Mitternachtsnotar

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Als ich das nächste Mal wach werd, ist es wieder ein paar Männer und ein paar Tage später, wieder nachmittags. Mein Gesicht fühlt sich an wie ’ne Tüte Marshmallows.

Ich geh ins Bad, und dabei fällt mir ein, ich brauch ein Ziel. Ein anderes Ziel, als Wanja hängenzulassen. Etwas mit mehr Triumphpotenzial. Ich brauch zum Beispiel Haarextentions. Oder das neue Buch von Terézia Mora, Alle Tage, das habe ich geliebt. Schon den ersten Satz: Nennen wir die Zeit jetzt, nennen wir den Ort hier. Der Gedanke bringt mich in Schwung. Berlin ist ja berühmt für das Hier und Jetzt.

In einem Glückskeks vom Thai-Imbiss hab ich neulich den Spruch Morgen wird besser als heute gefunden. Nur leider ist ja immer wieder direkt heute. Es ist schwer, die Tage abzuleben. Die Abende sind unerträglich, aber noch schlimmer ist die dumpfe Zeit ohne Make-up, die Wartezeit, diese Zwischenzeit, in der man auf sich selbst und sein leeres Wohnzimmer und die Wände seiner Wohnung zurückgeworfen ist. Abends, für Geld, bin ich Weltklasse, nachmittags, für mich selbst, Kreisklasse.

Probehalber geh ich ins Wohnzimmer und seh mich um. Hier hat lange schon niemand mehr aufgeräumt. Es hat auch lange niemand den Anrufbeantworter abgehört. Ich stell mir ganz offiziell die Frage: Wollen Sie, Fräulein Liberty Vale, dieses Leben lieben und ehren, bis dass der Tod euch scheidet? Oh, nö, lieber nich, Euer Ehren.

Ich muss daran denken, wie Sanders mich zum Essen ausgeführt hat. Keine sechs Wochen ist das her. Hinterher fuhr er mich nach Hause, ich schaute seinem Auto nach, das sich von mir wegbewegte, über den regennassen Asphalt der Turmstraße. Sanders ist ein Mann in Schwarz-Weiß in einer Stadt aus purem Technicolor. Und was mehr ist, er trägt sein eigenes Schwarz mit sich. Wie jedes echte, tiefe, melancholische Schwarz lässt auch seines die Farben um ihn herum heller und klarer erscheinen. Kein Wunder, dass ich ihn nicht gehen lassen will. Ich hab’s trotzdem gemacht. Man kann schließlich nicht den ganzen Tag nur an sich selbst denken.

Stopp. Ich mach es mir vielleicht ein bisschen einfach. Also schön. Auf dem Anrufbeantworter sind ein paar Nachrichten von meiner Mutter. Ob ich Wanja nicht doch bei Englisch helfen könnte? Auf dem Wohnzimmertisch liegen drei Stapel ungeöffnete Post. Was mach ich bloß mit dem angebrochenen Tag? Ich könnt mir zum Beispiel ’ne Rose in den Hintern schieben und so tun, als wär ich ’ne Blumenvase. Oder ich könnt die Post aufmachen. Wenn ich nicht zu viel mit Wegrennen zu tun hätt.

Mein Magen rumort. Also wank ich zurück ins Bad, halt den Kopf unter den Wasserhahn. Duschen würde mir jetzt zu weit gehen. Das mach ich heute Abend. Außer zum Arbeiten muss ich eigentlich gar nicht auf die Straße, denn Süpermarket-Ümit stellt mir immer seine abgelaufenen Lebensmittel vor die Tür. Nett. Was Ümit nicht liefert, ist Eierlikör – damit hat er’s nicht so. Also lauf ich zumindest keine Gefahr, mir mein Selbstmitleid noch mal schönzusaufen.

Zurück im Wohnzimmer, tret ich auf den Saum meiner Schlafanzughose, rutsch aus, die Stapel mit der Post verteilen sich auf dem Teppich. Ein Brief sticht heraus. Amtlicher Recyclingpapierumschlag, freigestempelt: Berliner Justiz.

