Am Anfang war der Mord

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Verwandte hinters Licht geführt
Jakob, Laban und Rahel

Es gehört zur Ironie der biblischen Geschichte, dass der Betrüger Jakob am Ziel seiner Flucht wenig später selbst Opfer eines raffinierten Betruges wird. Sein Onkel Laban jubelt ihm die weniger attraktive und ältere seiner beiden Töchter unter, obwohl Jakob es auf die schönere und jüngere abgesehen hatte. Jakob revanchiert sich durch eine nicht ganz astreine Abmachung über die Verteilung der Viehbestände, durch die er sich auf Kosten Labans bereichern kann. Das seltsame Zuchtverfahren, das er dabei anwendet, geht von der magischen Vorstellung aus, dass optische Eindrücke während der Zeugung oder Schwangerschaft das Aussehen der Nachkommen beeinflussen können. Schließlich kommt es jedoch zum Bruch zwischen Jakob und seinem Onkel und der zu großem Besitz gekommene Schwiegersohn macht sich mit seinen beiden Frauen aus dem Staub.

In die Fluchtepisode ist eine kleine Diebstahlgeschichte eingewoben, die Laban in der Rolle eines ohnmächtigen Ermittlers, Rahel hingegen als eine durchtriebene, mit allen Wassern gewaschene Gaunerin zeigt. Bei dem »Hausgott«, den sie entwendet und mit weiblicher List vor den Nachforschungen ihres Vaters versteckt, handelt es sich um eine kleine Götterstatue, der Schutzfunktion zugeschrieben wurde.

Bei all diesen üblen Machenschaften im Verwandtenkreis sieht Gott zu, ohne einzugreifen. Trotz aller Lumpereien Jakobs lässt er keinen Zweifel daran, dass er auf dessen Seite steht. Allerdings erscheint Gott auch Laban im Traum, weshalb es letztlich sein Verdienst ist, dass der Konflikt nicht in Gewalt endet, sondern mit einem Vertrag friedlich beigelegt wird. In ihm regeln Jakob und Laban ihre Beziehung und halten fest, dass Gott selbst über die Einhaltung der Abmachungen wachen soll. (1.Mose/Genesis 29,1-30; 30,25–32,1)

Jakob machte sich auf den Weg und wanderte weiter, dem Steppenland im Osten zu. Eines Tages kam er am Rand der Steppe zu einem Brunnen, aus dem die Hirten der Gegend ihr Vieh tränkten. Drei Herden Schafe und Ziegen lagerten dort; aber der große Stein lag noch auf dem Brunnenloch. Die Hirten warteten für gewöhnlich, bis alle Herden beisammen waren; dann schoben sie den Stein weg, tränkten die Tiere und schoben den Stein wieder an seinen Platz.

»Meine Brüder, wo seid ihr zu Hause?«, fragte Jakob die Hirten.

»In Haran«, antworteten sie.

Er fragte weiter: »Kennt ihr dort Laban, den Sohn Nahors?«

»Gewiss«, sagten sie.

»Geht es ihm gut?«, wollte Jakob wissen.

»O ja«, war die Antwort; »da drüben kommt gerade seine Tochter Rahel mit ihrer Herde!«

»Warum wartet ihr eigentlich hier?«, sagte Jakob. »Die Sonne steht noch hoch und es ist zu früh, um die Herden zusammenzutreiben. Tränkt sie und lasst sie wieder weiden!«

Die Hirten erwiderten: »Das geht nicht! Erst müssen die anderen Herden hier sein. Dann schieben wir miteinander den Stein weg und geben dem Vieh zu trinken.«

Während er noch mit ihnen redete, war auch schon Rahel mit der Herde herangekommen. Sie war Hirtin und hütete die Schafe und Ziegen ihres Vaters. Jakob sah Rahel und ihre Herde, und er sagte sich: »Sie ist die Tochter Labans, des Bruders meiner Mutter, und das hier sind die Schafe und Ziegen Labans, des Bruders meiner Mutter!« Und er ging zum Brunnen, schob den Stein zur Seite und tränkte die Tiere Labans, des Bruders seiner Mutter. Dann küsste er Rahel und weinte laut. Er sagte ihr, dass er der Neffe ihres Vaters und ein Sohn von Rebekka sei; und sie lief zu ihrem Vater und erzählte es ihm.

