Die Bibliothek des Kurfürsten

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Als es an seine Tür pochte, brauste er auf: »Ja, Herrgott!«

Wütend blitzte er Sergeant Spielvogel an, der eingeschüchtert von einem Bein aufs andere trat.

»Steht gerade, Mann!«, bellte Maxilius. »Ich weiß beim besten Willen nicht, warum ich Euch befördert habe. Was wollt Ihr? Soweit ich weiß, habt Ihr keinen Dienst. Jedenfalls hoffe ich das für Euch; Ihr stinkt wie ein Bierfass.«

Spielvogel nahm so etwas wie Haltung an. »Herr Major, ein Katholik ist in der Stadt …«

»Verflixt und zugenäht, das weiß ich!«

»Ihr … Ihr wisst?«

»Was findet nur alle Welt an diesem Rodriguez? Wenn alle Katholiken solche Feiglinge wären wie der, wäre Kaiserslautern noch protestantisch. Was kümmert Euch dieser elende Kriecher, den sein eigener König hier vergessen hat?«

»Äh … nichts.«

»Und was wollt Ihr dann?«

»Ich spreche nicht von Herrn Rodriguez, sondern von Jakob Liebig«, murmelte Spielvogel.

Maxilius starrte ihn an. »Was? Liebig? Der ist in der Stadt?«

»Ja, Herr Major. Ich bin ihm in Reilings Hof begegnet.«

»Und wo ist er jetzt?«

»Im Verlies, auf Befehl von Leutnant Karius, Herr Major.« Spielvogel zog den Kopf ein. Als er ihn vorsichtig hob, grinste Maxilius bösartig.

»Gut, da kann er bleiben. Wird dem feinen Herrn guttun. Und Ihr legt Euch schlafen. Das ist ein Befehl.«

»Ja, Herr Major.«

In der Tür rief Maxilius ihn zurück. »Spielvogel«, ein winziges Zögern. »Geht es ihr gut?«

»Ja, Herr Major.«

»Ab mit Euch!«

Nachdem Spielvogel gegangen war, sackte Maxilius auf seinen Stuhl und stützte das Kinn auf die Hände. »Das hat mir gerade noch gefehlt. Ein besserwisserischer Katholik. Oh Herr, warum strafst du deine Getreuen mit solchen Schlägen?«

Müde nahm er seine Jacke vom Haken, setzte den Hut auf und rief nach seinem Pferd. Wenig später ritt er zu Reilings Hof.

In der Schenke herrschte reger Betrieb, obwohl es bereits auf Mitternacht zuging, nur wenige Plätze auf den langen Bänken waren frei und die Humpen kreisten. Maxilius fragte sich, wie Gisbert es trotz der landesweiten Teuerung fertigbrachte, ein so wohlschmeckendes und dabei so hochprozentiges Bier zu brauen. Er schaute sich um und entdeckte einige Bekannte. Den einen oder anderen hätte er am liebsten nach Hause geschickt, vor allem den betrunkenen Zimmermann, der sich fast unverständlich mit diesem böhmischen Lumpen unterhielt, der sich seit einigen Monaten in der Stadt herumtrieb.

Er ging auf Lena zu. »Jakob Liebig ist in der Stadt«, begann er ohne Umschweife. »Hast du mit ihm geredet? Es ist wichtig, dass du mir die Wahrheit sagst.«

»Ein paar Worte.«

»Lena, bitte, was genau hat er gesagt?«

Sie wandte sich Gisbert zu. »Kann Anni mich kurz vertreten?«

»Kann sie nicht«, entgegnete der Wirt. »Oder siehst du sie hier?«

Maxilius kratzte sich am Kinn. »Ihr seid immer noch den Nachweis schuldig, dass Ihr mit dem verstorbenen Herrn Reiling verwandt seid. Der Rat duldet, aber er ist nicht sehr geduldig.«

»Ich zahle meine Steuern!«

»Das ist ein Anfang, nicht mehr.« Maxilius bedeutete Lena mit einem Fingerzeig, ihm in den Flur zu folgen. »Also?«

Sie hielt ihren Blick auf einen Punkt über Maxilius’ rechter Schulter gerichtet. »Er hat nicht viel gesagt. Nach den Abeles hat er sich erkundigt und wie es mir geht.«

»Lena, Tratsch interessiert mich nicht!«

»Er wollte in die Stadt, aber er hatte keinen Passierschein«, räumte sie ein. »Ich habe ihm gesagt, dass die Wachen niemanden einfach so durchlassen.«

»Und deshalb wandte er sich an Spielvogel?«

»Ja.«

»Gut. Ich danke dir für deine Ehrlichkeit.« Jetzt sah sie ihn doch an und der Ausdruck ihrer dunklen Augen hätte ihn beinahe zusammenzucken lassen. Es waren schöne Augen, aber er wusste, dass zwischen ihnen ein Gespenst stand. Trotzdem konnte er sich nicht zurückhalten. »Lena, das ist kein Leben für dich. Die Stelle als meine Wirtschafterin ist immer noch frei.« Etwas, das er beim besten Willen nicht deuten konnte, regte sich in ihrem Gesicht. »Nun?«, fragte er rau.