Mein Anrufbeantworter springt schon wieder an. »Deine Schwester fragt, ob du morgen Nachmittag Zeit hast. Sie versteht einfach dieses Gedicht nicht. Das ist doch sicher kein Problem, oder? Kommst du zu uns? Ich habe gebacken! Tschüssi! Küssi!«

Meine Mutter. So knallhart fröhlich wie die Nachtigallen im Hof. Sie will etwas ganz Normales. Ich bin allergisch gegen Normales. Mit Literatur kenn ich mich allerdings aus. Ah, distinctly I remember it was in the bleak December … Aber hey, über kurz oder lang werden wir eh alle tot sein. Auch wenn das jetzt vielleicht doch ein bisschen langfristig gedacht ist.

Also gut. Bin schon brav, Mama. Und ich bin mutig. Ich reiße den Justiz-Umschlag auf. Der Absender ist das Landeskriminalamt, und sie wollen mich zur Vernehmung laden, als Zeugin wegen des Verdachts des gefährlichen Eingriffs in den Luftverkehr. Zeugin? Ich fühle mich aber als Opfer. Basta. Wann soll ich dahin? Morgen, neun Uhr. Ups.

Der nächste Brief, den ich aufmach, ist von meiner Rechtsschutzversicherung. Kernsatz: Hiermit kündigen wir den zwischen uns geschlossenen Vertrag gemäß Paragraf 23b der Versicherungsbedingungen, da Sie den Versicherungsfall mutwillig herbeigeführt haben.

Okay, also denken. Aber das hilft plötzlich gar nicht mehr, sondern verstärkt lediglich meinen innigen Wunsch, meine Möbel zusammenzutreten. Ich kenn nur eine einzige Strafverteidigerin: Doktor Selma Ehrlich. Die Tochter von Süpermarket-Ümit. Selma ist so was wie eine Studienfreundin. Wir haben uns immer gut verstanden. Ihre Kanzlei ist an der Straßenecke gegenüber. Selma muss mir helfen.

Ich stell mich vor mein Bücherregal und knall die Stirn ein paarmal dagegen, bis mir ein halber Meter Suhrkamp auf den Kopf fällt. Ich hab eine fabelhafte Glückssträhne. Das Beste wäre wohl, ich würde die Wand hochklettern und mich durch die Zimmerdecke nagen.

Erweiterter Suizid

Sanders bildet sich ein, dass Fräulein Könitzer ihm ein wenig fester den Oberarm drückt, als es das beim In-den-Mantel-Helfen bräuchte. Der Mantel ist klamm.

»Wie alt ist er? Berend?«, fragt er.

»Der neue junge Herr Sanders wird im Herbst zwölf Jahre alt«, antwortet Fräulein Könitzer.

Sanders nickt und verabschiedet sich ohne weitere Sentimentalitäten.

Draußen regnet es noch immer. Er steigt in seinen Wagen. Die Tür schließt sich mit einem satten Geräusch, die Welt bleibt draußen. Er startet den Motor, fährt ein paar Hundert Meter, fährt wieder rechts ran. Kein Kaffee. Positive Väterlichkeit kann Sanders seinem Vater nun wirklich nicht nachsagen. Wenn der Mann eine Weltöffnungsfunktion in seinem Leben gespielt hat, dann beschränkt sie sich auf Sachlichkeit, Maßanzüge und die Abwesenheit von allem anderen.

Sanders hört dem Frühlingsregen auf dem Wagendach zu. Das Wasser läuft in hypnotischen Kaskaden über die Scheiben ab. Sein Kopf wird warm und schwer. Er lässt ihn gegen die Nackenstütze fallen. Er hat die ganze Nacht kein Auge zugemacht, aber er wird einen Teufel tun, tagsüber zu schlafen, auch wenn der Regen ihm noch so ein süßes Schlaflied singt. Denn wenn er während des Tages schläft, träumt er seinen Traum. Sanders hat nicht vor vielen Sachen Angst. Vor seinem Traum schon.

