Mitternachtsnotar

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Comeback

Es muss ja irgendwann sein. Hartes Licht, keine Wolke am Himmel, es ist ein Sommertag mitten im Frühling. Ich bin wach, ich hab mein Modelkleid reinigen lassen, ich hab mir die Nasenhaare mit dem Milchaufschäumer epiliert.

Ich hab Wanja den Raben von Poe erklärt. Hoff ich zumindest. Statt mich zur Belohnung Unter den Linden ins Café Einstein zu setzen, geh ich zur Studienberatung für Rechtswissenschaftler in die Dahlemer Van’t-Hoff-Straße. Das ist eine Villengegend, in der sich in den letzten zehn Jahren bis auf ein paar Neubauten für die Freie Universität nicht viel getan hat. Die Unigebäude haben allerdings nicht mehr den graffitibekritzelten Sponticharme der Jahre nach der Wiedervereinigung. Stattdessen Glas und Beton, und auch in der Studentenschaft ist mehr Zug drin.

Bei der Beratung sitzt mir nicht der vor zehn Jahren noch übliche picklige Asta-Vertreter gegenüber, sondern eine perfekt geschminkte Frau Anfang zwanzig im Kostüm und mit Kopftuch, aber ohne Akzent. »Hast du denn die Zwischenprüfung bestanden?«, fragt die Perfekte sehr freundlich.

»Klar.«

Das Nichtbestehen der vorlesungsbegleitenden Zwischenprüfung führt zur sofortigen Zwangsexmatrikulation, das weiß sogar ein Silver Surfer wie ich. Aber hey, ich hab ja nicht hingeschmissen, weil ich zu blöd war, sondern wegen Horst Lustenberger.

Horst Lustenberger, der zweite Mann meiner Mutter, ist ein verdienstvolles Mitglied des Deutschen Bundestages. Niemand außer mir kann sich daran erinnern, dass er während des Berliner Bankenskandals im Jahr 1999 in die Parteikasse gegriffen hat. Ich hatte damals gerade ein Studentenpraktikum in der Parteizentrale absolviert, weil der Horst ja etwas für mich tun wollte. Schlechtes Timing.

Während des Praktikums teilte mich der Justiziar zur Abteilung Haushalt und Finanzen ein, da herrschte nämlich Personalnot. Also saß ich da, Wilhelmstraße 60, Zimmer 006, und sortierte Belege. Im Nebenzimmer saß der oberste Buchhalter der Fraktion, der Büroleiter. Das war seit sechzehn Jahren ein gewisser Mister Unauffällig in Person. Morgens sah ich ihn ins Büro huschen und abends wieder raus.

Als es schließlich losging mit dem Skandal, riefen zuerst Parteikollegen an. Dann die Innenrevision. Und zum Schluss nur noch Journalisten. 1,5 Millionen Mark waren auf schwarzen Kohl-Konten aufgetaucht. Irgendwann ging ich nicht mehr ans Telefon. Und am nächsten Morgen hängte sich der unauffällige Herr am Heizungsrohr auf. Seither bin ich durch mit der Politikerbagage im Allgemeinen und dem Horst im Besonderen.

Denn als Horst Lustenberger mit seiner Saftgulasch-Attitüde und seinem klebrigen Geld in mein Leben trat, war es zu spät – ich war schon sechzehn. Meine Mutter und ich zogen zu ihm, Beletage im Altbau am Spreeufer, KPM-Geschirr, handgenähte Bettwäsche, Gardinensteif, Kristalllüster, ständig roch es nach Bratensoße. Plötzlich saß ich jeden Abend um sieben mit dem Horst am Tisch. Meine Mutter und er glutzerten sich über die Kunstblumen hinweg so pubertär an, dass sogar die Rinderbrust auf den Bandnudeln rot wurde. Mit bebenden Nasenflügeln gestand der Horst beim Sonntagsfrühstück, was er sich vom Leben noch wünsche: »Wenn ich dich adoptieren würde, Libby, dann wären wir doch eine richtige Familie.«

