Goldmadonna

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»Sieht so aus …«, bestätigte Angelika, »… zumal im rechten Strumpf zwei Präservative und insgesamt 300 Euro steckten. Außerdem war sie extrem auffällig geschminkt.«

»Ihre aufreizende Kleidung habe ich schon beim Auffinden der Leiche bemerkt«, rekapitulierte Le Maire und ergänzte, dass er wegen des bei ihr gefundenen Geldes einen Raubmord grundsätzlich ausschließen würde. »Vielleicht ein abnormal veranlagter Kunde, ein Sadist?«, resümierte er, bevor er die Frage stellte, auf die Angelika gewartet hatte. »Geschlechtsverkehr?«

»Ja. Aber mindestens acht Stunden vor ihrem Tod.«

»Mit Präservativ?«

Angelika nickte.

»Dann wird es wohl schwierig, an die DNA ihres mutmaßlichen Mörders zu kommen«, zeigte Frederic sich enttäuscht.

»Geninformationen bekommen wir sicher. Ob diese aber dem Mörder zuzuordnen sind?« Angelika zuckte mit den Schultern, bevor sie zu bedenken gab, dass der letzte Geschlechtsverkehr weit vor dem Mord stattgefunden hatte.

*

Der erfahrene Mordermittler wusste, dass die ersten 48 Stunden nach der Tat die wichtigsten für die Ergreifung von Tätern waren. Aus diesem Grund und wegen des besonders grausamen Falles wollte er schnellstens mit seinen Leuten reden, weswegen er sie gleich am Montagmorgen zusammenrief.

Locki hatte es bereits geahnt und so wartete der mit einer Leinendecke belegte Besprechungstisch bereits mit einer Kanne Kaffee und Croissants auf die Polizisten. Genau das brauchte der Chef, bevor er mit seinem kleinen Mitarbeiterstab die bisher eher dürftigen Erkenntnisse bündelte. Anstatt selbst etwas zu sagen, ließ er Devaux den Vortritt mit ihrer Ortsanalyse.

»Weil es vom Place de la Halle aus direkt in den Friedhof geht, haben die beiden Kollegen aus Clermont den gesamten Platz unter meiner Aufsicht abgesucht. Aber ebenso wie auf dem Friedhof selbst haben wir dort nichts gefunden. Trotz der Dunkelheit haben wir die Suche in der Nacht bis zum Tor unter dem Rathaus und um die Kirche herum ausgedehnt.«

»Und?«, drängte Le Maire in seiner typisch ungeduldigen Art. Er hatte sich irgendwelche Spuren des Phantoms erhofft, das er in der Tatnacht hinter der Kirche in Clermont gesehen und vergeblich gejagt hatte.

Devaux zuckte resignierend mit den Schultern. »Außer den Schleifspuren, die sich auf dem Asphalt außerhalb des Friedhofes verloren haben, war nichts zu finden.«

»Auch keine Fußabdrücke des Flüchtenden?«

»Nein.«

»Und die Fahndung nach ihm?«

»Die wurde auf Ihre Anordnung hin unverzüglich eingeleitet. Aber …«

»Schon klar!«, unterbrach Le Maire verständnisvoll, weil ihm klar war, dass die Fahndung noch keinen Erfolg zeitigen konnte und weiterhin wohl auch nicht würde, weil der Flüchtende längst über alle Berge war. »Dann veranlasse bitte schnellstens, dass mindestens zehn, besser mehr Beamte das gesamte Dorf auf den Kopf stellen.«

Kapitel 3

Dem Niederländer Louis van Basten war es nach langen Hin und Her gelungen, das Haus am altehrwürdigen Münsterplatz mitten in Aachens Altstadt zu kaufen, in dem vor längerer Zeit mit der »Albrecht-Dürer-Stube« ein Öcher Traditionslokal beherbergt gewesen war. Und weil der Umbau des ehedem beliebten Lokals unweit des Kaiserdoms den Anforderungen des Denkmalamtes unterlag, musste er ständig nervenaufreibende Verhandlungen führen, Kompromisse eingehen … und mehr Geld ausgeben, als er eingeplant hatte. Also war ihm nichts anderes übrig geblieben, als sich schon seit Frühjahr mehr in der nordrhein-westfälischen Kaiserstadt als in seinem niederländischen Heimatort Vaals aufzuhalten. Er musste mit Hand anlegen, wo es nötig war. Aus diesem Grund hatte er sich am frühen Montagabend mit seiner Innenarchitektin verabredet.