In seinem Traum sitzt er in einem riesigen leeren Kinosaal. Es gibt nur einen einzigen Sessel, und das ist der Sessel, auf dem er sitzt. Der Sessel steht weit vorne, direkt vor der Leinwand. Er möchte aufstehen und wegrennen, aber er kann nicht. Man hat ihn festgeschnallt, den Hals an die Rückenlehne, die Hände an die Armlehnen, die Füße an die Sesselbeine. Sein Kopf ist mit einem Stahlgestell fixiert, wie bei einem Versuchstier.

Sie wohnen damals noch in einem anderen Haus, nur ein paar Straßen von hier. Es ist ein Spätnachmittag im April 1984, früh im Jahr und doch zu spät. Endlich ist er gekommen, der Abend seiner Mutter. Sanders stellt sich das so vor, dass Veronika Sanders keinen Plan hat, es ist nur ein Versuch, ein Selbstversuch. Seine Mutter weiß, wo die Autoschlüssel sind, gefahren ist sie seit ein paar Jahren nicht mehr, sie darf ja, sie kann fahren, sie hätte üben können, aber dann ist er plötzlich da: der Abend des vielzuvielsten Tages.

Veronika Sanders erscheint ihrem Sohn in der dunkelgrauen Schleiflacktäfelung der Bibliothek wie die Weiße Frau. Es riecht nach Pronto und Pelargonien, zu ihren Flamingolippen trägt die Mutter einen beigen Yves-Saint-Laurent-Anzug und goldene Schuhe. Ihre Wimpern flattern wie schwarze Schmetterlinge, ihre vanilleblonden Locken fallen über die Nadelstreifen wie Softeis, so wie es sein soll, eine Mischung aus Paris Match und Die Moderne Hausfrau. Aber der dunkle Schleiflackspiegel zeigt die wahre Veronika, eine verlorene, schreckliche Königin mit schwarzen Adern unter der Pergamenthaut. Sie hat zu viel gelesen, sie stellt das Buch zurück, es ist das Buch des Vaters: Obscurum per Obscurius, ein Zauberbuch, das Veronika unsichtbar macht. Die Mutter wischt mit dem Jackenärmel die Fingerabdrücke vom Regal, zum letzten Mal. Ordnung ist dem Vater wichtig, auch hier in der Bibliothek, einem kalten Nierentischraum, der auf den Garten hinausgeht. Dort blühen rechter Hand die Fliederbüsche des Vaters und linker Hand die Forsythien des Vaters, dahinter färbt das Abendrot den Horizont, der niemandem gehört – niemandem oder allen, auch Martin Sanders’ Mutter. Er glaubt, dass sie den Horizont wiederhaben wollte an diesem Tag, sie wird ihn sich nehmen, ihre Haut soll wieder dick sein, sie soll wieder sichtbar werden.

Veronika Sanders hat Martins Zwillingsbruder Philip, seiner Schwester Rebecca und ihm vor dem Abendbrot Tabletten gegeben. Vitamine sollen das gewesen sein. Der neunjährige Junge weiß nicht genau, was Vitamine sind, aber er kann noch immer die Stille fühlen, mit der sein Bruder neben ihm schläft.

Martin selbst ist so übel, dass er sich erbrechen muss. Er holt sich ein Glas Wasser. Die Wasseroberfläche zittert, als er auf der Suche nach seiner Mutter die Flügeltüren der Bibliothek öffnet.

Alles hier gehört dem Vater, der Flieder im Garten, die Vanillelocken der Mutter, sogar ihre Stimme, mit der sie so beruhigend gurrt: »Sei ganz ruhig, Liebling. Es wird alles gut werden. Ich trage dich ins Auto, und dann fahren wir zum Arzt.«

»Ich hab Angst, Mama.« Martins Stimme schwindet, er weiß instinktiv, dass etwas falsch ist. »Ich will nicht zum Arzt, morgen ist …«

Die Frage, was morgen sein wird, verfliegt, als seine Mutter den Autoschlüssel vom Dielenschrank nimmt. »Alles wird gut.«

 

Martin wird hochgehoben, seine Mutter stößt die Tür zur Garage mit dem Knie auf, schnallt ihn auf dem Vordersitz des Wagens an. »Du brauchst keine Angst zu haben«, flüstert sie. »Nie wieder.« Martin ist sich sicher, das ist die Wahrheit. Seine Mutter holt Philip und Rebecca, und dann: nie wieder Angst. Philip schläft so tief, dass er auch nicht aufwacht, als die Mutter ihn neben Rebecca auf dem Rücksitz anschnallt.