Als Laban hörte, dass der Sohn seiner Schwester gekommen war, lief er Jakob entgegen. Er umarmte und küsste ihn und nahm ihn mit sich in sein Haus. Jakob erzählte ihm, was ihn hergeführt hatte. Als Laban alles gehört hatte, sagte er zu ihm: »Ja, du bist wahrhaftig mein eigen Fleisch und Blut!«

Jakob war nun schon einen Monat lang im Haus seines Onkels. Eines Tages sagte Laban zu ihm: »Du sollst nicht umsonst für mich arbeiten, nur weil du mein Verwandter bist. Was willst du als Lohn haben?«

Nun hatte Laban zwei Töchter, die ältere hieß Lea, die jüngere Rahel. Lea hatte glanzlose Augen, Rahel aber war ausnehmend schön. Jakob liebte Rahel und so sagte er: »Gib mir Rahel, deine jüngere Tochter, zur Frau! Ich will dafür sieben Jahre bei dir arbeiten.«

Laban sagte: »Ich gebe sie lieber dir als einem Fremden. Bleib also die Zeit bei mir!«

Jakob arbeitete bei Laban sieben Jahre für Rahel, und weil er sie so sehr liebte, kamen ihm die Jahre wie Tage vor. Danach sagte er zu Laban: »Die Zeit ist um. Gib mir jetzt die Frau, um die ich gearbeitet habe! Ich will mit ihr Hochzeit halten.«

Laban lud alle Leute im Ort zur Hochzeitsfeier ein. Aber am Abend führte er nicht Rahel, sondern Lea ins Brautgemach und Jakob schlief mit ihr. Als Dienerin gab Laban ihr seine Sklavin Silpa.

Am Morgen sah Jakob, dass es gar nicht Rahel, sondern Lea war. Da stellte er Laban zur Rede: »Warum hast du mir das angetan? Ich habe doch um Rahel gearbeitet! Warum hast du mich betrogen?«

»Es ist bei uns nicht Sitte«, erwiderte Laban, »die Jüngere vor der Älteren wegzugeben. Verbringe jetzt mit Lea die Hochzeitswoche, dann geben wir dir Rahel noch dazu. Du wirst dann um sie noch einmal sieben Jahre arbeiten.«

Jakob ging darauf ein. Nachdem die Woche vorüber war, gab Laban ihm auch Rahel zur Frau. Als Dienerin gab er Rahel seine Sklavin Bilha. Jakob schlief auch mit Rahel, und er hatte sie lieber als Lea. Er blieb noch einmal sieben Jahre lang bei Laban und arbeitete für ihn.

Nachdem Rahel Josef geboren hatte, sagte Jakob zu Laban: »Lass mich nun frei! Ich möchte in meine Heimat zurückkehren. Gib mir meine Frauen und Kinder, die ich mit meiner Arbeit verdient habe, und lass mich ziehen! Du weißt, wie ich mich mit aller Kraft für dich eingesetzt habe.«

Aber Laban erwiderte: »Erweise mir die Gunst, noch zu bleiben! Ich habe genau gemerkt, dass der HERR mich deinetwegen gesegnet und mir Wohlstand geschenkt hat. Was willst du künftig als Lohn? Ich gebe dir, was du verlangst.«

Jakob sagte: »Du weißt ja, was ich für dich getan habe und wie dein Vieh sich vermehrt hat. Bevor ich kam, hattest du nur ein paar Tiere, und nun sind daraus so riesige Herden geworden. Für jeden meiner Schritte hat der HERR dich gesegnet. Jetzt muss ich endlich einmal an mich selbst denken und für meine Familie sorgen!«

»Sag doch, was verlangst du als Lohn?«, fragte Laban.

»Gar nichts«, sagte Jakob; »du musst nur eine einzige Bedingung erfüllen, dann werde ich auch weiterhin für deine Herden sorgen: Ich werde heute aus deiner Herde alle schwarzen, schwarz gefleckten und schwarz gesprenkelten Schafe und alle weiß gescheckten und weiß gesprenkelten Ziegen entfernen. Wenn danach trotzdem noch ein gesprenkeltes oder geflecktes Ziegenlamm oder ein schwarzes Schaflamm geworfen wird, soll es mir als Lohn gehören. Du wirst künftig auf einen Blick sehen können, ob ich ehrlich gegen dich bin oder ob ich dich bestohlen habe: Die Farbe meiner Tiere wird für mich zeugen.«

»Einverstanden!«, antwortete Laban. »Wir machen es, wie du vorgeschlagen hast.«

Er suchte noch am gleichen Tag aus seiner Herde alle Ziegen und Ziegenböcke heraus, an denen etwas Weißes war, und alle Schafe, an denen etwas Schwarzes war. Er gab sie seinen Söhnen, und die mussten damit drei Tagereisen weit wegziehen. Die restliche Herde blieb unter der Aufsicht Jakobs.

