete Jakob gepresst.

»Hast du etwas angestellt?«

»Ich bin Katholik.«

Sophie machte eine unbeherrschte Geste, ehe sie ihre Hände krampfhaft faltete. Auch vor ihr stand ein Glas, doch sie rührte es nicht an.

Matthias seufzte. »Ernsthaft, Jakob. Warum bist du nicht bei deinem Herzog und machst Karriere? Warum unser armes Heidelberg?« Jakob schüttelte beinahe verzweifelt den Kopf und Matthias lachte auf. »Natürlich, du kannst nicht darüber sprechen. Du siehst schlimm aus. Und du wirst grau.«

»Und du dick«, erwiderte Jakob scharf.

Matthias steckte sich demonstrativ einen weiteren Bissen in den Mund. »Falsch, ich sehe stattlich aus, du alt. Also, wer war das?« Er deutete auf Jakobs Blessuren. »Ich frage, damit ich ihm gratulieren kann.«

»Ein Leutnant Karius.«

Matthias nickte vor sich hin. »Das passt. Darfst du raus oder muss ich dich einsperren?«

Jakob hob die Schultern. »Frag Maxilius.«

»Der ist aber nicht da?«, vergewisserte sich Matthias mit einem Anflug von Gereiztheit. Trotzdem belustigte es ihn, dass sich nichts geändert hatte: Jakob konnte ihn immer noch binnen Sekunden zur Weißglut treiben.

»Und du willst Rat werden?«, fragte Jakob in diesem Moment.

Matthias starrte ihn an. »Woher weißt du das schon wieder?«

Ein selbstzufriedenes Lächeln huschte um Jakobs Mund, dann senkte er die Augen. »Hermeskeil«, gab er zu. »Was immer es wert sein mag, ich wünsche dir Glück.«

Matthias brummte etwas. Inzwischen fühlte er sich angenehm gesättigt. Er schob den Teller zurück und faltete die Hände über dem Bauch. »Wir sollten morgen reden, es ist spät.«

Er wollte sich eben erheben, als unten gegen die Tür gehämmert wurde. »Wer um Himmels willen stört so spät noch?«, rief er verärgert.

Gespannt lauschten die drei auf Marthas Schritte, die Tür wurde geöffnet, sofort ertönte Geschrei. Matthias gab Jakob und Sophie ein Zeichen, sitzen zu bleiben, und griff entschlossen nach einer Kerze. Auf halber Treppe entfuhr ihm ein Fluch. Die eine Stimme kannte er: Es war sein nichtsnutziger Lehrling. Über Marthas Schulter hinweg musterte Matthias den Jungen, der wehleidig im Griff eines Offiziers zappelte.

»Da ist mein Meister, fragt ihn!«, jammerte Ludwig.

Der Mann kam näher. Matthias unterdrückte ein Japsen, als das Licht auf Karius’ Gesicht fiel. Jakob hat immer noch einen guten Schlag, ging es ihm durch den Kopf.

»Was hat der Junge angestellt?«

»Kennt Ihr ihn, Herr Abele?«, fragte der Leutnant.

»Ja, das ist Ludwig Mohr, mein Lehrling. Also, was ist passiert?«

»Er hat sich herumgedrückt.« Zögernd ließ Karius sein Opfer los, das sich wimmernd den Arm rieb. »Ein anständiger Lehrbursche hat um die Zeit zu schlafen.«

»Da habt Ihr vollkommen recht«, stimmte Matthias zu. »Und glaubt mir, er wird seine Strafe erhalten. Ich danke Euch. Warum wart Ihr eigentlich in der Nähe?«

»Wegen dem Katholiken«, antwortete Karius unverblümt. »Ich hab ein Auge auf ihn. Der ist schon einmal abgehauen.«

»Also steht er unter Hausarrest?«, erkundigte sich Matthias.