»Wir fahren zum Arzt«, flüstert Veronika Martin zu. Warum nehmen sie kein Taxi?, wundert sich sein benommenes Selbst. Er ist ein schmales Kind, kaum groß genug für den Anschnallgurt. Seine Mutter setzt sich unbeholfen hinter das Steuer, sie stößt den Schlüssel ins Schloss. Der Wagen springt an. Sie muss vom Schaltknüppel ablesen, wo der Rückwärtsgang ist. Ihre goldenen Pumps verhaken sich in den Pedalen. Der Wagen jault und springt rückwärts. In der Frontscheibe sieht Martin Wunderkerzenfunken, die Helligkeit hüllt den Wagen ein wie das Licht, das Sterbende sehen. Die Garage wird zum Lichttunnel, seine Mutter fährt den Wagen durch eine Waschstraße voller Licht gegen das geschlossene Garagentor. An den Scheiben läuft Feuer ab, der Wagen wird mit Feuer gewaschen, die Flammen brüllen mit Kinderstimmen, wollen Martin mit Raubtierzungen die Kindheit von der Haut lecken.

Er weiß plötzlich, niemand wird ihm helfen außer er sich selbst. Seine Autotür kann er öffnen, die hinteren Türen blockiert ein umgestürztes Regal. Er schreit seine Schwester Rebecca an, sie soll ihm helfen. Aber sie kann kaum die Augen offenhalten, sein Entsetzen ist ihr egal. Philip hängt reglos im Anschnallgurt, Martins Ebenbild, bezaubernd friedvoll in seiner Todgeweihtheit. Martin versteht nur, dass es vorbei ist. Er muss die restliche Kraft in seinem kleinen tauben Körper in die Mutter investieren. Sie schreit, aber sie wehrt sich nur wenig. Er zerrt sie aus dem Wagen, hinter sich her zurück ins Haus.

Diese Müdigkeit. Er schafft es nicht, gleichzeitig die Mutter festzuhalten und die Feuerwehr zu rufen. Die Nachbarn tun das irgendwann, viel zu spät natürlich, die Garage brennt schon lichterloh.

Immer zu spät. Sanders fährt hoch, seine Brust ist schweißnass, seine Hände haben sich um das Lenkrad seines Wagens gekrallt, die Knöchel sind weiß.

Jahrelang war Sanders nichts als ein halber Held. Er hat den falschen Menschen gerettet, die Täterin nämlich, die die Familie des Vaters zerstört hat. Jetzt ist er der letzte Sohn. Der Vater will sich an ihm trösten. Er muss ihm zu Willen sein, soll Rechtsanwalt werden und durch all die geöffneten Türen direkt ins gesellschaftliche Himmelreich marschieren. Aber Sanders hat das Tröstliche in der Selbstverleugnung nie gesehen. Die Schuldfrage hingegen hat ihn nie mehr losgelassen.

Seine fliegenden Hände starten den Wagen. Er macht sich zu viele Gedanken. Um die Vergangenheit. Vor allem aber um eine Zukunft, die er womöglich gar nicht hat.

Doktor Selma

Also rein in die Schuhe, Socken brauch ich nicht. Mantel ist linksrum. Auch egal, ich will ja nicht zur Modenschau. Unterlagen mitnehmen? Nur die Vorladung. Hab eh sonst nichts.

Draußen ist es eigentlich zu kalt für meine Schlafanzughose. Kann sein, kann auch nicht sein, dass mich alle anstarren. Aber ich muss ja nur einmal über die Turmstraße. Der braun-grüne Altneubau an der Ottostraße ist nicht gerade ein Architekturdenkmal. Im Schaufenster der türkischen Fahrschule im Erdgeschoss sehe ich eine verwahrloste Schönheit zum Eingang huschen.