Was natürlich ausgeschlossen war. Ich lass mich doch nicht von einem etablierten Presssack adoptieren. Und erst recht nicht, wenn der das will. Da merkte ich dann, wie mir plötzlich zwischen weichem Ei und Kuchenbrötchen ein Rückgrat wuchs. »Sorry, Horst«, sagte ich, »nichts gegen dich, aber ich will einfach nicht Liberty Lustenberger heißen. Das bin ich irgendwie nicht.«

Das hat so was Deterministisches, wie Lolo Ferrari. Ich heiß lieber wie mein richtiger Vater, Vale wie in vale of tears, Tal der Tränen. Eine Art selbsterfüllende Prophezeiung, denn der Horst nahm die Absage natürlich trotzdem persönlich. Wir stritten nicht direkt, aber er wurde so ruhig wie ein Rumpsteak nach dem Abbraten, und meine Mutter schluchzte ins Zwiebelgehackte. Fünf Jahre später adoptierten die beiden Wanja und versuchten ihr Erziehungsglück bei ihr.

Jedenfalls, als ich den Horst damit konfrontierte, dass er bei den Schwarzkonten seine Finger im Honigtöpfchen hatte, da sagte er: »Na, wenn das so schlimm ist, dann wirst du ja auch keine finanzielle Unterstützung mehr von mir haben wollen.«

Wollte ich nicht. Danke, Horst Lustenberger. Du hast es mir ermöglicht, als Flugbegleiterin die Welt zu sehen. London, Rio, Tokio. Kein schlechtes Leben. Aber es fehlte ein bisschen an Substanz.

Ich bewerb mich für einen Studienplatz im Herbstsemester. Dann geh ich die Brümmerstraße runter zum U-Bahnhof Thielplatz. Studieren war ja schon immer Frustrationstoleranztraining. Aber hey, Schuldrecht zweites Semester: Auch seine Seele kann man nur einmal abtreten. Dann doch lieber gewinnbringend. Liberty Vale. Rechtsanwältin. Fachanwältin für Strafrecht. Ich seh schon den Gesichtsausdruck von Horst vor mir, wenn ich die Visitenkarte vor ihm auf den Tisch knall. Und jetzt brauch ich dringend was zu trinken.

Reinickendorf steht auf

Das ist neu und sensationell: Ein Bürgerantrag hat es bis in die Bezirksverordnetenversammlung von Berlin-Reinickendorf geschafft. Sanders war noch nie auf der Sitzung einer BVV, aber man kann die Tagesordnung im Internet nachlesen: Jürgen Schrödter hat einen Milieuschutzantrag für die Siedlung Am Rabennest gestellt, und der soll öffentlich verhandelt werden.

Der BVV-Saal im Rathaus Reinickendorf ist ein erhabener Ort, er könnte auch das Seitenschiff eines Doms sein. Ein bedeutungsschwerer Kuppelsaal mit blau-goldenem Lilienmuster an einer Decke, von der Messinglüster hängen. Bemalte Bleiglasfenster und eine Art steinerner Thron geben dem Ensemble die Atmosphäre eines mittelalterlichen Saals. Der Bezirksstadtrat für Stadtentwicklung Arthur Drohbeck, ein gedrungener Mittvierziger ohne Hals, mit schwarzer Fönfrisur und hellblauer Seidenkrawatte hat rote Flecke im Gesicht. Er hält sich an seinem Aktenordner fest. Die Knöchel seiner schmalen gelben Hände sind weiß. Neben ihm sitzt der blonde Peer Mann vom Bauausschuss und trommelt mit Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand den Radetzkymarsch. Die Politiker sind nervös.

Sanders nimmt auf einer Holzbank im Besucherbereich des Saals Platz. Die Sanierungsgesellschaft hat einen Aufstand der Anständigen ausgelöst. Hinter Sanders stehen die Unterstützer der Am-Rabennest-Siedler bis auf den Flur.