Karius neigte den Kopf. »Bis der Herr Major etwas anderes bestimmt. Ich denke ja, dass er in den Kerker gehört oder an den Galgen, nicht in ein anständiges christliches Haus.«

Bei der Erwähnung des Kerkers verzog Matthias das Gesicht. »Ich kenne Herrn Liebig, ich passe auf. Kann ich Euch etwas anbieten?«

Karius schüttelte den Kopf. »Ich muss zurück in die Garnison. Gott zum Gruß.«

Nachdenklich sah Matthias dem Leutnant nach, bis er in der Dunkelheit verschwunden war. Dann drehte er sich drohend zu Ludwig um. Der Junge presste sich an die Wand. Matthias’ erster Impuls war, ihm eine saftige Ohrfeige zu verpassen, aber die Erinnerung an das Gespräch mit dem alten Mohr hielt ihn zurück. »In die Küche! Sofort!«, herrschte er den Jungen an.

»Gnädiger Herr«, meldete sich Martha zu Wort.

»Später«, blaffte Matthias. Er schob Ludwig energisch vor sich her.

Am Küchentisch saß ein ungepflegt aussehender Fremder mit einem geschwollenen Kiefer und sah ihm mit lebhaftem Interesse entgegen.

»Und wer ist das?«, fragte Matthias schwach.

»Das«, erklärte die Wirtschafterin mit spöttischer Miene, »ist der Held vom Weißen Berg. Alles Weitere erklärt Euch besser Eure Frau.«

Matthias schwang herum und brüllte: »Sophie!«

Eine Viertelstunde später stand Jiří auf der Straße und betrachtete das Haus der Abeles mit einem belustigten Gesichtsausdruck. Seine Finger liebkosten den Taler, den Frau Abele ihm aufgedrängt hatte. Sie hatte schuldbewusst gewirkt, ihn zu dieser nächtlichen Stunde vor die Tür zu setzen, aber sie hatte sich ihrem Mann nicht widersetzt. Jiří hätte gerne gewusst, was in dieser Frau vorging. Er konnte das Feuer hinter der calvinistischen Fassade beinahe knistern hören. Er hatte es sogar gesehen, als sie unvermittelt mit gelösten Haaren in die Küche gerauscht war, doch in Anwesenheit der beiden Männer wirkte sie wie ausgewechselt. Ihre Kleidung und ihr Benehmen sollten die Welt überzeugen, dass sie nur eine weitere fromme Hausfrau war, aber damit täuschte sie allenfalls ihren Mann. Meister Abele war so brav und rechtschaffen wie all die guten Heidelberger Bürger, ganz anders als der dunkle Katholik. Der hatte sich zwar nicht blicken lassen, aber Jiří hatte gute Ohren und war überzeugt, dass dieser Herr Liebig ebenso aufmerksam gelauscht hatte wie er selbst. Der Junge war mit der Standpauke glimpflich davongekommen. Das war interessant, nicht jeder Meister wäre so nachsichtig mit einem Lehrling gewesen, der sich nachts auf der Straße herumtrieb. Jiří ließ die Münze in seine Tasche gleiten. Ihr würden weitere folgen; er hatte einiges zu berichten, was goldenen Lohn versprach.

Doch auch seine persönliche Neugier war geweckt. Es war gut, dass er das Haus der Abeles ohnehin im Auge behalten sollte. Neben der schönen Sophie befanden sich dort der undurchsichtige Katholik und jetzt auch noch der kleine Lehrling mit der verräterischen Druckerschwärze im Gesicht.

Jiří pfiff vergnügt vor sich hin, während das letzte Licht im Haus verlosch. Er wusste, wo er unterschlüpfen konnte. Plötzlich sehnte er sich mit erstaunlicher Heftigkeit nach Lena, doch der Weg in Reilings Hof führte durch den Wald, und ohne Pferd dachte er nicht daran, sich in die Dunkelheit zu wagen, schon gar nicht in eine Dunkelheit und in einen Wald, in dem die Toten umgingen.

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