»Nein, ist sie nicht, und nein, ich will sie nicht. Habt Ihr noch weitere Fragen?«

Er gab ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie gehen durfte. Als sie fort war, wurden Maxilius’ Züge hart. »Gut, Herr Liebig, Ihr habt es so gewollt!«

Der Mond stand bereits hoch, als Maxilius sein Pferd losband. Er zog sich in den Sattel und gab dem Tier die Sporen. Die Müdigkeit, die mit jeder Woche schlimmer wurde, rumorte in seinen Knochen, aber er wusste, dass an Schlaf nicht zu denken war. So schnell er sich im Dunkeln traute, preschte er zur Stadt zurück. Sein Geist war wieder bei den Schanzarbeiten. Sie gingen nicht schnell genug voran, andererseits wusste er, dass er die Männer nicht noch härter antreiben durfte und dass der Rat nicht noch mehr Geld bewilligen würde. Keiner dieser Herren verstand wirklich, was das bedeutete: Krieg. Sie lauschten den Prahlereien dieses Böhmen und fühlten sich alle als Helden. Jakob Liebig, der lästige Katholik, der hatte wenigstens eine Ahnung, was auf sie zukam. Nur war er zu jung, es wirklich zu begreifen. Was diesen Jiří anging, den Kerl hätte er da lassen sollen, wo Liebig jetzt hockte. Der bedeutete Ärger. Er kannte diese Burschen.

Vor der Garnison zügelte Maxilius sein Pferd. Er vermisste seine Privatgemächer, aber diesen Luxus hatte er der Notwendigkeit geopfert, auch wenn sein Wirt die Zimmer immer noch für ihn frei hielt. Maxilius gähnte und stieg vom Pferd wie ein alter Mann. Eine Weile blieb er einfach stehen, die Stirn an den warmen Hals des Tieres gelehnt. Als er Schritte hörte, fuhr er in die Höhe.

»Herr Major.« Es war Stefan, sein Bursche.

Maxilius entspannte sich. Stefan gehörte zu den wenigen Menschen, denen er vertraute und die ihn gut genug kannten, um seine eiserne Fassade zu durchdringen. »Nicht jetzt«, bat er und unterdrückte ein zweites Gähnen.

Der junge Mann musterte ihn auf eine Weise, die jedem anderen eine harsche Rüge eingetragen hätte: besorgt. »Ich weiß, Herr Major, nur … Der Spanier hat schon wieder einen Boten geschickt. Damit sind es fünf. Er fleht Euch an, ihn anzuhören.«

Maxilius stieß ein bellendes Lachen aus. »Ich kann mir nicht vorstellen, was bei dem dringend sein sollte. Der soll sich hübsch in seinem vornehmen Haus verstecken und sich unsichtbar machen. Je weniger Protestanten sich daran erinnern, dass es ihn gibt, desto besser für ihn. Spanier! Hah!«

Stefan drängte sich sanft zwischen seinen Herrn und dessen Pferd. Er begann, das Tier abzusatteln. Maxilius ließ ihn gewähren. Abwesend glättete er die abgeknickte Feder an seinem Hut.

Während er das Tier versorgte, sprach Stefan weiter: »Ich glaube, er hat Angst. Todesangst. Und so wie die Dinge in der Stadt liegen, hat er nicht unrecht. Denkt an die Flugschriften, die …«

Maxilius verdrehte die blutunterlaufenen Augen. »Hör bloß auf. Ich hab ja Verständnis für unseren vergessenen Spanier, aber ich habe keine Zeit für ihn.«

»Und wenn er die Stadt verlassen würde?«

»Dann würden ihn meine besten Wünsche begleiten und ich hätte eine Sorge weniger. Aber er kann nirgendwo hin, wenn sein König ihm keine Eskorte schickt. Das weiß er und leider weiß ich das auch. Also mache ich mir keine Hoffnungen. Sonst alles ruhig?«

Stefan kämpfte einen beinahe komischen Kampf mit sich. »Dass Herr Liebig in der Stadt ist, habt Ihr gehört?«, erkundigte er sich schließlich.