Nun schnitt sich Jakob Zweige von Pappeln, Mandelbäumen und Platanen und schälte Streifen von der Rinde ab. Diese weiß gestreiften Stecken legte er in die Tränkrinnen, wenn die Tiere zum Trinken kamen; denn er wusste, dass sie sich dort paarten. Und weil die Tiere beim Anblick der Stäbe begattet wurden, warfen sie lauter gestreifte, gesprenkelte und gescheckte Junge. Außerdem ließ Jakob die Tiere bei der Paarung in Richtung auf die gestreiften und dunkelfarbigen Tiere der Herde Labans blicken. Die jungen Tiere nahm Jakob beiseite und bildete eine eigene Herde daraus. Er legte die Stecken aber nur dann in die Tränkrinnen, wenn die kräftigen Tiere sich begatteten; bei den schwächlichen Tieren tat er es nicht. So bekam Jakob die kräftigen Jungtiere und Laban die schwachen. Auf diese Weise wurde Jakob sehr reich und besaß schließlich viele Herden, dazu Esel, Kamele, Sklaven und Sklavinnen.

Jakob kam zu Ohren, wie die Söhne Labans über ihn redeten. »Sein ganzer Reichtum gehört eigentlich unserem Vater«, sagten sie. »Alles, was er hat, hat er uns weggenommen.«

Auch Laban war ihm nicht mehr so wohlgesinnt wie früher. Wenn Jakob ihn sah, konnte er es deutlich an seinem Gesicht ablesen. Da sagte der HERR zu Jakob: »Kehre in das Land deiner Vorfahren und zu deinen Verwandten zurück! Ich werde dir beistehen.«

Jakob ließ Rahel und Lea zu sich auf die Weide rufen. Er sagte zu ihnen: »Ich merke genau, dass euer Vater mir nicht mehr so freundlich begegnet wie früher. Aber ich bin nur deshalb so reich geworden, weil der Gott meines Vaters mir zur Seite stand. Ihr wisst selbst, wie ich mit meiner ganzen Kraft für euren Vater gearbeitet habe. Er hat mich betrogen und meinen Lohn zehnmal verändert; aber Gott hat nicht zugelassen, dass er mir schaden konnte. Wenn euer Vater sagte: ›Du bekommst die Gesprenkelten als Lohn‹, wurden lauter gesprenkelte Tiere geboren; und wenn er sagte: ›Nein, die Gestreiften‹, gab es lauter gestreifte. Gott selbst hat die Herden eurem Vater genommen und mir gegeben. Während der Brunstzeit der Tiere sah ich im Traum, dass alle Böcke, die die Schafe und Ziegen besprangen, gestreift, gesprenkelt und gescheckt waren. Der Engel Gottes rief mich im Traum beim Namen, und als ich antwortete, sagte er: ›Sieh genau hin: Alle Böcke sind gestreift, gesprenkelt und gescheckt; denn ich habe gesehen, was Laban dir antut. Ich bin der Gott, der dir in Bet-El begegnet ist; dort hast du mir einen Stein geweiht und ein Gelübde getan. Zieh jetzt aus diesem Land fort und geh in deine Heimat zurück.‹«

 

Rahel und Lea antworteten Jakob: »Was haben wir noch von unserem Vater zu erwarten? Er hat uns wie Fremde behandelt, verkauft hat er uns und das Geld hat er für sich verbraucht. Uns und unseren Kindern steht zu, was Gott unserem Vater weggenommen hat. Tu, was Gott dir gesagt hat!«

Da setzte Jakob seine Frauen und Kinder auf die Kamele, nahm sein ganzes Vieh und alles, was er in Mesopotamien erworben hatte, und machte sich auf den Weg ins Land Kanaan zu seinem Vater Isaak.

Laban war gerade zur Schafschur gegangen. Rahel benutzte die Gelegenheit und entwendete ihm seinen Hausgott.

Jakob hielt seinen Aufbruch vor dem Aramäer Laban geheim. Fluchtartig machte er sich auf und davon, überquerte den Eufrat und zog in Richtung auf das Bergland Gilead.

Zwei Tage später erfuhr Laban, dass Jakob geflohen war. Mit allen Männern aus seiner Familie jagte er hinter ihm her, und nach sieben Tagen holte er ihn im Bergland Gilead ein. Gott aber erschien dem Aramäer Laban in der Nacht im Traum und sagte zu ihm: »Hüte dich, mit Jakob anders als freundlich zu reden!«