Ich kenn das Haus gut. Sonst fahr ich immer in den dritten Stock. Das ist das Büro von Susis Escortagentur »Die Berlinerin«. Die Jobs, die mir dieses Etablissement vermittelt, haben mich im Leben wirklich weitergebracht. Danke, Susi. Ich frag mich, was du mit all den Provisionen gemacht hast, die ich dir schon erflirtet und erknutscht hab. Wenn du sie nicht für ein Kinderhospiz gestiftet hast, hol ich sie mir irgendwann wieder. Wenn ich nicht mehr ganz so fertig bin.

Das Holz in einer Ecke der Fahrstuhlkabine ist feucht, es stinkt. Oder bin ich das etwa? Ich drück die Zwei: Doktor Selma Ehrlich, Rechtsanwältin. Mit dem Finger zieh ich nach, was jemand ins Tableau geritzt hat: Hurntöschta21. Luft anhalten, zweiter Stock. Der Gestank steigt nicht mit mir aus.

Ich klingel. Es summt, die Tür springt auf. Dahinter alles schnieke, so weiß-glatter Designlook, softes Licht, Kunst. Ein Typ hinter dem Empfang. Dunkel, Haare lockig, zurückgegelt, weißes Hemd, offener Kragen. »Bitte?«, fragt er.

»Guten Tag, Meista«, sag ich und zieh die Nase hoch. Damit hab ich seine volle Aufmerksamkeit. »Liberty Vale. Sorry, aber ich brauch jetzt mal eure Hilfe.« Der Junge hinterm Tresen ist so ein fragiler Orientbeau, vielleicht Mitte zwanzig, also ein paar Jährchen zu jung für mich. Trotzdem Ehering. Wie der mich anstarrt. Wenn der wüsste, wie flexibel ich bin. An bestimmten Körperstellen. »Bin ich jetzt Anwalts Liebling, Süßer?«, kumpel ich ihn an und knall schlitzohrig meine Versicherungskarte auf den Tresen.

Der Mann kommt hinter dem Empfang hervor. Er riecht besser als der Fahrstuhl. Nimmt die Karte. Schiebt mich zu einer Sitzecke. »Kaffee?«, fragt er.

»Wenn ihr nix anderes habt.«

»Doch, aber das zahlt Ihre Rechtsschutz nicht.«

Wenn der wüsste, was die noch alles nicht zahlt. Aber weiß er ja nicht. Er verschwindet, rumort rum. Ich zähl die Tapetenmuster, die schlingern so möbiusmäßig ineinander, ganz schlecht wird mir davon, dann ist der Hübsche wieder da. Der Kaffee ist klein, riecht aber klasse.

»Kommen Sie«, sagt er. »Seltsamerweise will Doktor Ehrlich Sie gleich sehen.«

Ich zwinker ihm zu und kipp den Kaffee runter.

Selma kommt hinter einem total zugepackten Schreibtisch hervor. Auch auf dem Boden und auf dem Sofa stapeln sich Akten. Sie lacht, als sie meinen Blick sieht. »Das muss so«, sagt sie und umarmt mich ohne Zögern, »sonst denken die Mandanten noch, man hätte weiter nichts zu tun.«

Selma ist klein, hat dunkles Haar, einen Pagenschnitt, Grübchen. Ihr Kostüm ist so seriös, dass es auch allein bei Gericht erscheinen könnte.

»Du hast einen Schlafanzug an«, stellt sie fest.

»Das ist nur …«, wie sag ich das jetzt?, »… situationsbedingt. Genau. Aber hey, sag mal, der Typ da draußen, sitzt der auf deinem Schoß, wenn du ihm diktierst?«

»Melek? Och, nö. Sie’s ’n Transgender. Nicht mein Fall.«

Wir lachen beide. Selma, weil ich reingefallen bin, ich vor allem, weil es mir peinlich ist.