Etwa 25 Wutbürger und Wutbürgerinnen sitzen in den Besucherbänken: alle sechzig plus, mit Kittelschürzen, taubenblauen Gabardinehosen und geballten Fäusten. Die Mistforken hat ihnen die Polizei am Eingang abgenommen. Manche tragen schwarze T-Shirts, auf denen vorne Siedlung Am Rabennest steht und hinten Kein Ort für Luxus, daneben ein gesenkter Daumen.

Sanders fremdelt. Er fühlt sich an das Gemälde American Gothic von Grant Wood erinnert. Es ist diese Ernsthaftigkeit in der Übellaune, die die Frage offenlässt, ob es sich bei den Siedlern um komische Figuren oder Heilige handelt. Schon das Wort Wutbürger trägt eine Wahrheit in sich, nämlich die, dass die Ungerechtigkeit zu groß geworden ist. Das ist der Politik so durchgerutscht. Schraube überdreht, und schon handeln konservative, bessergestellte ältere Bürger oft gar nicht mehr bürgerlich. Das Staatstragende in ihnen hat sich in einen anarchischen Protestwillen verwandelt. Die Angst um ihre Welt ist so groß geworden, dass ihnen jegliche altersgemäße Zukunftsvergessenheit abhandengekommen ist. Ihre Verbitterung lässt die Luft im BVV-Saal vibrieren.

Es ist leicht, Jürgen Schrödter unter den Siedlern auszumachen. Er ist ein kantiger, bodenständiger Typ, Schlossermeister, frisch verrentet, breite Schultern, hochgewachsen, das graublonde Haar akkurat zurückgegelt wie Lex Barker, ein Kinn wie ein Amboss, glatt rasiert, die Augen sind hell und hart. Schrödter ist im Rabennest geboren, seine Frau vor zwei Jahren verstorben. Sein Vater, 83, genannt Opa Schrödter, lebt auch noch dort. Aus Sicht der Investoren blockieren diese beiden nichtswürdigen Existenzen gleich zwei Siedlungshäuser an quartierplanungsmäßig wichtiger Stelle, nämlich dort, wo sich die beiden Straßen der Siedlung kreuzen: Ecke Am Rabennest/​Auf den Palisaden. Vor dem Haus der Schrödters befindet sich ein kleiner Platz voller Unkraut, auf dem ein Müllhäuschen steht. Die Bestandsmieter um Schrödter haben den Platz »Klassenkampfplatz« getauft. An dem Müllhäuschen hängt ein entsprechendes Pappschild. Glaubt man den geschönten Animationen des Investors, die im Internet zu finden sind, soll dort bald eine geschniegelte Hecke eine Sandsteinputte einfassen. Sanders zweifelt daran, dass es Pläne gibt, das Pappschild durch eine marmorne Gedenktafel für Schrödter zu ersetzen. Obwohl das hübsch wäre.

Schrödter ist der Magnetpol, auf den sich die Aufmerksamkeit der BVV wie eine Stahlnadel ausrichtet. Er trägt einen akzeptablen Anzug, hat eine Mappe mit Unterlagen in der Hand und redet ruhig und fokussiert mit seinen Nachbarn.

Die restlichen Politiker der Fraktionen betreten den Saal, nehmen auf ihren mit rotem Leder bezogenen Stühlen vor dem BVV-Vorsteher Platz. Während der Bürgersprechstunde und der sich anschließenden Fragen der Fraktionen beobachtet Sanders mit investigativem Interesse den Becher mit dünnem Automatenkaffee, den er sich auf dem Flur gezogen hat und auf dessen umbragrauer Oberfläche ein paar schillernde Blasen treiben. Das Ganze könnten gut und gerne auch 220 Milliliter Abwaschwasser sein.

Dann tritt Jürgen Schrödter ans Rednerpult. Er ordnet seine Papiere. Man flüstert sich in den Reihen zu, er sei bei seinem letzten Arbeitgeber, einem Großkonzern, im Betriebsrat gewesen. Jetzt hat er fünf Minuten Redezeit.