Maxilius stöhnte nur. Ein Stück Feder blieb in seinen Fingern zurück. »Ja, den muss ich morgen auch noch aus dem Kerker holen. Warum eigentlich?«

»Vielleicht …«, begann Stefan, aber sein Herr winkte ab.

»Ich weiß, ich weiß. Man wird ja noch träumen dürfen.« Er setzte den Hut auf und der Moment der Schwäche verflog. »Hast du mein Bett bereitet?«

»Selbstverständlich.«

»Liegt meine Bibel bereit?«

»Ja, und ein Becher Wein.«

»Brav«, lobte Maxilius. »Und jetzt lass mich schlafen.«

»Wann soll ich Euch wecken, Herr Major?«

»Am Jüngsten Gericht«, schlug Maxilius vor und seufzte wieder, als sein Bursche ihn erschrocken anstarrte. »Sonnenaufgang wird reichen. Aber keine Sekunde vorher.«

Erschöpft schleppte er sich in seine Offizierswohnung, ließ sich von Stefan die Reitstiefel von den überforderten Füßen ziehen und überließ es ihm, sich um die schmutzige Kleidung zu kümmern. Als der Bursche gegangen war, schlug er das Buch auf, doch seine Gedanken waren bleiern wie seine Lider. Sein Nachtgebet fiel kurz aus. »Scheißkatholiken! Warum glaubt ihr nicht an Gott wie jeder gute Christenmensch?«

22. Oktober 1621

II

Das Knirschen des Riegels schreckte Jakob aus einem Schlaf, der ihn erst Stunden nach seiner Verhaftung von Kälte und Grübeleien erlöst hatte. Mit klammen Fingern klaubte er Stroh aus seinen Haaren und von seiner Kleidung. Letzte Nacht, in der kompletten Finsternis, in Gestank und Einsamkeit, hatte er Furcht verspürt. Jetzt gewann der Zorn die Oberhand. Er überlegte, ob er aufstehen sollte, entschied sich aber dagegen. Maxilius würde keine solche Höflichkeit von ihm erwarten können.

Doch der Mann, der eintrat, war nicht Maxilius.

»Aufstehen!« Leutnant Karius stieß die Fackel in die Zelle. »Mitkommen!«

Jakob befolgte den Befehl, bis die Kette spannte. Mit einem ironischen Lächeln blieb er stehen und hob die Brauen.

Karius nahm die Fackel in die Linke. Im nächsten Augenblick ließ ein Faustschlag Jakob gegen die Wand taumeln. Während er noch zu begreifen versuchte, was passiert war, wurde die Schelle von seinem Fußgelenk gelöst, und Karius knurrte: »Ich sage es nicht noch einmal, Katholik. Mitkommen!«

 

Jakob betastete sein Kinn. »Wohin bringt Ihr mich, Herr Leutnant?«, fragte er. Er erstickte fast an der höflichen Anrede, aber die Jahre bei Hof zahlten sich aus. »Zum Stadtkommandanten? Zu …«, er zögerte, verfluchte Spielvogel für seine Heimlichtuerei, »Oberst Maxilius?«

Statt einer Antwort trieb Karius ihn die Stufen hinauf in den Hof. Das fahle Morgenlicht war gnädig zu Jakobs empfindlichen Augen. Der Leutnant und sein Gefangener zogen kaum Aufmerksamkeit auf sich, denn die meisten Soldaten waren bereits beim Drill. Jakob stellte fest, dass der Stadtkommandant so vorausschauend war, auf den Einsatz von Musketen zu setzen. Noch handhabten die Männer die komplizierten Waffen unbeholfen, doch der junge Offizier, der sie anleitete, schien seine Sache zu verstehen. Ein Stoß zwischen die Schulterblätter machte Jakob bewusst, dass er stehen geblieben war. Er ging weiter.

Karius öffnete das Tor eines verlassen aussehenden Lagerhauses und drängte seinen Gefangenen zu einer alten Pferdedecke, aus der ein unangenehmer Geruch aufstieg. Jakob konnte die Formen eines menschlichen Körpers erahnen. Er rümpfte die Nase.

Karius’ Gesicht zuckte vor Wut. »Ist dir deine eigene Tat so zuwider? Mit einem Geständnis machst du es dir leichter.«

Wenigstens wusste Jakob jetzt, was es mit Spielvogels Gerede auf sich hatte, dass er keine Scherze über Mord machen sollte. Er setzte zu einem Protest an, als Karius den Zipfel der Decke packte und den Körper Stück für Stück freilegte. Dabei ließ er Jakob nicht aus den Augen. Der Tote war nackt. Beine und Rumpf waren die eines kräftigen Mannes, muskulös und stark behaart. Er wirkte gut genährt, aber drahtig.