»Ich bin sonst nicht Macho«, entschuldige ich mich. Offenbar bin ich zu verwirrt, um Männlein und Weiblein zu unterscheiden.

»Jetzt hör mal, Libby.« Selma lehnt sich vor. »Ich warte schon ewig darauf, dass du bei mir aufschlägst. Das ganze Viertel spricht darüber. Papa sagt, er hängt dir Essen an die Tür.«

»Ich … Nett von deinem Papa. Sag ihm das mal.« Ich will plötzlich nur noch, dass es vorbei ist. Alles. Ich nerve, und ich weiß es selbst. »Pass auf, Selma, ich hatt mal einen Traumjob. Jetzt hab ich Burnout, glaub ich. Manchmal braucht man halt Zeit für sich. Diese Zeit ist jetzt rum.« Ich schiebe ihr die Post rüber.

Sie liest. »Damit kommst du heute? Das ist morgen, Mann, morgen!« Sie schüttelt den Kopf.

»Ich kann da nicht allein hin«, murmel ich und denk: Hilf mir, Selma!

»Ganz ruhig, Libby.« Selma schiebt eine Packung Kleenex über den Tisch. »Wir machen das schon. Ich helfe dir. Niemand muss zu einer polizeilichen Vernehmung erscheinen. Und die können dich auch nicht zwangsweise vorführen lassen. Jetzt putz dir die Nase und erzähl erst mal alles. Von Anfang an.«

Selmas Souveränität versetzt mir einen Stich. Einerseits lieb ich sie dafür. Andererseits könnt ich auf ihrer Seite des Schreibtischs sitzen, wenn ich das Studium nicht geschmissen hätt. »Gib noch ’n Kaffee aus.« Ich schlag die Beine über. »Und übrigens muss ich leider gleich mal mit einem Geständnis anfangen, betreffs meiner Rechtsschutzversicherung.«

Familiengeheimnisse

Der frühe Abend eines sonnenlosen Maitags. In Konrad Trasseurs Kanzlei ist es kaum heller als auf der Straße. Die Wände sind mit afrikanischen Masken gepflastert. Es riecht dumpf nach staubigem Holz, wie im Ethnologischen Museum.

Trasseurs Bürofenster geht direkt auf den Lietzensee. Über dem Wasser hängt der allgegenwärtige träge Frühlingsregen. Trasseurs Assistentin reicht Sanders mit lasziver Gleichgültigkeit ein Glas. Die transparente Seide ihrer Bluse knistert, als sie seinen Arm berührt. Ihre Lippen schimmern mit ihrem Lacklederrock um die Wette.

Trasseur lächelt ihrem Hinterteil hinterher. »Ich habe meinen Asbach Uralt früher gern mit Champagner getrunken.« Sein Gesicht ist feist und braun wie das eines Großwildjägers. Seine Augen sind viel zu klein und viel zu schwarz, um Vertrauen zu erwecken.

Sanders kennt Trasseurs Gesicht bereits aus der Bunten, die er im Warteraum durchgeblättert hat. Dort ist Konrad Trasseur mit seiner Frau Waltraud abgebildet – sie tanzen auf dem Investorenball in Saint-Tropez mit dem Geldadel aus aller Welt in den Morgen. Mit ihrer Brathähnchenbräune und ihrer goldenen Robe erinnert ihn Waltraud Trasseur an ein halbgegessenes Ferrero Rocher. Dabei hat sie das Geld, nicht der Notar. Liebe macht dumm, denkt Sanders. Das ist eine universelle Wahrheit, und Trasseur ist nicht der einzige Mann auf der Welt, der sich auf dieser Grundlage ein schönes Leben macht.