Der große und kräftig gebaute Mann mit den zu einem Dutt zusammengebundenen Haaren verließ gerade die Kirche St. Foillan schräg gegenüber dem Dom, als Eleonore Olbrich die Krämerstraße herunterkam und winkend auf ihn zulief.

Der Witwer war an diesem Tag unter anderem nach Aachen gefahren, weil er wieder ein paar Dinge aus seiner alten Wohnung in Vaals in seine neue im oberen Stock seines Restaurants bringen musste. Seinen Umzug hatte er peu à peu organisiert. Den Termin mit der Innenarchitektin hatte er unbedingt einhalten wollen, obwohl es den gottesfürchtigen Mann in die Kirche gezogen hatte, um für seine erst vor Kurzem verstorbene Frau Aninda zu beten. Der gelernte Restaurator und Steinmetzmeister war Gott bedingungslos ergeben, beseelt von seinem Glauben an Jesus Christus und an ein Leben nach dem Tod, entweder im Himmel, im Fegefeuer oder in der Hölle … ein jeder, wo er hingehörte.

»Können Sie bitte kurz Ihre Bluetooth-Knöpfe aus Ihren Ohren nehmen?«, rief die Innenarchitektin und kreiste mit ihrem Zeigefinger vor dem rechten Ohr herum.

»Was? Ach so? Ja, natürlich. Entschuldigung. Jetzt kann ich Sie hören.«

»Mein aufrichtiges Beileid. Wie geht es Ihnen?« Eleonore Olbrich schaute den künftigen Gastwirt besorgt an. »Sie schwitzen ja und wirken abgehetzt. Ist alles in Ordnung?« Die Innenarchitektin hatte erst vor ein paar Tagen erfahren, dass van Bastens Frau Aninda durch einen tragischen Sturz die häusliche Treppe herunter einen Genickbruch erlitten hatte, während ihr Mann in Aachen gewesen sein musste. »Es tut mir leid, dass ich von der Beerdigung nichts erfahren habe. Selbstverständlich wären mein Mann und ich gekommen, um …«

»Schon gut!«, wehrte van Basten ab. »Der Herr behütet alle, die ihn lieben«, ergänzte der einerseits gebrochen, andererseits irgendwie steinern wirkende Mann, der Frauen gegenüber stets versucht hatte, Stärke zu beweisen. Um einen dementsprechenden Eindruck auch bei seiner Architektin zu erwecken, ging er nicht weiter auf das ein, was sie gesagt hatte. Stattdessen kam er gleich zum Geschäft. Dabei schlug er den Weg am Dom vorbei ein, über den Münsterplatz in Richtung des nahen Fischmarktes, vor dem sich sein zukünftiges Lokal befand.

Nachdem sie vor dem alten Kaufmannshaus mit den beiden rundbogigen Glasfronten im Erdgeschoss angekommen waren, zeigte er mit ausgebreiteten Armen zur Beschriftung über der Eingangstür. »Ich hätte dort gerne blattvergoldete Metallbuchstaben in einer breit laufenden Frakturschrift. Geht das?«

Eleonore Olbrich musste nicht überlegen. »Wir haben zwar einen Buchstaben mehr in unserer Firmierung als die bisherige Bezeichnung des Lokals mit 17 Buchstaben und zwei Wortzwischenräumen. Dafür verwendet man bei Frakturschriften Versalbuchstaben nur in Bezug auf die übliche Großschreibung. Somit gewinnen wir in der Breite etwas Platz. Es ist schade, dass im Sturz zwischen dem Erdgeschoss und dem ersten Stockwerk die Höhe zu knapp ist, um größere Lettern anbringen zu können. Deswegen müsste die ›Breite Kanzlei‹ passen und groß genug wirken.«

»Weshalb ausgerechnet diese Schrift?«, mochte van Basten wissen. Wegen seines alten Berufes kannte er diese Fraktur, die durch ihre s-förmigen Schnörkel im Aufstrich verziert ist und allein schon deswegen besticht.