 

»Meine Damen und Herren«, sagt er, »die Sanierungsgesellschaft macht ihrem Namen keine Ehre. Sie lässt das Baudenkmal Am Rabennest seit Jahren verfallen, um damit die Luxusmodernisierungen zu begründen. Der Bezirk muss die Zerstörung der Substanz stoppen, die Baugenehmigungen für die Umbauten widerrufen. Die Bestandsmieter begrüßen den Antrag auf Prüfung eines möglichen Milieuschutzes und einer sozialen Erhaltung nach Paragraf 172 des Baugesetzbuches für die Siedlung. Damit können Sie die baulichen Maßnahmen unter einen Genehmigungsvorbehalt stellen, wenn eine ausreichende Verdrängungsgefahr für die aktuellen Mieter besteht.«

Sanders bewundert Schrödters Eloquenz. Die rechte, konservative Seite der BVV fixiert ihn, als hätte sie ein Mordmotiv. Irgendetwas läuft hier unterschwellig. Begründen kann Sanders seine Vermutung nicht. Noch nicht. Und er glaubt auch nicht, dass sein Vater davon weiß. Aber Geld ist immer ein Motiv.

»Werte BVV«, sagt Schrödter und beugt sich vor, »die Bestandsmieter haben ihr Leben lang hart gearbeitet, die Siedlung selbstständig instand gehalten und ihr ihren Charme gegeben. Sie haben es verdient, hier in Ruhe zu leben. Jetzt liegt es in Ihrer Verantwortung, dieses Grundrecht auf Würde mit allen Mitteln zu schützen. Lassen Sie nicht zu, dass Reinickendorf ausverkauft wird!«

Klopfapplaus von links, aus den Reihen von Bündnis 90/​Die Grünen und der SPD-Fraktion. Einige Zuschauer pfeifen und johlen. Nach kurzer, heftiger Diskussion wird der Milieuschutzantrag an den Bauausschuss verwiesen. Sanders hat keine Ahnung, was das bedeutet. Die Siedler sehen zufrieden aus. Aber schließlich ist auch das eine Plattitüde erster Güte: Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Die granatrote Dame

Als ich von der Studienberatung zur U-Bahn zurücktrotte, überleg ich, ob ich mir meinen bisherigen Escortjob noch ein halbes Jahr lang geben soll. Oder ob ich vielleicht jetzt schon mein angespartes Geld in einen Repetitor investiere, der den Stoff des Grundstudiums mit mir noch mal durchgeht.

Da steh ich plötzlich vor dem »Seelenklempner« am Dahlemer Thielplatz – ein hübsches Backsteingebäude, ehemals ein Pumpwerk der Wasserbetriebe, einstöckig, mit hohen Spitzbogenfenstern. Erinnert mich sofort an eine Kirche voller Bücher, ist aber eine Fachbuchhandlung für Psychologie mit einem angegliederten Café. Man kann alle Bücher aus dem Buchladen mit ins Café nehmen und in Ruhe anlesen.

Mir wird ganz sentimental zumute. Was hab ich da abgehangen! Bei dem herrlichen Wetter ist an den Tischen im Garten des »Seelenklempners« kein einziger Platz frei. Die Vögel zwitschern, die Gläser klirren, es wird geplaudert und gelacht. Eine richtige Studentenfalle ist das. Heiß ist mir plötzlich. Jetzt ein Bier, kristallklar, aus einem beschlagenen Glas, an dem eiskalte Wassertropfen runterlaufen.

Ich betret den Laden. Die Bücher stehen in hohen dunklen Holzregalen vor den Backsteinwänden, dicke Wälzer mit Goldprägungen neben Taschenbüchern. Es riecht nach Papier und Magie.

Von der Decke hängt ein großes Plakat mit einem Stallworthy-Zitat: My poems all/​Are woven out of love’s loose ends.