Als Laban Jakob einholte, hatte Jakob gerade seine Zelte im Bergland aufgeschlagen. Auch Laban und seine Verwandten schlugen dort ihre Zelte auf. Laban sagte zu Jakob: »Warum hast du mich hintergangen und meine Töchter wie Kriegsgefangene weggeschleppt? Warum hast du dich heimlich davongemacht und mir nichts gesagt? Ich hätte dir gerne mit Gesang und Zithern und Handpauken das Geleit gegeben. Warum hast du mir nicht erlaubt, meine Töchter und Enkel zum Abschied zu küssen? Das war nicht klug von dir! Ich hätte ja die Macht, mich an euch zu rächen; aber der Gott eures Vaters hat mich heute Nacht gewarnt: ›Hüte dich, mit Jakob anders als freundlich zu reden!‹ Nun gut, du hast mich verlassen, weil es dich nach Hause zog; aber warum hast du mir auch noch meinen Hausgott gestohlen?«

Jakob erwiderte: »Ich hatte Angst, du würdest nicht zulassen, dass deine Töchter mitkommen. Aber deinen Hausgott? Wenn du ihn hier bei irgendjemand findest – die Person muss sterben! Durchsuche alles in Gegenwart der Männer, die du mitgebracht hast, unserer Verwandten, und nimm dir, was dir gehört.«

Jakob wusste nämlich nicht, dass Rahel den Hausgott mitgenommen hatte.

Laban durchsuchte das Zelt Jakobs, das Zelt Leas und das Zelt der beiden Nebenfrauen – vergeblich. Dann ging er zu Rahel. Sie hatte den Hausgott in den korbförmigen Sattel ihres Kamels gelegt und sich darauf gesetzt. Ihr Vater durchsuchte das ganze Zelt; sie aber sagte zu ihm: »Sei nicht böse, wenn ich nicht vor dir aufstehe! Ich habe gerade meine Tage.«

Laban durchsuchte alles, konnte aber nichts finden. Da wurde Jakob zornig und begann mit Laban abzurechnen. »Was für ein Verbrechen habe ich begangen«, sagte er, »dass du mir so wild nachgejagt bist? Meinen ganzen Hausrat hast du durchwühlt; hast du etwas gefunden, was dir gehört? Lege es hier vor meinen und deinen Leuten auf die Erde, damit sie entscheiden, wer von uns beiden im Recht ist! Zwanzig Jahre lang bin ich nun bei dir gewesen, und während der ganzen Zeit haben deine Schafe und Ziegen keine Fehlgeburt gehabt. Nicht einen einzigen Bock von deiner Herde habe ich für mich geschlachtet. Wenn ein Schaf von Raubtieren gerissen wurde, durfte ich es nicht zu dir bringen, um meine Unschuld zu beweisen; ich musste es selbst ersetzen, ganz gleich, ob es bei Tag oder bei Nacht geraubt worden war. Tagsüber litt ich unter der Hitze und nachts unter der Kälte, und oft fand ich keinen Schlaf. Zwanzig Jahre habe ich das nun auf mich genommen; vierzehn habe ich um deine Töchter gearbeitet und sechs um die Herde, und du hast meinen Lohn zehnmal verändert. Wenn der Gott meines Großvaters Abraham und der Gott, vor dem mein Vater Isaak zitterte, mir nicht geholfen hätte, dann hättest du mir alles genommen und mich mit leeren Händen ziehen lassen. Aber Gott hat gesehen, wie ich mich für dich abgearbeitet habe und wie schlecht du mich behandelt hast; deshalb hat er sich in der vergangenen Nacht auf meine Seite gestellt.«

Laban sagte zu Jakob: »Meine Töchter gehören mir, ihre Söhne gehören mir und diese Herde gehört mir; alles, was du hier siehst, ist mein Eigentum. Aber was kann ich jetzt noch für meine Töchter tun und für die Söhne, die sie geboren haben? Wir wollen einen Vertrag miteinander schließen und ein Zeichen errichten, das uns beide daran erinnert.«

Dann nahm Jakob einen großen Stein und stellte ihn als Erinnerungszeichen auf. Er forderte seine Verwandten auf, Steine zu sammeln und sie zu einem Hügel zusammenzutragen. Auf diesem Steinhügel hielten sie ein gemeinsames Mahl. Laban nannte ihn Jegar-Sahaduta und Jakob Gal-Ed.