Die Architektin schmunzelte, als sie ihm erklärte, dass dies ihre Lieblingsfraktur sei und die »Breite Kanzlei« im Gegensatz zu anderen Frakturschriften wie zum Beispiel der »Walbaum« schönere Großbuchstaben habe, was sich gerade beim »Z« bei der Bezeichnung »Zur Goldenen Madonna« zeigen würde. »Ich bin zwar keine Grafikdesignerin, weiß aber, dass es auf eine ›Corporate Identity‹ ankommt, die zur Art des Restaurants passt, wenn man Erfolg haben möchte. Und die Authentizität, die Ihr geplantes Speiselokal im Schatten des altehrwürdigen Kaiserdoms ausstrahlen wird, zeigt sich ja jetzt schon am bisher zusammengetragenen Interieur!«

»Sie haben recht«, nahm van Basten den Ball auf. »Das Landesamt für Denkmalpflege verbietet uns ja ein Schild und besteht auf Einzelbuchstaben. Das ist auch gut so. Wir möchten die schöne alte Fassade ja nicht verschandeln, oder? Lassen Sie uns reingehen.«

Wie meistens waren sich der feinsinnige Auftraggeber und die kreative Innenarchitektin einig. Überdies hatten sie sich von Anfang an bestens verstanden, was für eine harmonische und zielführende Zusammenarbeit zum Wohle des Objektes gesorgt hatte. Kein Wunder also, dass die beiden seit Wochen um eine persönlichere Anrede ihres Gegenübers herumeierten. Weil sie mit ihren 42 Jahren zwar fünf Jahre älter, aber eine Frau und zudem die Auftragnehmerin war, er hingegen zwar der Mann in diesem gestalterischen Duo, aber auch der Jüngere war, hatte sich bisher keiner der beiden getraut, dem anderen das »Du« anzubieten.

Im Inneren des schmalen Mittelhauses aus dem 17. Jahrhundert erwartete die beiden eine fast schaurig anmutende Szenerie. Im fahlen Licht, das sich bei tristem Herbstwetter in der bereits einsetzenden Dunkelheit durch die beiden Frontfenster ins Innere mühte, wurden sie von den dunklen Konturen mehrerer Menschen erwartet. Zumindest schien dies so. Eine einsam hängende brennende Glühbirne hellte den Raum nicht merklich auf.

»Waren Sie heute schon einmal hier?«, fragte die Architektin, weil ihr die Funzel aufgefallen war.

»Nein, nein!«, wehrte der Hausherr ab. »Offenbar habe ich gestern versehentlich vergessen, die Birne auszuknipsen!« Nachdem er den Sicherungskasten gefunden und das gesamte zur Verfügung stehende Licht angeschaltet hatte, offenbarte sich ihnen, um was es beim Interieur für dieses Lokal künftig gehen würde: sakrale Gegenstände, Andachtsbilder … und Heiligenfiguren, die hier überall so achtlos herumstanden und herumlagen, als wenn sie nichts wert wären. Neben den Pestheiligen Rochus und Sebastian lehnten ein Wendelin und eine Barbara an der Wand, während mitten im Raum ein übergroßer Johannes auf drei Balken zu ihren Füßen lag. Dazwischen standen etliche andere Kirchenheilige, Herrgottsfiguren, Engel und andere Statuen der verschiedensten Art herum, die alle ebenso ihre Plätze finden sollten wie die alten Kerzenleuchter, Gemälde und kistenweise kleinere Devotionalien.

 

»Und dies sind bei Weitem nicht alle Statuen!«, versprach der künftige Wirt des Restaurants »Zur Goldenen Madonna«.

»Das muss auch so sein! Denn wenn ich mich hier umsehe, sieht es für mich so aus, dass die Menge der Madonnenfiguren im Vergleich zu den anderen Heiligen etwas zu mager ist. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir aus der ehemaligen ›Albrecht-Dürer-Stube‹ eine ›Goldene Madonna‹ machen! Allein schon wegen dieses neuen Lokalnamens können wir nicht genug Madonnen haben«, konstatierte die Frau kritisch, lobte ihren Auftraggeber aber gleich darauf: »Wie ich sehe, haben Sie inzwischen einen alten Beichtstuhl aufgetrieben. Respekt!« Nachdem Eleonore Olbrich sich ein Weilchen im Raum umgesehen hatte, erkundigte sie sich nach den neugotischen Kirchenbänken, aus deren Seiten- und Sitzteilen sie von einem Kunstschreiner gemütlich-rustikale Eckbänke machen lassen wollte.

»Die müssen in den nächsten Tagen aus Italien eintreffen, die Kirchenlüster aus Frankreich übrigens auch«, verkündete van Basten mit unverhohlenem Stolz in der Stimme.