Also gut. Irgendwie treibt mich eine im Vorbewussten bohrende offene Frage direkt zu dem Buchregal mit der Überschrift Lebenshilfe. Mir ist klar, dass der Kauf von Werken wie Mit hundert Tricks zum Lebensglück am ehesten Lebenshilfe für den jeweiligen Autor ist. Aber hey, ich geb dem Ganzen eine Chance und zieh doch das eine oder andere Werk aus dem Regal. Will mich ins Café setzen und den Schund gemütlich durchblättern.

Doch das Café ist auch hier drinnen knallvoll. Schließlich entdeck ich in einer Nische hinter einem dicken alten Wasserrohr einen Zweiertisch, an dem nur eine Frau vor einem Bücherstapel sitzt: eine etwa siebzigjährige Dame mit granatrotem Haar und Lesebrille. Sie raucht, mit Zigarettenspitze. Schaut in die Runde wie Queen Mum. Ich kenn diesen Blick: Rechtspsychologie, drittes Semester. Nur der Name fällt mir nicht ein.

»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«, frag ich.

Die Dozentin fixiert mich glasklar und vieräugig halb über, halb durch die Brillengläser. »Sicher, junge Frau!« Sie nickt. Ihre Stimme klingt wie Cognac. »Setzen Sie sich her zu mir! Natürlich. Unbedingt. Ich bestehe darauf!«

Fehlt bloß noch, dass sie durch die Zähne pfeift. Aber ich gehorch, setz mich und bestell mir ein Jever. Schlag das oberste Buch von meinem Stapel auf, Titel: Das Harry-und-Sally-Dilemma. Nichts Neues auf den ersten zehn Seiten. Die Dame mit dem Flammenhaar mustert mich eindringlich, während ich feststell, dass Harry es schon vor 25 Jahren wusste: Männer und Frauen können keine Freunde sein, der Sex kommt ihnen immer dazwischen.

Ich ignorier den investigativen Blick meiner Tischnachbarin und nehm das nächste Buch zur Hand: Freundschaft ohne Sex. Frustrierende Keuschheitsprosa. Ein anderer Stil, dieselbe Meinung: Feierabendbier mit Tussi. Oder etwas orientalisch-lockerer: Tausendmal berührt. O weh, da kommt mir mein Bier gerade recht.

Ich schieb die Bücher beiseite und trink das halbe Glas auf ex. Nur geht das dumme Problem davon nicht weg. Dumm, dumm, dumm, summt es in meiner Hypophyse. Ich werd es wohl selbst lösen müssen. Beziehungsweise, da gibt’s nichts zu lösen. Nur auszuhalten.

»Wie ist er denn, Kindchen?«, fragt plötzlich die Cognac-Stimme. Die Professorin mit dem Flammenhaar greift über den Tisch, legt mir ihre Hand auf den Unterarm. Es ist eine braungebrannte Hexenhand mit rotlackierten Fingernägeln, über und über bedeckt von Goldringen und Altersflecken. Sieht cool aus, à la Seeräuber-Jenny.

Ich zieh den Arm nicht weg. Dafür die Augenbrauen hoch. »Er?«, frag ich, um Zeit zu gewinnen.

Die Dame nickt in Richtung der Lebenshilfe-Bücher. »Er«, sagt sie und nimmt einen Schluck vom Weißwein. »Och, Kindchen, jetzt denken Sie bestimmt, die Frau ist ein Unikum.« Madame Flammenhaar lacht wie ein Dudelsack beim Einspielen.

»Volltreffer«, erwider ich und zieh den Arm nun doch weg. »Ein übergriffiges Unikum, genauer gesagt. Außerdem kenn ich Sie. Ich hab mal eine Vorlesung in Rechtspsychologie bei Ihnen gehört.«

Sie fixiert mich durch den Rauch ihrer Mentholzigarette wie eine Priesterin ein Menschenopfer. »Nehmen Sie es nicht persönlich. Ich kann nicht anders.«

»Sie sprechen wildfremde Menschen an und stellen ihnen intime Fragen?«

Die Frau lächelt und drapiert einen feuerroten Satinschal um ihre Sonnenstudioschultern. Sie trägt ein stylisches ärmelloses Etuikleid. Auf dem rechten Oberarm prangt ein Tattoo. Ein rauchender Colt, darunter der Schriftzug Revolver Club. Sie zieht an ihrer Zigarettenspitze. Es riecht nach Shalimar und Tabak.