»Und was soll diese lächerliche Vorstellung?«

Mit einem Ruck legte Karius den Kopf frei. Jakob bekreuzigte sich. Er hatte gefürchtet, ein bekanntes Gesicht zu sehen. Doch er sah überhaupt kein Gesicht. Der Schädel war vollkommen zertrümmert. Jählings überfiel ihn eine Erinnerung zusammen mit dem Blutgeruch. Er holte ein paarmal keuchend Luft, ehe er sich zu Karius umdrehte.

»Und jetzt?«

Der Leutnant stierte ihn mit einem Hass an, der an Irrsinn grenzte. Er grub seine Finger in Jakobs Nacken und zwang ihn in eine gebückte Haltung. »Sieh ihn dir an«, grollte er. »Sieh ihn dir einfach an.«

Jakob blieb nichts übrig, als zu gehorchen. Er atmete durch den Mund und überlegte, ob er den Toten kennen müsste. Dabei fiel sein Blick auf den Hals. Er machte eine heftige Bewegung. In diesem Moment ließ der Druck nach, Karius packte ihn am Arm und stieß ihn vor sich her. »Raus jetzt. Der Stadtkommandant soll sein Urteil sprechen.«

Endlich, schoss es Jakob durch den Kopf, endlich hat der Irrwitz ein Ende.

Obwohl Jakob sich trotz des überstürzten Aufbruchs große Mühe gegeben hatte, sich sorgfältig auf seinen Auftrag vorzubereiten, hatte er nicht herausfinden können, wer nach Auflösung der Regierung das Amt des Stadtkommandanten bekleidete. Er hoffte nur, dass er nicht ebenso so ein Fanatiker war wie dieser Karius. Zwar war ihm bewusst, wie ungepflegt er nach einer Nacht im Kerker aussehen musste, dennoch setzte Jakob das verbindliche Lächeln auf, das ihm durch sein Leben bei Hof in Fleisch und Blut übergegangen war. Es erstarb schlagartig.

»Ihr seid der Stadtkommandant. Ihr?«, entfuhr es ihm wenig höflich.

Maxilius musterte ihn frostig. »Habt Ihr etwas dagegen?«

Er saß da, als ob die letzten Jahre nie vergangen wären. Sogar der speckige Hut mit der abgeknickten Feder lag auf der Tischkante wie damals. Ein Hauch von Wehmut erfüllte Jakob, als er sich erinnerte, was Maxilius, damals noch Hauptmann, bei ihrem Abschied über diesen Hut gesagt hatte: ein alter Freund. Plötzlich wurde Jakob die Brust eng. »Nein«, sagte er leise. »Es ist eine gute Wahl.«

Maxilius konnte einen Anflug von Überraschung nicht verbergen. Mit einer knappen Geste deutete er nach links. »Ihr solltet Pfarrer Hermeskeil begrüßen. Ihr werdet in nächster Zeit mehr von ihm sehen, als Euch lieb sein wird.«

Jakob drehte überrascht den Kopf. Das Gesicht des Pfarrers glänzte so rosig, wie er es in Erinnerung hatte.

»Gott zum Gruß, Herr Liebig«, sagte Hermeskeil ohne jedes Ressentiment.

Jakob rettete sich in eine Verbeugung. »Gott zum Gruß. Verzeiht, Haupt… Stadtkommandant. Ich bin verwirrt …«

Und wütend, fiel ihm ein, aber er schwieg und strich seine Kleidung glatt.

Maxilius’ Blick glitt von ihm ab und blieb auf Karius haften. »Und?«

»Kein Geständnis, Herr Major.«

Jakob fuhr auf. »Natürlich kein Geständnis. Maxilius! Meinetwegen Major, ich werde verhaftet, als ich die Stadt betreten möchte …«

»Ohne Passierschein.«

»Ja, meinetwegen, ohne Passierschein, aber immerhin in Spielvogels Gesellschaft, verbringe die Nacht im Verlies und dann werde ich vor eine verstümmelte Leiche geschleppt und …«

»Was könnt Ihr mir zu dem Toten sagen?«

»Was?« Jakob war kurz davor, endgültig die Beherrschung zu verlieren. »Was wollt Ihr hören?«

»Eure Meinung. Könnte es ein Unfall gewesen sein? Der Mann wurde bei den Schanzen gefunden.«

»Nackt?«, spottete Jakob. »Ich weiß nicht, wie Eure Schanzer arbeiten, ich wage es jedoch zu bezweifeln. Außerdem wurde dem Toten die Kehle durchgeschnitten, wie ich sehen konnte, als Euer Leutnant mir fast die Nase in die Leiche gedrückt hat … Ich …«

Maxilius hob die Hand. Die andere bedeckte seinen Mund, seine Augen, übermüdet und rot, schimmerten belustigt. »Beruhigt Euch. Leutnant, Ihr könnt gehen.« Als die Schritte sich entfernt hatten, fuhr der Stadtkommandant fort: »Von einem Schnitt in der Kehle wurde mir nichts berichtet. Seid Ihr sicher? Natürlich seid Ihr sicher«, unterbrach er, als Jakob zu einer hitzigen Antwort ansetzte. »Gut. Die Leiche wurde gestern in den frühen Abendstunden gefunden. Euch festzusetzen, war eine logische Entscheidung.«

Jakob schnaubte.