»Dann befindet sich ja fast das gesamte Interieur hier, wenn ich aus dem Urlaub zurück bin!«, freute sich die Innenarchitektin. Als sie versehentlich eine der wenigen Madonnenfiguren berührte, hatte sie Farbe an ihrer Hand. »Oh! Die kenne ich ja noch gar nicht! Ist die frisch bemalt worden?«

»Äh … ja!« Van Basten räusperte sich. »Das habe ich gestern gemacht«, kam es eilfertig zur Antwort. »Sie wissen doch, dass ich in meinem früheren Leben Restaurator gewesen bin.«

»Wunderschön! Sie wirkt, als würde sie leben«, bemerkte Eleonore Olbrich. »Man spürt, dass sie ein begnadeter Künstler sind.«

Stolz über das Lob, zog er sie von der materiell wertlosen Gipsfigur weg und erklärte ihr, dass er die Technik des Blattvergoldens perfekt beherrschen würde … auch wenn es lange her sei, dass er sie gelernt habe. »Um meine Figuren selber restaurieren zu können, richte ich mir hier im Keller eine kleine Werkstatt ein«, verkündete er.

»Darf ich die mal sehen?«

»Erst, wenn der Lastenaufzug eingebaut ist und ich meinen Werkraum fertig eingerichtet habe. Im Moment schaut es dort aus wie bei Hempels unterm Sofa.«

Eleonore Olbrich musste lachen. Mit einem lakonischen »Na gut« gab sich die Architektin für den Moment zufrieden.

*

Kurze Zeit später schlurfte die Beerdigungstouristin Marlene Jacobs zielstrebig durch Aachens Innenstadt. Sie wollte rechtzeitig zum Dom gelangen, wo gleich die abendliche Vesper beginnen würde. Als die 78-Jährige an einem Printengeschäft vorbeikam, ließ sie sich für einen Moment aufhalten. Denn vor dem Ladengeschäft bot eine Verkäuferin Printenstückchen zum Verkosten an. Dabei hörte sie unweit neben sich einen Mann mit unangenehm rau klingender Stimme zu einem anderen sagen, dass er jetzt in die Antoniusstraße gehen würde, um dort einer »Schwarzen Nutte« »Manieren beizubringen«.

»Bist du besoffen, Thijs? Lass es lieber! Ab nächster Woche arbeitet Asmara doch wieder in Lüttich und du hast dann deine Ruhe«, empfahl der andere, der seinem Gegenüber irgendwie ähnlich sah, im Gegensatz zu ihm aber eine angenehm weiche Stimme hatte. »Du hast doch schon genug Schaden angerichtet und mich gedemütigt.«

Es war nicht der widerliche Dialog der beiden, weswegen die Frau das soeben erhaltene Printenstückchen wie eine Hostie auf ihre Zunge legte, bevor sie sich hastig bekreuzigte. Ihr war die Reibeisenstimme desjenigen bekannt, der einer Prostituierten Gewalt antun wollte. Als sie den großen Mann betrachtete, fielen ihr dessen Jeans mit den weißen Streifen und dem merkwürdig aussehenden Symbol auf der rechten Gesäßtasche auf. Am meisten aber stachen ihr die Schlangenlederstiefel in die Augen. Weil sie dies alles vom Vaalser Friedhof wiedererkannte, wurde ihr mit einem Schlag mulmig. Weil der andere mit dem Rücken zu ihr stand, sah sie nun auch die kalten blauen Augen desjenigen, dessen Antlitz sie in Vaals nicht gesehen hatte. Und weil er seine Lederjacke links geschultert hatte, konnte sie auch das Löwentattoo auf seinem rechten Oberarm sehen.

Irgendetwas stimmt mit dem nicht, dachte sie.

Nach der Antwort des anderen verabschiedeten sich die beiden. Von einer unbändigen Neugierde getrieben, beschloss die Frau, auf den Kirchgang zu verzichten und stattdessen dem Typen namens Thijs zu folgen. Dies sah sie quasi als »Nachrecherche« auf ihr merkwürdiges Friedhofserlebnis in Vaals an.

Kapitel 4

Mittlerweile war eine knappe Woche vergangen und van Bastens Kellerumbau gut vorangekommen. Er war sogar fast schon beendet, auch der Lastenaufzug war inzwischen eingebaut worden.

»Setzen Sie sich rein, er hält Sie aus!«, hatte der Hausherr seiner Architektin übermütig angeboten und ihr in den Aufzug geholfen, bevor er aufs Knöpfchen gedrückt und sie damit nach unten befördert hatte.