»Seit vierzig Jahren mach ich kaum was anderes, Kindchen.« Sie schiebt eine knallrote Visitenkarte über den Tisch. Doktor Helen Sturm, Psychotherapeutin, Rosenthaler Platz steht da. Na klar. Doktor Sturm. Ulkigerweise fühlt sich unsere Begegnung jetzt gerade genau richtig an.

»Und?«, frag ich. »Schon mal jemanden von der Freundschaft geheilt?«

»Die Freundschaft«, sagt sie und zwinkert mir zu, »ist immer die kleine Schwester der Liebe.«

Ich nehm einen Schluck Bier. Der Splitter in meinem Herzen bewegt sich beim Schlucken.

»Och, Kindchen, nun gucken Sie doch nicht so! Kopf hoch! Eine tolle Frau wie Sie! Kommen Sie, ich gebe Ihnen einen aus. Was Richtiges. Cognac mit Eis. Wir Seelenklempner trinken immer Cognac.«

»Wir Jurastudentinnen trinken alles, was wir nicht bezahlen müssen.«

Helen Sturm lacht. Sie ist auch eine tolle Frau, für ihr Alter. Wenn meine Uschis mit siebzig noch so stehen, stell ich einen Misstrauensantrag gegen das Newton’sche Gravitationsgesetz. Die Drinks kommen, wir prosten uns zu.

»Liberty Vale«, sag ich. »Libby.«

Frau Doktor mit dem Flammenhaar nippt am Cognac. »Helen. Wissen Sie, Kindchen, ich bin zu neugierig, um in Rente zu gehen. Immer bin ich neugierig. Wie zum Beispiel jetzt auf Sie. Was ist das für ein Mann, der eine Wahnsinnsfrau wie Sie dazu bringt, Bücher über platonische Freundschaft zu lesen?«

Ich muss schmunzeln. Über mich selbst. Es ist warm. Der Alkohol wirkt. Und wenn ich ehrlich bin, ich möchte wirklich darüber reden. »Er ist immer da, wenn ich ihn brauch, wissen Sie«, sag ich.

»Och, Kindchen, Details! Nun machen Sie sich doch mal locker!« Helen verdreht die Augen. »Ich will ihn dir doch nicht wegnehmen. Nur mal drüber reden.« Sie seufzt. »Ach, junge Männer, es gibt nichts Rührenderes – finden Sie nicht auch?«

Ich wehr mich noch ein bisschen. »Er ist nicht mehr zwanzig. Ich auch nicht. Der Hormonrausch ist vorbei.«

»Wie heißt er denn?« Doktor Helen spitzt den dunkelrot geschminkten Mund.

Ich atme tief durch. »Sanders«, sag ich. »Ich glaub, er hat vergessen, dass er einen Vornamen hat.«

»Sehr geheimnisvoll, was?« Fast scheint es, als stellte sie unter ihrem Flammenhaar die Ohren auf.

Ich fasse zusammen: »Er ist still, sanft, aber absolut konsequent.« Ich lass den bernsteinfarbenen Cognac im Glas kreisen. »Er ist Privatdetektiv.«

»Romantisch«, seufzt Doktor Helen genüsslich. »Klingt nicht sehr verheiratet.«

»Traumatisiert«, sag ich, halb gegen meinen Willen, »oder wie das im Fachjargon heißt.«

Helen nickt. »Mein liebes Fräulein Libby …«, sie beugt sich vor, »… wenn Sie mal ganz allgemein darüber nachdenken: Was interessiert Sie an einem Mann?«

»Die netten Körperteile, die Frauen nicht haben.« Ich muss an diese Körperteile denken. Mir wird in etwa so, als wäre mir eine Schale zartschmelzende Crème brûlée über den Bauch in die Hose gerutscht, die nun dort flambiert würde.