Laban sagte: »Dieser Hügel ist Zeuge für unsere Abmachung.« Daher bekam er den Namen Gal-Ed (Zeugenhügel). Er wird aber auch Mizpa (Wachtturm) genannt, weil Laban fortfuhr: »Möge der HERR ein wachsames Auge auf jeden von uns haben, nachdem wir auseinander gegangen sind! Nimm dich davor in Acht, meine Töchter schlecht zu behandeln oder noch weitere Frauen zu nehmen. Kein Mensch ist hier als Zeuge für unsere Abmachung, Gott ist unser Zeuge!«

Weiter sagte Laban zu Jakob: »Dieser Steinhügel und dieses Steinmal, das ich zwischen uns errichtet habe, sie sollen uns warnen, dass keiner von uns die Grenze zum andern in böser Absicht überschreitet. Der Gott Abrahams und der Gott Nahors sollen den bestrafen, der sich nicht daran hält!«

Jakob schwor bei dem Gott seines Vaters Isaak, sich an diese Abmachung zu halten. Dann schlachtete er dort im Bergland ein Opfertier und lud seine Verwandten zum Opfermahl ein. Sie aßen mit ihm und blieben dort über Nacht. Am anderen Morgen küsste Laban seine Töchter und Enkel zum Abschied und segnete sie. Dann kehrte er in seine Heimat zurück.

Mordanschlag und Menschenhandel
Josef und seine Brüder

Die Familienstreitigkeiten setzen sich auch in der Generation von Jakobs Kindern fort. Dort trifft es vor allem den jungen Josef. Als ältester Sohn von Jakobs besonders geliebter Frau Rahel wird Josef von seinem Vater gegenüber seinen elf Brüdern bevorzugt. Die Brüder gehen in ihrer Eifersucht so weit, einen Mordanschlag zu planen. Nur durch den Einspruch des ältesten Bruders wird die Tat zunächst verhindert und durch Freiheitsberaubung mit Tötungsabsicht ersetzt. Doch auch dabei bleibt es nicht lange. Vielmehr mündet das Eifersuchtsdrama schließlich ins Verbrechen des Menschenhandels. Und auch zur Vertuschung der Tat fällt den Brüdern etwas ein. Durch eine List machen sie den Vater glauben, Josef sei von einem wilden Tier zerrissen worden.

Auch im Fall Josef zieht Gott die Täter nicht selbst zur Rechenschaft. Die Ahndung des Verbrechens bleibt hier vielmehr in der Hand des Opfers und dieses denkt sich dafür etwas ganz Besonderes aus. Dennoch spielt auch Gott in diesem Kriminalfall eine Rolle. Er ist es nämlich, der Josef durch seinen Aufstieg zum Minister des Pharaos überhaupt in die Lage versetzt, mit seinen Brüdern abzurechnen. Am Ende fingiert Josef sogar selbst eine Straftat – den Diebstahl seines silbernen Bechers –, um die Brüder unter Druck zu setzen und zu prüfen, ob sie inzwischen weniger skrupellos sind als früher. Die anfängliche Kriminalgeschichte um den Mordanschlag auf Josef wird hier also in einer zweiten Krimiepisode gespiegelt. Dabei agiert Josef wie ein durchtriebener Kommissar, der die Täter, nachdem sie längst durchschaut sind, nicht einfach dingfest macht, sondern ihnen eine Falle stellt und sie darin zappeln lässt, bis sie Reue zeigen.

Wie die Geschichte ausgeht, wird hier nicht verraten. Nur so viel sei gesagt: Sie folgt dem Motto, das Josef am Ende selbst formuliert: »Ihr hattet Böses mit mir vor, aber Gott hat es zum Guten gewendet.« (1.Mose/Genesis 37,2-36; 42,1–45,15)

Dies ist die Familiengeschichte Jakobs:

Jakobs Sohn Josef war noch ein junger Bursche von siebzehn Jahren. Er half seinen Brüdern, den Söhnen von Bilha und Silpa, beim Hüten der Schafe und Ziegen. Er hinterbrachte seinem Vater immer, was die Leute sich von dem Treiben seiner Brüder erzählten.

Jakob hatte Josef von allen seinen Söhnen am liebsten, weil er ihm erst im Alter geboren worden war. Deshalb ließ er ihm ein prächtiges Gewand machen. Als seine Brüder sahen, dass der Vater ihn mehr liebte als sie alle, begannen sie ihn zu hassen und konnten kein freundliches Wort mehr mit ihm reden.

Einmal hatte Josef einen Traum. Als er ihn seinen Brüdern erzählte, wurde ihr Hass noch größer. »Ich will euch sagen, was ich geträumt habe«, fing Josef an. »Wir waren miteinander auf dem Feld, schnitten Getreide und banden es in Garben. Auf einmal stellt sich meine Garbe auf und bleibt stehen. Und eure Garben, die stellen sich im Kreis um sie herum und verneigen sich vor meiner.«

Seine Brüder sagten zu ihm: »Du willst wohl noch König werden und über uns herrschen?«

Wegen seiner Träume und weil er sie so offen erzählte, hassten ihn seine Brüder noch mehr. Er hatte nämlich noch einen anderen Traum, und auch den erzählte er ihnen. »Ich habe noch einmal geträumt«, sagte er. »Ich sah die Sonne, den Mond und elf Sterne. Stellt euch vor: Die alle verneigten sich vor mir.« Als er das seinem Vater und seinen Brüdern erzählte, fuhr sein Vater ihn an und sagte: »Was ist das für ein dummer Traum, den du da geträumt hast? Ich und deine Mutter und deine Brüder, wir alle sollen uns vor dir niederwerfen?«

Die Brüder waren eifersüchtig auf Josef; aber sein Vater behielt die Sache im Gedächtnis.