Im Keller angekommen, wunderte Eleonore sich darüber, was hier in dieser einen Woche passiert war, in der sie zusammen mit ihrem Mann Bert im Allgäu Urlaub gemacht hatte: Der Schlaghammer hatte wohl ganze Arbeit geleistet, die Wände waren nicht nur sauber verputzt, sondern bereits in einem dezenten Grau gestrichen. Und zum Heizungskeller war eine ebenso dicke Brandschutztür eingebaut worden wie in dem vor ein paar Wochen vergrößerten Durchlass, der von der Kellertreppe aus direkt ins Lokal führte. Der Boden war frisch gefliest, selbst im Heizraum. Darüber hinaus standen in einem gewissen Abstand von den Wänden Regale, die allerdings erst befestigt werden konnten, wenn das Grau so abgetrocknet war, dass darüber ein flüssigkeitsabweisender Lack gestrichen werden konnte. Eine Wand war mit einer grünen Folie abgedeckt worden, wie man sie ansonsten nur in Gärten benutzte. In der Mitte des größten Lagerraums war ein etwa zwei Meter langer Edelstahltisch aufgestellt worden.

»Wie klein der Keller jetzt wirkt mit all den Möbeln«, bemerkte sie.

»Und nun zeige ich Ihnen mein Heiligtum!«, sagte van Basten und führte Eleonore Olbrich in seine Werkstatt.

»Wow!«, entfuhr es ihr, als sie den perfekt ausgestatteten Raum sah, den sie eher für das Domizil eines Künstlers als das eines Handwerkers gehalten hätte. »Aber was sollen diese beiden Gefriertruhen? Benötigen Sie die trotz des Kühlraumes, den Sie mir gerade gezeigt haben?«, wunderte sich die Innenarchitektin. »Die hier ist ja schon angeschlossen.«

»Oh Gott! Das ist natürlich ein Versehen. Wahrscheinlich hat einer der Handwerker das Teil an den Strom gehängt, weswegen sie jetzt erst eingeschaltet wurde, als ich die Sicherungen reingedreht habe«, klärte der Hausherr das Malheur auf. Er erklärte, dass er diese beiden Gefriertruhen wegen des Kühlraumes und des darin bereits eingebauten Gefrierschrankes nicht mehr benötige und eine davon vom Lieferanten umgehend abholen ließe … sowie er den Inhalt der darauf liegenden Kisten verräumt habe. Während er ihr den Weg in den Lagerraum wies, bekundete er, wie froh er war, dass nicht nur dieser Raum für länger haltbare Waren, sondern auch alles andere fertig sei und nun ausreichend Platz für gefrorenen Fisch, Muscheln, Austern, Geflügel und Fleisch zur Verfügung stünde.

»Immerhin koche ich selbst und verarbeite nur gute Produkte«, hatte er mit erhobenem Zeigefinger gesagt und damit Eleonore Olbrichs Neugierde befriedigt.

»Also müssen Sie keinen Koch einstellen?«

Der Hausherr schüttelte bestätigend den Kopf. »Nein, nur eine Küchenhilfe und einen Spüler.«

Zum Abschluss des kleinen Rundgangs hatte er sie darauf hingewiesen, dass sie sich nun gemeinsam voll und ganz dem eigentlichen Ausbau des Lokals und dessen Einrichtung zuwenden konnten. »Nun sind Sie am Zug!«, hatte er betont und die Frau zur Feier des Tages auf ein paar Bierchen in den nahe gelegenen »Domkeller« eingeladen.

»Aber nur kurz, mein Mann wartet zu Hause auf mich!«, sagte sie, nahm das Angebot jedoch gerne an.

Wie es der Zufall wollte, hatten sie sich in der urigen Kneipe so wohl gefühlt, dass sie nicht bemerkt hatten, wie die Zeit vergangen war. Dementsprechend hatten sie sich gut unterhalten, während sie ein Dom-Kölsch nach dem anderen getrunken hatten. Eleonore Olbrich wollte gerade zwei Bier auf ihren Deckel bestellen, als ihr von hinten die Augen zugehalten wurden.

»Angelika?« Sie vermutete ihre beste Freundin hinter dieser Überraschungsattacke. Aber es war nicht die stadtbekannte Rechtsmedizinerin, sondern Nashwa, eine liebenswerte, junge Ägypterin, die sie kurz darauf herzlich umarmte.

»Ich glaube es nicht! Nashwa, was tust du denn hier? Ich dachte, du bist längst nach Scharm asch-Schaich zurückgekehrt!«

»Ich war auch zu Hause im Sinai. Aber bei den Unruhen in meinem Land? Diese Idioten …«, damit meinte die junge Frau die Terroristen in Ägypten, »… ruinieren dort den ganzen Tourismus! Nein, da habe ich keinen Bock drauf. Ich studiere in Köln Tourismusmanagement«, verkündete sie, bevor sie Eleonores Begleiter einen verächtlichen Blick zuwarf und in schroffem Ton fragte: »Wer ist das?«