Doktor Helen schaut mir direkt in mein vor Aufregung bebendes limbisches System. »Falsche Antwort. Was eine Frau eigentlich braucht, ist jemand mit einer faszinierenden Persönlichkeit. Weißt du was?« Helen Sturm tippt mit dem Finger auf die lackrote Visitenkarte auf dem Tisch. »Komm doch morgen mal in meiner Sprechstunde vorbei.«

Wildes Herz

Hannes Neuhaus ist so etwas wie ein Freund. Als Sanders an der Selbstbedienungstheke des »La Moncanza« nach Espresso, Pinot Grigio und Pizza ansteht, muss er sich das eingestehen. Denn nur für einen Freund betritt er dieses Etablissement mit seinen klebrigen Aromen auf der türkischen Seite der Turmstraße.

Der Gastraum sieht aus wie das Refektorium eines italienischen Provinzklosters. Das Ambiente ist so echt wie ein Glasauge. Aus unerfindlichen Gründen ist das »La Moncanza« schon seit Jahrzehnten die Lieblingspizzeria von Neuhaus. Der Leiter des LKA 6 sitzt auf seinem Stammplatz in der Ecke, dreht wie selbstverständlich den Pfefferstreuer auf und zu.

Bis vor ein paar Jahren war Neuhaus Sanders’ Chef bei den Personenschützern. Und jetzt ist Neuhaus der neue Mann von Sanders’ Exfrau Silke. Sanders kann das sportlich sehen. Meistens. Zum Beispiel, wenn er Informationen braucht. Dann kann er sogar Pizza vom Blech mit Champignons, Peperoni und Käse für 1,20 Euro pro Stück bestellen. Ob er sie auch isst, wird sich zeigen.

Wein und Kaffee werden schwungvoll über den fleckigen Tresen geschoben. Während Sanders die Getränke zu Neuhaus trägt, sieht er sein eigenes Gesicht in den mit Muscheln eingefassten Wandspiegeln leuchten wie Schnee in einer hellen Novembernacht. Der rosige Neuhaus hingegen scheint aus einer Meditation über den Oreganogeruch aus der Küche zu erwachen. Er quittiert die Ankunft der Getränke mit einem seligen Grunzen.

Seit Neuhaus mit Silke verheiratet ist, ist er nicht mehr so hager wie früher. Es scheint ein bisschen so, als sei der Leiter des LKA 6 von einer leuchtenden Aura umgeben, wie eine Marienerscheinung. Denn gegen jede Wahrscheinlichkeit ist Silke wieder schwanger.

Die Pizzaquadrate, die der Wirt vor Sanders auf den Tresen klatscht, ziehen billige Käsefäden. Sanders braucht eine ganze Handvoll Servietten, um die durchgesuppten Pappdeckel bis zum Tisch zu balancieren. Er setzt sich Neuhaus gegenüber und riecht am Espresso. Nichts, woran man sich auf dem Totenbett erinnert.

»Hör mal, Sanders …« Neuhaus faltet ansatzlos ein Stück Pizza mit den Fingern. »Was auch immer du von mir willst, vergiss es! Ich brauch meinen Job. Gerade jetzt.«

Sanders mustert die Wasserflecke auf dem zerkratzten Aluminiumbesteck. »Konrad Trasseur«, sagt er. »Schon mal gehört?«

 

Neuhaus’ fettglänzende Lippen verziehen sich zu einem Lächeln. Entspannt schüttelt er den Kopf.