Einmal waren Josefs Brüder unterwegs; sie weideten die Schafe und Ziegen ihres Vaters in der Nähe von Sichem. Da sagte Jakob zu Josef: »Du weißt, deine Brüder sind mit den Herden bei Sichem. Ich will dich zu ihnen schicken.«

»Ich bin bereit«, antwortete Josef.

Sein Vater gab ihm den Auftrag: »Geh hin und sieh, ob es deinen Brüdern gut geht und ob auch bei den Herden alles in Ordnung ist. Dann komm wieder und bring mir Nachricht!«

So schickte Jakob ihn aus dem Tal von Hebron nach Sichem. Dort traf ihn ein Mann, wie er auf dem Feld umherirrte, und fragte ihn: »Was suchst du?«

»Ich suche meine Brüder«, sagte Josef, »kannst du mir sagen, wo sie ihre Herden weiden?«

Der Mann antwortete: »Sie sind nicht mehr hier. Ich hörte, wie sie sagten: ›Wir wollen nach Dotan gehen!‹«

Da ging Josef ihnen nach und fand sie in Dotan. Die Brüder sahen Josef schon von weitem. Noch bevor er herangekommen war, stand ihr Entschluss fest, ihn umzubringen. Sie sagten zueinander: »Da kommt der Kerl, dem seine Träume zu Kopf gestiegen sind! Schlagen wir ihn doch tot und werfen ihn in die nächste Zisterne! Wir sagen einfach: Ein Raubtier hat ihn gefressen. Dann wird man schon sehen, was aus seinen Träumen wird!«

Als Ruben das hörte, wollte er Josef retten. »Lasst ihn am Leben!«, sagte er. »Vergießt kein Blut! Werft ihn in die Zisterne da drüben in der Steppe, aber vergreift euch nicht an ihm!«

Er hatte die Absicht, Josef heimlich herauszuziehen und zu seinem Vater zurückzubringen.

Als Josef bei ihnen ankam, zogen sie ihm sein Obergewand aus, das Prachtgewand, das er anhatte. Dann packten sie ihn und warfen ihn in die Zisterne. Die Zisterne war leer; es war kein Wasser darin. Dann setzten sie sich zum Essen.

Auf einmal sahen sie eine Karawane von ismaëlitischen Kaufleuten aus der Richtung von Gilead herankommen. Die Ismaëliter waren auf dem Weg nach Ägypten; ihre Kamele waren mit den kostbaren Harzen Tragakant, Mastix und Ladanum beladen.

Da sagte Juda zu seinen Brüdern: »Was nützt es uns, wenn wir unseren Bruder umbringen? Wir werden nur schwere Blutschuld auf uns laden. Lassen wir ihn leben und verkaufen ihn den Ismaëlitern; er ist doch unser Bruder, unser eigen Fleisch und Blut!«

Die anderen waren einverstanden. Als die reisenden Kaufleute herankamen, zogen sie Josef aus der Zisterne. Sie verkauften ihn für 20 Silberstücke an die Ismaëliter, die ihn nach Ägypten mitnahmen.

Als nun Ruben wieder zur Zisterne kam, war Josef verschwunden. Entsetzt zerriss er seine Kleider, ging zu seinen Brüdern und rief: »Der Junge ist nicht mehr da! Was mache ich nur? Wo bleibe ich jetzt?«

Die Brüder schlachteten einen Ziegenbock und tauchten Josefs Prachtgewand in das Blut. Sie brachten das blutbefleckte Gewand zu ihrem Vater und sagten: »Das haben wir gefunden! Ist es vielleicht das Gewand deines Sohnes?«

 

Jakob erkannte es sogleich und schrie auf: »Mein Sohn! Es ist von meinem Sohn! Ein Raubtier hat ihn gefressen! Zerfleischt ist Josef, zerfleischt!«

Er zerriss seine Kleider, band den Sack um seine Hüften und betrauerte Josef lange Zeit. Alle seine Söhne und Töchter kamen zu ihm, um ihn zu trösten, aber er wollte sich nicht trösten lassen. »Nein«, beharrte er, »voll Kummer und Gram gehe ich zu meinem Sohn in die Totenwelt hinunter!« So sehr hatte ihn der Verlust getroffen.