Nachdem Eleonore verstanden hatte, weswegen die ansonsten sanftmütige Nashwa sich derart abweisend verhielt, lachte sie herzhaft auf. »Ach, entschuldige bitte. Das ist Herr van Basten, vor dem musst du mich nicht schützen. Keine Sorge, zwischen Bert und mir ist alles in Ordnung! Herr van Basten ist lediglich mein derzeitiger Boss, einer meiner liebsten Auftraggeber.« Die Architektin zwinkerte ihm keck zu. »Er hat die ›Albrecht-Dürer-Stube‹ am Münsterplatz drüben gekauft und ich durfte für ihn den Innenausbau planen.« An den Mann an ihrer Seite gewandt erklärte sie, dass diese bildhübsche junge Dame die 21-jährige Nashwa Al-Thani sei, ein ehemaliges Au-pair-Mädchen, das vor einigen Jahren bei ihr zu Hause gearbeitet hatte. »Sieht sie nicht aus wie eine Madonna?«

Mit ihrer lebhaften Art hatte sie van Basten auf Anhieb in ihren Bann gezogen, und das trotz ihres frechen Auftritts zu Beginn ihres Zusammentreffens. Ihre seidenglänzenden Haare, das wie von Künstlerhand geschaffene Gesicht, die strahlenden braunen Augen und die makellose Figur, die sich unter dem dünnen Kleidchen abzeichnete, ließen wohl die Herzen der Männer höherschlagen, denen sie begegnete. Doch das kecke Aussehen täuschte; denn Nashwa hatte eine gute Erziehung genossen und war überdies stets vernünftig, sie ließ sich selten zu etwas hinreißen, das ihrem guten Ruf schaden könnte. Ihre Eltern in Scharm asch-Schaich wussten, dass sie sich in der Ferne hundertprozentig auf ihre innig geliebte Tochter verlassen konnten.

»Was trinken Sie?«, fragte der große Mann, dem die junge Frau gerade einmal bis zur Schulter reichte.

Er bekam von der Studentin zur Antwort, dass sie nichts trinken wolle, er sie aber gerne duzen dürfe.

»Also dann …«, nutzte die inzwischen ein wenig beschwipste Innenarchitektin beherzt die Gelegenheit und bot ihrem Auftraggeber ebenfalls das »Du« an.

*

Le Maires Ermittlungen waren nur zäh vorangekommen. Der leitende Hauptkommissar hatte seine Leute darauf angesetzt, die umliegenden niederländischen Städte und deren Umfeld auszuhorchen, in denen es Rotlichtbezirke gab.

Während sich Streifenpolizist Herbert Demonty die belgischen und deutschen Grenzorte zu den Niederlanden vorgenommen hatte und Pierre Vonderbank fast bis auf Höhe von Rotterdam gefahren war, hatte sich Agnès Devaux in Maastricht umgehört … und war beim dortigen »Schaufensterstrich« fündig geworden. Nach endlosem Herzeigen eines Fotos der Toten und unzähligen Befragungen in einschlägigen Gegenden hatte sie von einer Prostituierten erfahren, dass sie die junge Frau auf dem Foto zwar nicht besonders gut kennen würde, ihr aber schon einmal begegnet sei. Allerdings hatte die Frau den Namen ihrer Kollegin »vergessen« und auch nicht gewusst, wie alt sie war. Erst nachdem die Kriminalbeamtin mit einem Fünfziger nachgeholfen hatte, war die junge Frau damit herausgerückt.

»Die Frau auf dem Foto ist Sushila, eine Kollegin von mir. Warten Sie kurz; ja, sie heißt Perumal mit Nachnamen und ist 24 Jahre alt. Ich glaube, ihre Familie kam ursprünglich von den Molukken. Mehr weiß ich nicht, weil Sushila immer allein arbeitet. Sie sucht ihre Freier aber nur ›draußen‹. Hier in Maastricht hat sie kein Zimmer.«

»Was heißt das, sie arbeitet ›draußen‹? Geht sie auf den Straßenstrich?«, hatte Devaux nachgefragt und mühsam erfahren, dass dies bei Sushila etwas anders sei als bei ihr selbst, weil das Mordopfer eine Art »Wanderhure« gewesen sei, die nur »auftragsbezogen« mal hier, mal da gearbeitet hatte und nicht ortsgebunden war.

 

»Keine Verwandten, Freunde, Zuhälter?«

Die Prostituierte kaute gelangweilt auf ihrem Kaugummi herum und schüttelte den Kopf.