»Und jetzt sagt mir Eure Meinung. Und bedenkt: Je nützlicher Ihr Euch macht, desto geneigter bin ich, ein anderes Quartier für Euch zu finden als das, in dem Ihr bereits genächtigt habt.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause. »Ich meine es ernst, Herr Liebig.«

Jakob rang mit der Versuchung, hier und jetzt den Kerker zu riskieren. Er biss sich auf die Lippen. »Wenn jemand wirklich so tun wollte, als sei es ein Unfall gewesen, ist er schlampig vorgegangen. Ich glaube eher, dass die Identität des Toten verschleiert werden sollte. Getötet hat ihn der Schnitt durch die Kehle. Danach hat ihn sich jemand mit einem Knüppel vorgenommen. Wurde die Kleidung gefunden?«

»Bisher nicht.« Maxilius deutete auf einen freien Stuhl.

Jakob setzte sich, um nicht trotzig zu erscheinen.

»Ich vermute, dass Ihr mir nicht sagen werdet, was Euch nach Heidelberg führt«, bemerkte der Stadtkommandant nach einer Weile.

»Ich sorge mich um die Menschen, die mir ans Herz gewachsen sind«, erwiderte Jakob giftig.

»Also nicht.« Maxilius schnippte gegen die Reste der Feder. »Ihr steht noch in den Diensten Herzog Maximilians?«

»Das tue ich, mit Stolz.«

»Mit dem Stolz solltet Ihr Euch etwas zurückhalten«, entgegnete Maxilius trocken.

Jakob presste die Lippen aufeinander. Die drei Männer schwiegen.

Es war Hermeskeil, der die Stille beendete. »Herr Liebig, Ihr habt Euch vielleicht gewundert, warum der Stadtkommandant mich hinzugebeten hat.«

Jakob besann sich auf seine gute Erziehung. »In der Tat, Herr Pfarrer.«

Stadtkommandant und Pfarrer tauschten einen Blick. »Major Maxilius hat mich ersucht, Euch in den nächsten Tagen zu beherbergen.«

»Beherbergen«, wiederholte Jakob bitter. »So heißt das also.«

»Ihr könnt gerne in Euer altes Quartier zurückkehren«, beschied ihn Maxilius barsch. »Ganz wie Ihr beliebt. Ohnehin werdet Ihr keinen Schritt machen, ohne dass ich es erfahre.«

»Das heißt, ich bin Euer Gefangener?«

»Ihr bewegt Euch in diplomatischen Kreisen«, spottete Maxilius. »Da müsst Ihr doch ein schöneres Wort wissen. Im Übrigen«, er wurde übergangslos ernst, »dient die Maßnahme auch Eurem Schutz. Die Stimmung in der Stadt hat ihren Siedepunkt noch nicht erreicht, das garantiere ich Euch.«

Jakob dachte an Karius. »Und ich glaube Euch. Daher danke ich Euch, Herr Pfarrer, dass Ihr mich aufnehmt. Ich hoffe, dass ich Euch nicht in Schwierigkeiten bringe.«

Hermeskeil wollte etwas erwidern, aber Maxilius kam ihm zuvor. »Das wird nicht passieren. Dafür wird mein Leutnant sorgen. Ich sagte doch, dass ich über jeden Eurer Schritte informiert sein werde.«

»Der Kerker wäre einfacher.«

Maxilius’ Lächeln wurde breiter, wenn auch nicht wärmer. »Das stimmt, aber solange Ihr auf freiem Fuß seid, könnt Ihr Euch nützlich machen, indem Ihr herausfindet, wer diesen Unbekannten vom Leben in den Tod befördert hat. Denn dazu habe ich wirklich keine Zeit!«