Die Kaufleute aber brachten Josef nach Ägypten und verkauften ihn dort an Potifar, einen Hofbeamten des Pharaos, den Befehlshaber der königlichen Leibwache.

Als Jakob erfuhr, dass es in Ägypten Getreide zu kaufen gab, sagte er zu seinen Söhnen: »Was steht ihr da und schaut einander an? Ich habe gehört, dass es in Ägypten Getreide gibt. Reist hin und kauft uns welches, sonst werden wir noch verhungern!«

Da reisten die zehn Brüder Josefs nach Ägypten, nur Benjamin, den zweiten Sohn Rahels, behielt sein Vater zu Hause. Denn er dachte: »Es könnte ihm unterwegs etwas zustoßen!«

Weil im Land Kanaan Hungersnot herrschte, zogen viele den gleichen Weg. Mit ihnen kamen die Söhne Jakobs nach Ägypten. Josef war der Machthaber im Land; wer Getreide kaufen wollte, musste zu ihm gehen.

Als nun seine Brüder hereinkamen und sich vor ihm zu Boden warfen, erkannte er sie sofort. Er ließ sich aber nichts anmerken und behandelte sie wie Fremde.

»Woher kommt ihr?«, fragte er sie streng.

»Wir kommen aus dem Land Kanaan«, antworteten sie, »wir möchten Getreide kaufen.«

Die Brüder erkannten Josef nicht, aber er wusste genau Bescheid. Er musste daran denken, was er einst in seiner Jugend von ihnen geträumt hatte, und er fuhr sie an: »Spione seid ihr! Ihr wollt erkunden, wo das Land ungeschützt ist.«

»Nein, nein, Herr!«, riefen sie. »Wir sind nur hierher gekommen, um Getreide zu kaufen. Wir alle sind Söhne eines Vaters, ehrliche Leute! Wir sind keine Spione!«

Aber Josef blieb hart: »Das ist nicht wahr«, sagte er, »ihr wollt erkunden, wo das Land ungeschützt ist.«

Sie verteidigten sich: »Wir sind zwölf Brüder, deine ergebenen Diener, Söhne eines Mannes im Land Kanaan. Der Jüngste blieb bei unserem Vater, und einer ist tot.«

Doch Josef sagte: »Ich bleibe dabei: Ihr seid Spione! Ich werde eure Behauptung prüfen: Euer jüngster Bruder muss her; sonst kommt ihr nie mehr nach Hause. Das schwöre ich beim Pharao! Einer von euch soll euren Bruder holen; ihr anderen bleibt solange gefangen. Dann wird man sehen, ob ihr die Wahrheit gesagt habt. Aber beim Pharao: Ihr seid ja doch Spione!«

Josef ließ sie für drei Tage ins Gefängnis bringen. Am dritten Tag sagte er zu ihnen: »Tut, was ich euch sage, dann bleibt ihr am Leben. Auch ich ehre Gott. Wenn ihr wirklich ehrliche Leute seid, dann lasst mir einen von euch als Geisel im Gefängnis zurück. Ihr anderen zieht nach Hause und bringt euren hungernden Familien Getreide. Aber schafft mir euren jüngsten Bruder her! Dann will ich euch glauben und ihr müsst nicht sterben.«

Die Brüder waren einverstanden. Sie sagten zueinander: »Das ist die Strafe für das, was wir unserem Bruder angetan haben. Seine Todesangst ließ uns ungerührt. Er flehte uns um Erbarmen an, aber wir hörten nicht darauf. Dafür müssen wir nun selbst solche Angst ausstehen.«

Ruben erinnerte die anderen: »Ihr wolltet ja nicht hören, als ich zu euch sagte: ›Vergreift euch nicht an dem Jungen!‹ Jetzt werden wir für seinen Tod zur Rechenschaft gezogen!«

Weil Josef sich mit ihnen durch einen Dolmetscher verständigte, ahnten sie nicht, dass er alles verstand. Die Tränen kamen ihm und er musste sich abwenden. Als er wieder sprechen konnte, ließ er Simeon festnehmen und vor ihren Augen fesseln. Dann befahl er seinen Leuten, die Säcke der Brüder mit Getreide zu füllen und jedem das Geld, mit dem er bezahlt hatte, wieder oben in den Sack zu legen. Er ließ ihnen auch noch Verpflegung für die Reise mitgeben.

Als das geschehen war, luden die Brüder ihre Säcke auf die Esel und machten sich auf den Heimweg.

Am Abend öffnete einer von ihnen in der Herberge seinen Sack, um seinen Esel zu füttern. Da sah er obenauf sein Geld liegen.