»Ich habe doch schon gesagt, dass Sushila ausschließlich allein arbeitet, sie ist glücklich damit!«

»Na ja, glücklich sieht anders aus, oder etwa nicht?«, knurrte Devaux und warf einen kurzen Blick auf das Foto. Weil sie spürte, dass Sushilas ehemalige Kollegin vielleicht doch noch etwas wissen konnte, hakte sie nach: »Wirklich kein Zuhälter oder ein anderer Macker?«

»Ah … ich verstehe!« Nachdem Devaux der breit grinsenden Prostituierten weitere 20 Euro in die Hand gedrückt hatte, bekam sie zur Antwort, dass da »schon mal« ein Mann war, den sie mit Sushila gesehen hatte. Sie konnte allerdings nicht sagen, ob es sich dabei um einen Freier oder um einen Zuhälter gehandelt hatte.

»Wie sah er aus?«, drängte Devaux, bekam aber nur »groß!« zur Antwort.

»Und? Weiter?«

»Ja, nix weiter! Sehr groß! Ich habe den Mann nur ein paarmal aus der Entfernung gesehen!«

Mehr war beim besten Willen nicht aus der jungen Frau herauszubringen. Deswegen zog Devaux ab, um in Maastrichts einschlägigen Gegenden und Kneipen weiterzurecherchieren.

Der Chef selbst indessen verfolgte zusammen mit Locki neben der DNA eine weitere interessante Spur: Während seine Sekretärin mit Unterstützung ihres Computers und mithilfe von Interpol alles tat, um den Gencode einem polizeibekannten Typen zuordnen zu können, kümmerte er sich um die Schlangenlederschuppen, die von der Spurensicherung an der verbliebenen Hand der Toten gefunden worden waren.

»Sie stammen von einem Schuh. Genauer gesagt, von dem rechten Stiefel, mit dem der Mörder auf ihrer Brust gestanden hat«, hatte Angelika ihm erklärt und dabei mit Jussuf Abdalleyahs neuerlicher Hilfe anschaulich demonstriert, wie sich die arme Frau mit ihrer linken Hand nach Leibeskräften gewehrt hatte, indem sie den Stiefel wegzudrücken versuchte. »Das ist ein weiteres Indiz dafür, dass es sich um einen Stiefel und nicht um einen Schuh handelt, den das bedauernswerte Opfer trotz ihrer Schwäche so umklammert hatte, dass sogar ein paar der angeklebten Fingernägel abgebrochen sind!«

Als Fabienne Loquie ihrem Chef mitteilte, dass die DNA nicht amtsbekannt sei, beauftragte er sie damit, in sämtlichen Schuhläden des Dreiländerecks – beginnend in Maastricht – nach dem Verkauf von Schlangenlederstiefeln zu fragen. »Adressenrecherche übers Internet, Befragung übers Telefon! Größe 45; das kann doch nicht so schwer sein«, hatte er wegen des bisher mäßigen Erfolges geknurrt, bevor er grußlos das Kommissariat verlassen hatte.

Lockis kleine Lästerei – »Und was ist mit Amazon?« – hatte er geflissentlich überhört. Le Maire wusste, dass es, wenn überhaupt jemandem, nur seiner Sekretärin gelingen würde, die Herkunft der Schlangenlederstiefel herauszubekommen. Was täte ich nur ohne Locki?, hatte er sich gedacht und sich dabei trotz seiner miesen Laune ein stilles Lächeln abgerungen.

*

Die Suche nach einem Mann, der Schlangenlederstiefel trug und der vermutlich – so hatte Le Maire es sich aufgrund der Schuhgröße von einem forensischen Sachverständigen der Mordkommission Lüttich statistisch errechnen lassen – wahrscheinlich um die 1,90 Meter groß sein musste, lief auf Hochtouren. Während Locki seit Tagen mit Schuhherstellern landauf und landab sowie mit Schuhgeschäften im Umkreis von 50 Kilometern mailte, skypte, simste und telefonierte, durchforsteten Pierre und Devaux die Datenbanken nach groß gewachsenen Kriminellen, die ins Raster passen könnten. Weil dies bisher zu keinem Erfolg geführt hatte, verlor Le Maire die Geduld und ließ Herbert Demonty die Dateien nach sadistischen Triebtätern durchsuchen.

Weil er selbst diese Art der trockenen Schreibtischarbeit hasste wie die Pest, hatte er sich dazu entschlossen, ›Feldstudien‹ zu betreiben, indem er unter die Leute ging und nach großen Männern mit passendem Schuhwerk Ausschau hielt. Dabei konnte er gut nachdenken. Also meldete er sich für den Rest des Tages ab und fuhr nach Aachen, obwohl ihm klar war, dass der Mörder sicherlich nicht dort zu finden war. Aber wer wusste das schon?, dachte er sich.