In der Vorstadt verabschiedete sich Leutnant Karius höflich von Hermeskeil. Was immer die Vereinbarung hinsichtlich seiner Person war, niemand schien es für nötig zu halten, Jakob die Regeln zu erklären. Er dachte an das Heidelberg zurück, das er verlassen hatte, und wieder erfüllte ihn Trauer. In einem hatte Maxilius recht: Es würde schlimmer werden, für sie alle. Natürlich hatte Jakob keine Zweifel, auf wessen Seite Gott letztlich stand, aber der Weg zum Sieg des wahren Glaubens würde blutig werden. Inzwischen öffnete der Pfarrer die Haustür und rief nach seiner Haushälterin. Sie bedachte Jakob mit einem säuerlichen Blick, während sie den Pfarrer begrüßte. Hermeskeil bat sie, für seinen Gast ein Zimmer herzurichten und zu veranlassen, dass sein Gepäck aus Reilings Hof geholt wurde. Bei der Nennung dieses Namens wurde ihr Gesichtsausdruck noch missbilligender. Hermeskeil schmunzelte und führte Jakob die Treppe empor in seine Studierstube. Wenigstens hier hatte sich nichts verändert. Im Kamin knisterten brennende Scheite gegen die Herbstkühle, auf dem Schreibtisch lag eine aufgeschlagene Bibel, und auch das abstoßende Gemälde vom Sündenfall hing am selben Platz. Nur die Schlange starrte noch etwas bösartiger als vor drei Jahren.

Hermeskeil dagegen strahlte eine Freundlichkeit aus, die von Herzen zu kommen schien. »Nehmt Platz. Machen wir das Beste aus diesen ungewöhnlichen Umständen. Bitte glaubt mir, Ihr seid mir willkommen.«

»Danke«, erwiderte Jakob steif. »Wenn Maxilius allerdings darauf spekuliert, dass ich Euch Geheimnisse verrate …«

Hermeskeil hob beschwichtigend die Hände. »Herr Liebig, Ihr seid der Spion, nicht ich. Ich warte darauf, dass die Menschen mir ihre Geheimnisse aus freien Stücken anvertrauen. Wenn sie es nicht tun, nun, dann gibt es immer noch gute Gespräche und guten Wein.«

»Und Kuchen.« Jakob musste gegen seinen Willen lächeln. »Wie geht es Matthias? Und … Sophie?«

Hermeskeil ging zum Schrank und entnahm ihm trotz der frühen Stunde zwei Gläser und einen Krug. Jakob kam es vor, als hantiere er unnötig lange damit herum.

»Herr Pfarrer?«

»Oh, Euer Freund Matthias hat Ambitionen entwickelt. Nachdem Ratsherr Bonneville gestorben ist, bewirbt er sich um dessen Nachfolge. Außerdem hat er Traugott Krauses Kunden übernommen. Er ist der kommende Mann in Heidelberg.«

»Hmm«, brummte Jakob. »Und seine Frau?«

»Sie hatten eine kleine Tochter.« Hermeskeil sah zu, wie der Wein die Gläser füllte. »Sie ist gestorben. Ich leiste der armen Frau Beistand, so gut ich kann, aber … der Schmerz ist sehr frisch. Und sehr tief. Sie hat sich verändert.«

»Inwiefern verändert?« Endlich stellte sich Jakob den Erinnerungen an die blonde Sophie Abele, ketzerisch, aufmüpfig und absolut reizend. Eine Sekunde lang schien sie leibhaftig im Raum zu stehen und ihm ihr spöttisches Lächeln zu schenken.

»Sie ist … gläubig geworden.«

Jakob runzelte die Stirn. »Ist das nicht gut? Ihr seid Geistlicher!«

Hermeskeil setzte das Glas an. »Natürlich, Ihr habt recht. Es ist immer richtig, Trost bei Gott zu suchen. Und Ihr? Eurer Kleidung nach hat es das Leben nicht schlecht mit Euch gemeint.«

»Wenn es mich nicht gerade in den Kerker verschlägt.« Jakob rieb an einem Schmutzfleck auf seiner weißen Manschette. »Aber Ihr wolltet mich doch nicht aushorchen.« Er lehnte sich zurück und ließ zu, dass der Wein ihn wärmte. Angeekelt betrachtete er dabei die schwarzen Ränder unter seinen Nägeln. »Und Maxilius ist jetzt Major?«

»Tja, nach der Niederlage des Kurfürsten hat der Rat händeringend fähige Männer gesucht. Maxilius wurde vor einem Monat endgültig zum Stadtkommandanten befördert. Es gab sonst niemanden, der sich der Verantwortung gestellt hätte.«

 

»Nur dass sie keinen Stadtkommandanten brauchen, sondern einen Wundertäter«, entfuhr es Jakob. »Die Spanier stehen im Westen, Tillys Heer im Osten. Eine schier unlösbare Aufgabe.«

Sie wurden unterbrochen, als die Hauswirtschafterin ein Tablett mit Brot, Käse und einem Krug Dünnbier auftrug. Sie musterte die Gläser strafend. Jakob vermutete, dass Hermeskeil der Gardinenpredigt allein seinetwegen entkam. Als sie den Raum verlassen hatte, schenkte der Pfarrer mit verschmitzter Miene nach.