»Ein Notar mit Kanzlei in Westend. Mein Vater glaubt, Trasseur hat ihm ein faules Investment aufgeschwatzt.« Es fällt Sanders schwer, sich auf Ermitteln und Essen gleichzeitig zu konzentrieren. Eine Pizza ist chaotisch, unordentlich. Ermitteln bedeutet, Ordnung in die Dinge zu bringen. »Ich wüsste gern, ob ihr was über Trasseur habt.«

»Betrug? Nicht mein Ressort. LKA 2. Gothaer Straße.« Neuhaus genießt es, am Drücker zu sein.

»Ich frage nicht für mich«, erinnert ihn Sanders, vielleicht mit einem Hauch Schärfe zu viel.

»Hey, jetzt stress mal nicht rum!« Neuhaus zeigt mit einem Pizzastück auf Sanders’ Brust. »Überhaupt, du siehst schlecht aus, Sanders. Ausgebrannt. Du arbeitest zu viel.«

Sanders geht darüber hinweg. Er weiß, im Grunde ist Neuhaus ein anständiger Kerl mit einem ungeheuer schlechten Gewissen. »Und wenn du schon dabei bist, kannst du auch den Sohn abfragen. Oliver Trasseur. Ebenfalls im Immobiliengeschäft.«

»Du musst auch mal an was Schönes denken, nicht immer nur an das Leben der anderen, Junge. Geh doch mal wieder weg. Silke sagt, ihr seid früher ganz gern ins Kino gegangen?«

Sanders hört nur halb zu. Auf keinen Fall kann er diese Pizza einfach so essen. Seine Regel lautet: Man schaut auf der Speisekarte nach, in welcher Reihenfolge die Zutaten aufgeführt sind. Blechpizza mit Champignons, Peperoni und Käse bedeutet: Zuerst isst man die braunen Champignons, dann die grünen Peperoni, dann den gelben Käse und erst ganz zum Schluss den Boden mit der roten Tomatensoße.

»Hast du noch Kontakt zu dieser Verrückten?«, fragt Neuhaus.

»Liberty? Wenig.«

Sanders’ Gabel sucht und findet die Champignons.

»Schade.« Neuhaus legt die Stirn in Falten, knabbert an einer Peperoni. »Wahnsinnsfrau! Da würde sich jeder die Finger nach lecken, Alter.«

»Ich will nicht unhöflich sein, Hannes.« Sanders lässt den Wein im Glas rotieren. »Aber mir wär’s lieber, wenn du nicht an jeder Frau lecken wollen würdest, die mir gefällt. Wird langsam zur Gewohnheit.«

Neuhaus boxt ihm mit der olivenölverschmierten Hand gegen die Schulter. »Sie gefällt dir, was?«

Sanders sortiert die Peperoni. »Sie hat ein wildes Herz.«

Neuhaus’ klebrige Finger fühlen sich warm an auf Sanders’ Handrücken. »Bisschen frischer Wind tut dir gut. Glaub mir.«

Sanders hebt den gelben Käse von der Tomatensoße, faltet ihn mit der Gabel beiseite. Der Teig weiß wie Schnee, die Tomatensoße rot wie Blut. Sie nehmen das Blut deiner Frau, wie Pawel Krawczyk es ausgedrückt hat. Das darf nie mehr passieren. Er kann niemanden mehr lieben und verlieren, in diesem Leben nicht mehr, erst recht keine schöne Frau.

Außerdem kann sich Sanders nicht so einfach in die Hände von jemand anderem begeben. Wieso sollte sich ein Mann einem anderen Menschen ausliefern? Trotzdem muss er lächeln, wenn er an Libby denkt.

»Junge«, kommentiert Hannes, »du bist so verklemmt, du wirst ja schon rot, wenn du ’n Ausziehtisch siehst.«

Sanders legt das zerkratzte Alubesteck beiseite und steht auf. »Wenn du mir helfen willst, Hannes, besorg mir die Informationen.« Er gönnt jedem Glücklichen sein Glück. Selbst Neuhaus. Aber es gibt Grenzen. Sanders wirft seine Serviette auf den Tisch und seinen Trenchcoat über den Arm. »Meine Empfehlung an die Frau Gemahlin.«

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?