»Es ist eine verrückte Zeit, Herr Sanders.« Der Notar nippt mit seinen Teewurstlippen am Glas. »Ich kenne Ihren Vater schon so viele Jahre. Er hat nie erwähnt, dass er einen erwachsenen Sohn hat.«

Sanders riecht am Asbach. Wenn einem so viel Gutes widerfährt … »Sie haben meinem Vater ein Direktinvestment empfohlen«, sagt er, »Am Rabennest. Klingelt da was?«

»Wenn ich gewusst hätte, dass Rainhard so einen smarten Sohn hat, hätte ich Sie ja schon längst mal zu unseren Incentives für Interessenten eingeladen. Sicher machen Sie auf dem Golfplatz eine hervorragende Figur.«

»Bitte beantworten Sie einfach nur meine Frage.«

Trasseur lacht. »Nehmen Sie’s nicht so schwer, Junge. Mit der Familie geht es mir nicht anders als Ihrem Vater. Ich habe Millionen von Euros auf der Bank und halte mehr Immobilienanteile als Donald Trump. Aber ich habe keine Ahnung, was meine Familie so macht.«

»Ich mag es nicht, wenn man mich anlügt.« Sanders legt das Prospekt der Am Rabennest Sanierungsgesellschaft auf den Tisch.

Trasseur steht auf. Mit seinen aufgeschwemmten Hedonistenhänden zündet er sich eine Zigarette an. »Was wissen Sie über meine Familie?«

»Was in der Zeitung steht. Sie haben Ihr Geld früh geheiratet. Eine lächerliche Ehe. Ihre Frau hat sich vor ein paar Jahren in den Serpentinen oberhalb von Monte Carlo fast totgefahren. Sie haben einen Sohn, Oliver, der auch in Immobilien macht. Verlobt ist er mit Saskia Schwarz. Beide blond und beide nichts wert.«

»Ich mag Zyniker«, sagt Trasseur. »Aber Sie haben recht. In der Familie Trasseur kennt niemand den Unterschied zwischen einer Kreditkarte und, sagen wir …«

»Einer Arschkarte?«

»Die üblichen Laster der oberen Zehntausend, Herr Sanders.«

»Hatten Sie auch einen Toilettenpömpel im Briefkasten, Herr Trasseur?«

Trasseurs Augen werden schmal und hart wie Münzgeldschlitze.

»Sagen Sie Ihrem Vater, er muss sich keine Sorgen machen.«

»Oh, das tut er jetzt bereits nicht mehr. Er vertraut voll und ganz darauf, dass wir beide das Problem für ihn lösen.«

Trasseur inhaliert tief. Rauch steigt ihm aus Mund und Nase, als er sagt: »Finger weg von meinen Geschäften, junger Mann.«

»Vielleicht habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt.« Sanders steht auf, nimmt eine besonders scheußliche Maske von der Wand, dreht sie hin und her. »Behandeln Sie die Rabennest-Mieter fair. Dann sehen Sie mich nie wieder. Andernfalls …« Er hält sich die Maske vors Gesicht.

Trasseurs Wohlstandsgesicht wird blass, der ganze Mann schwillt an. »Sie drohen mir? Das ist schlechter Stil. Und außerdem eine Nummer zu groß für Sie.« Seine Nasenflügel blähen sich wie die Schallblasen eines paarungsbereiten Frosches. »In Ihrem eigenen Interesse, lassen Sie mich das machen. Meine Familie hat Verbindungen. Wir hängen das nicht gern so hoch, aber wir haben Einfluss.«

Sanders legt die Maske neben das Brandweinglas auf den Schreibtisch. »Unter diesen Umständen bin ich überzeugt, dass Sie Richtig von Falsch unterscheiden können, Herr Trasseur.«

 

Der Notar hat genug Klasse, um die Kurve zu kriegen. »Ein Mann macht oft jede Menge Quatsch für Geld, wissen Sie«, sagt er.

Sanders kennt diesen sentimentalen Tonfall, der meist ein Geständnis einleitet. »Dafür sind wir beide das beste Beispiel«, entgegnet er.

»Männer sind nichts gegen Frauen.« Trasseur grinst wie der Erleuchtete. »Sie machen sich keine Vorstellungen, was meine Frau alles für Geld tun würde, Junge. Sie kennen Waltraud nicht. Gegen Waltraud bin ich sanft wie ein Lamm.«

»Ihre Familiengeheimnisse sind bei mir in den besten Händen.«