»Vielen Dank«, sagte Jakob. »Ein guter Tropfen. Setzen wir unsere Fragestunde fort?«

»Gerne«, erwiderte der Pfarrer und nippte genießerisch an seinem Wein. »Aber nicht jetzt. Ihr habt ein Bad und eine Rasur nötig. Ich bin sicher, ein Mann wie Ihr ist den Kerker nicht gewöhnt.«

Jakob errötete leicht. »Nein. Nicht wirklich. Danke.«

Die Haushälterin führte ihn auf sein Zimmer unter dem Dach. Es war eine schlichte Kammer mit einem Bett, einem Waschtisch und einer altertümlichen Kommode. Er griff nach dem Buch, das darauflag, und verzog das Gesicht. Es war die Bibel in deutscher Sprache. Jakob trat zum Fenster und blickte hinaus. Selbst wenn sich ein Weg finden ließe, auf das Dach zu klettern, so stand an der Hauswand gegenüber sein persönlicher Höllenhund und beobachtete das Fenster mit unbestechlichen Augen. Leutnant Karius war nicht zur Garnison zurückgekehrt, und er machte auch keine Anstalten, sich zu verstecken.

Die Herbstsonne verlieh den Hauswänden einen warmen Schimmer und ließ das gelbe Laub erstrahlen. An der Mauer des Herrengartens blieb Hermeskeil stehen. In besseren Zeiten hätte er an dieser Stelle die Stimmen der Schauspieler gehört, die sich auf der Bühne versammelten, um ein weiteres Stück Shakespeares einzustudieren. Jetzt tollten hier nur ein paar Jungen herum, zwei eiferten mit aus Stöcken gefertigten Schwertern den Rittern nach, an deren Turnieren der Kurfürst und seine Frau sich in glücklicheren Tagen erfreut hatten. Hermeskeil schüttelte bekümmert den Kopf und setzte seinen Weg fort. Ob die goldenen Zeiten je wiederkommen würden? Sein Herz wurde noch schwerer, als er das prächtige alte Hagen-Haus aufragen sah. Benannt war es bis heute nach dem Vater der jetzigen Besitzerin, auch wenn sie längst Abele hieß und die Heidelberger sich an ihren Ehemann gewöhnt hatten, obwohl er ein Konvertit war. Hermeskeil wollte eben die Straße überqueren, als ihm ein Mann auffiel, der müßig an einem Zaun lehnte und zu den hohen Fenstern hinaufsah. Er versuchte, sich zu erinnern, woher er den hochgewachsenen, schwarzhaarigen Kerl mit den wachen, dunklen Augen kannte. Wahrscheinlich ein säumiges Gemeindemitglied. Höflich nickte der Pfarrer und registrierte erstaunt, dass der Mann hastig um die nächste Ecke bog.

Hermeskeil betätigte den Türklopfer. Wenig später hörte er die schweren Schritte Marthas, der Haushälterin, durch den Flur donnern.

Die Tür wurde aufgerissen und gab ihr bärbeißiges Gesicht frei, das sich aufhellte, als sie den Gast erkannte. »Herr Pfarrer, kommt herein. Leider hat der Herr hohen Besuch.« Sie schürzte die Lippen.

»Eigentlich wollte ich ja Frau Abele besuchen.«

»Hat auch Besuch«, lautete die knappe Antwort, »aber sie empfängt Euch sicher.«

Während sie ihn durch den Flur führte, fragte sich Hermeskeil, was den Ärger der treuen Seele hervorgerufen hatte. Plötzlich vernahm er im ersten Stockwerk erregte Männerstimmen.

»Nanu?«, machte er und wies mit dem Kinn nach oben.

»Das ist Rat Hirsch«, antwortete sie auf die unausgesprochene Frage. »Mir steht es ja nicht zu, zu urteilen, aber ein feiner Umgang ist das!«

Auch wenn Hermeskeil sie liebend gern weiter ausgefragt hätte, schämte er sich seiner Neugier. Außerdem schien der kurze Ausbruch schon vorbei, seine und Marthas Schritte übertönten das wieder leise geführte Gespräch vollkommen. Martha führte ihn schnaufend und vor sich hin brummend in den Salon, wo drei Frauen bei süßem Gebäck und Likör plauderten. Zwei von ihnen waren schwarz gekleidet, die dritte trug ein prächtiges, dunkelgrünes Gewand; alle Kleider waren mit kostbarer Spitze verziert. Die Hausherrin erhob sich. »Herr Pfarrer, das ist schön. Bitte, setzt Euch zu uns. Ihr kennt ja meine Freundinnen, Ernestine de Bonneville und Emilie Hirsch.«

Hermeskeil nickte erst der Frau in Schwarz, dann der in Grün zu, während sein Blick den Kuchenteller suchte.