Mit einer Zigarette im Mundwinkel und beiden Händen in den Hosentaschen schlenderte er durch die Altstadt seines neuen Wohnortes. Im Geiste ging er durch, was er wusste.

Clermont ist zwar belgisch, die Tote aber eine Niederländerin mit indonesischem Migrationshintergrund, fasste er seine Erkenntnisse in einem Satz zusammen.

Als er gerade die mit Menschenmassen durchzogene Adalbertstraße hinunterlief und über all den Köpfen einen Hinterkopf herausragen sah, riss es ihn. »Nein, das kann nicht sein«, grummelte er, während er versuchte, sich durch die entgegenkommenden Menschen schneller nach vorne zu drücken als diejenigen, die in dieselbe Richtung liefen wie er. Mit seinen 1,65 Meter hatte er es allerdings schwer, sich gegen die vielen Menschen durchzusetzen und den Abstand zu dem großen Mann zu verringern. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als zwischendurch hochzuhüpfen, um zu sehen, wohin der Unbekannte lief. Dabei kam er sich vor wie ein Ausdruckstänzer. »Merde!«, fluchte er und erwog sogar, seinen Dienstausweis zu zücken und »Polizei im Einsatz!« zu rufen, um schneller vorwärtszukommen. Dies erschien ihm dann aber doch etwas zu albern. Als Le Maire am Kugelbrunnen angelangt war, war der große Mann plötzlich wie vom Erdboden verschluckt, einfach weg. Und weil sich dort die Einkaufsstraße gleich mehrfach teilte, wusste Le Maire nicht weiter. Er hatte im Moment keine Ahnung, was er tun sollte; mithilfe seines Aachener Kollegen Peter Dohmen eine Fahndung nach einem großen Mann herausgeben? So ein Schwachsinn, ich blamiere mich doch nicht ausgerechnet hier in Deutschland, besann er sich, während er verärgert auf dem Platz vor dem »Aquis Plaza« herumirrte. Er musste aufgeben, ob er wollte oder nicht. Obwohl es ihn ärgerte, war ihm klar, dass die Wahrscheinlichkeit winzig war, dass er hier in Aachen denjenigen großen Mann auf Anhieb gefunden hatte, den er und seine Leute mit Hochdruck suchten. Er beruhigte sich rasch wieder. Um ganz runterzukommen, beschloss er, sich erst einmal ein Bierchen zu gönnen. Aber wo, in Gottes Namen, gab es hier in Aachen ein belgisches Bier?

*

Frederic hatte sich tatsächlich bis zum Abend gedulden müssen, um sein geliebtes Jupiler genießen zu können. Er saß mit Angelika im »Sel et Poivre« in Eynatten, einem Geheimtipp im Aachener Umfeld mit einer hervorragenden Küche und fairen Preisen. Trotzdem mochte Frederic solche schicken Speiselokale nicht besonders. Aber wenigstens lag das beliebte Restaurant in Belgien, weswegen es dort belgisches Bier und – so hoffte er trotz des gehobenen Niveaus – auch belgische Fritten gab. Es ärgerte ihn, dass seinem Leibgericht irgendwie immer der Ruf anhaftete, eine hundsgewöhnliche Billigspeise zu sein, die von Ignoranten sogar als Fast Food bezeichnet wurde.

Trotz seiner nachmittäglichen Schlappe und des vermutlich megafeinen Essens, das ihn gleich erwarten würde, fühlte Frederic sich gut. Der Ober hatte ihm versichert, dass er anstatt Kroketten »selbstverständlich« auch Fritten bekommen würde. Dementsprechend gut gelaunt ging er nach draußen, um eine Zigarette zu rauchen. Angelika saß allein da und betrachtete die wunderschöne Dekoration der gemütlichen Gaststube. Dabei hörte sie zufällig mit, wie ein Mann am Nebentisch der Frau, die ihm gegenübersaß, mehr oder weniger beiläufig erzählte, dass in Homburg in einem Garten direkt gegenüber der Brasserie »Grain d’Orge« eine Madonnenfigur aus Marmor gestohlen worden sei. Den Brauereigasthof kennen wir auch, dachte Angelika. Homburg lag nur etwa zehn Kilometer von Clermont, dem Fundort der Frauenleiche, entfernt. Angelika lauschte weiter, wie die Frau am Nebentisch über ihren nächsten Urlaub zu sprechen begann, der sie wohl nach Isny im Allgäu und an den Bodensee führen sollte.