»Mein Geld ist zurückgekommen!«, berichtete er seinen Brüdern. »Hier ist es, in meinem Sack!«

Sie erschraken. Ganz niedergeschlagen sahen sie einander an und sagten: »Warum hat Gott uns das angetan?«

Als sie zu ihrem Vater Jakob nach Kanaan kamen, berichteten sie ihm alles, was sie erlebt hatten. »Der Mann, der in Ägypten die Macht hat, empfing uns sehr ungnädig«, erzählten sie. »Wir seien Spione, sagte er. Wir wehrten uns und sagten: ›Wir sind ehrliche Leute und keine Spione, zwölf Brüder sind wir; einer von uns ist tot, und der Jüngste ist bei unserem Vater im Land Kanaan geblieben.‹ Da sagte er: ›Ich werde sehen, ob ihr ehrliche Leute seid. Einer von euch bleibt hier bei mir; ihr anderen nehmt Getreide, damit eure Familien nicht hungern müssen, und zieht nach Hause. Aber schafft mir euren jüngsten Bruder her! Daran werde ich erkennen, dass ihr keine Spione seid, sondern ehrliche Leute. Dann gebe ich auch euren anderen Bruder wieder frei und ihr dürft euch ungehindert im Land bewegen.‹«

Als sie die Säcke leeren wollten, fand jeder seinen Geldbeutel oben im Sack. Jakob stand dabei, und alle erschraken. Ihr Vater Jakob sagte: »Ihr raubt mir meine Kinder! Josef ist weg, Simeon ist weg, und jetzt wollt ihr mir auch noch Benjamin nehmen. Nichts bleibt mir erspart!«

Da sagte Ruben zu seinem Vater: »Wenn ich Benjamin nicht gesund zurückbringe, darfst du dafür meine beiden Söhne töten. Vertraue ihn mir an! Ich bringe ihn dir bestimmt wieder zurück.«

Aber Jakob sagte: »Mein Sohn Benjamin wird nicht mit euch gehen! Sein Bruder Josef ist tot, er ist der Letzte von den Söhnen Rahels. Ich bin ein alter Mann; wenn ihm unterwegs etwas zustößt – der Kummer würde mich ins Grab bringen!«

Die Hungersnot lag weiter schwer auf dem Land. Als das Getreide, das die Brüder aus Ägypten mitgebracht hatten, aufgezehrt war, sagte ihr Vater zu ihnen: »Geht wieder nach Ägypten und kauft uns zu essen!«

Aber Juda gab zu bedenken: »Der Ägypter hat ausdrücklich erklärt: ›Kommt mir nicht unter die Augen ohne euren Bruder!‹ Deshalb gehen wir nur, wenn du uns Benjamin mitgibst, sonst bleiben wir hier. Ohne ihn dürfen wir uns nicht vor dem Mann blicken lassen.«

»Warum habt ihr ihm auch verraten, dass ihr noch einen Bruder habt?«, klagte Jakob.

Sie verteidigten sich: »Er hat sich so genau nach uns und nach unserer Familie erkundigt. ›Lebt euer Vater noch?‹, wollte er wissen. ›Habt ihr noch einen Bruder?‹ Da haben wir ihm wahrheitsgemäß Auskunft gegeben. Wir konnten doch nicht ahnen, dass er verlangen würde: ›Bringt euren Bruder her!‹«

Juda schlug seinem Vater vor: »Vertrau den Jungen mir an, damit wir gehen können und nicht alle vor Hunger umkommen, wir Brüder, du selbst und unsere Familien! Ich will Bürge für ihn sein, von mir sollst du ihn fordern. Mein Leben lang soll die Schuld auf mir lasten, wenn ich ihn dir nicht hierher zurückbringe. Wir wären schon zweimal wieder da, wenn wir nicht so lange gezögert hätten!«

Ihr Vater erwiderte: »Wenn es unbedingt sein muss, dann nehmt ihn mit. Aber bringt dem Ägypter als Geschenk etwas von den Schätzen unseres Landes: Honig, Pistaziennüsse, Mandeln und dazu die kostbaren Harze Mastix, Tragakant und Ladanum. Nehmt auch doppelt Geld mit, damit ihr das, was ihr in euren Säcken wiedergebracht habt, zurückgeben könnt; vielleicht war es ein Versehen. Und dann nehmt euren Bruder Benjamin und macht euch auf den Weg. Ich bete zu Gott, dem Gewaltigen, dass der Ägypter Erbarmen mit euch hat und Benjamin und euren anderen Bruder wieder mit euch heimkehren lässt. Muss ich denn alle meine Kinder verlieren?«

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