Sophie sah es und ihre Lippen zuckten. Hermeskeil fühlte Wehmut, denn ihr Lächeln, so warm es sein mochte, war von Trauer überschattet. Er umschloss Sophies Hand mit seiner und drückte sie. Ihre Augen begegneten seinen in stillem Einvernehmen.

»Ihr seid mit Eurem Mann gekommen?«, wandte er sich an Frau Hirsch, nachdem Sophie ihn mit Gebäck versorgt hatte.

Emilie seufzte geziert. »Männer!«, sagte sie nur und führte das winzige Likörgläschen an die Lippen. Sie waren sehr rot. Hermeskeil fragte sich, ob all die Farbe natürlichen Ursprungs war. Er dachte an seine nächste Predigt. Eitelkeit könnte ein gutes Thema abgeben.

»Ja, Männer«, tadelte er. »In der Heiligen Schrift steht, dass das Weib dem Manne untertan sein soll.«

»Dazu müsste er mir einmal Gelegenheit geben, statt immer seinen Geschäften nachzugehen«, entgegnete Frau Hirsch spitz.

Sophie schaute ihre Freundin betreten an.

Ernestine de Bonneville, Witwe des verstorbenen Rates Pierre de Bonneville, zeigte sich amüsiert. »Ein religiöser Disput, Herr Pfarrer? Und das mit drei schwachen Frauen?«

Hermeskeil biss krachend in den Blätterteig und wischte die Krümel von seiner Soutane. Er wollte streng aussehen, aber angesichts der Cremefüllung fiel es ihm schwer. Außerdem dachte er mit einem Anflug von Schuldbewusstsein an das daheim verspeiste Frühmahl. Vielleicht sollte er die Predigt lieber über Völlerei halten.

Gleichzeitig mahnte Sophie: »Ernestine, nicht! Der Herr Pfarrer möchte sicherlich nur seine Aufwartung machen.«

»Ja, ich wollte sehen, wie es Euch geht«, bestätigte Hermeskeil. »Doch bin ich auch hier, um Euch etwas mitzuteilen.«

»Also ist es kein Zufall«, rief Ernestine und beugte sich vor. »Lasst hören.«

Hermeskeil verwünschte sich im Stillen. Was er Sophie zu sagen hatte, wollte er keinesfalls vor Zeugen preisgeben, doch er wusste beim besten Willen nicht, wie er den herausfordernden Augen der schönen Witwe entkommen sollte. Er war Ernestine ein paarmal im Haus der Abeles begegnet und war sich nicht sicher, was er von dieser Frau halten sollte. Sie war Hugenottin, vor Jahren nach Heidelberg gekommen, wo sie nach skandalös kurzer Zeit den deutlich älteren Rat de Bonneville geheiratet hatte. Inzwischen war der Mann tot und hinterließ eine reiche Witwe und reichlich Gerede. Selten war Hermeskeil so erleichtert gewesen, den Hausherrn zu sehen, der in diesem Moment hereinplatzte. Matthias’ Gesicht war gerötet, an seiner Schläfe pochte eine Zornesader.

»Oh, guten Morgen, Herr Pfarrer«, knurrte er. »Ich werde mich gleich um Euch kümmern. Zuvor aber muss ich Frau Hirsch hinausbegleiten. Euer Mann wartet an der Haustür.«

»Ach, tut er das?« Emilie maß Matthias mit einem kühlen Blick und erhob sich. »Gut, ich komme. Ich danke dir für die Gastfreundschaft, Sophie.« Sie machte eine lange, bedeutungsvolle Pause. »Und natürlich Euch, Herr Abele. Ihr wolltet mich hinunterbegleiten?«

Sie streckte die Hand aus. Matthias’ Wangen wurden noch röter, widerstrebend bot er ihr den Arm. So rauschten sie aus dem Zimmer. Sie ließen Schweigen zurück, das nur vom Knarren der dritten Stufe gestört wurde.

Ernestine lächelte noch immer. »Dein Mann ist sehr zupackend, liebste Sophie.«

Sophie spielte mit ihrem Ehering. »Er … er steht unter großem Druck. Er will Rat werden und …«

»Er sollte sich die nötigen Umgangsformen zulegen«, bemerkte Ernestine leicht. »Und worüber«, sie wandte sich Hermeskeil zu, »wolltet Ihr mit uns reden?«