Goldmadonna

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»Jaja. Schon gut! Und jetzt genießen Sie zur Abwechslung einfach einmal unsere Heimat – Belgien ist wunderschön! Fahren Sie zur Küste hoch, oder …«

»Alles klar, Chef«, unterbrach Le Maire wieder. »Ich habe verstanden und beuge mich der Gewalt. Ich arbeite bis zum Wochenende einige Kleinigkeiten auf und lege dann ein paar Tage Urlaub drauf. Ist das für Sie in Ordnung?«

Le Maire bemerkte zwar Docteur Baguettes erleichtertes Ausatmen, der aber nicht Le Maires inneren Fluch.

»Ich wusste, dass Sie vernünftig sind!«, lobte Docteur Baguette, obwohl er sich denken konnte, dass in der Regel genau das Gegenteil der Fall war. Hauptsache, das Thema war für den Chef vom Tisch.

*

Endlich war die ungewöhnlich unaufgeregte Arbeitswoche ohne eine einzige Leiche zu Ende gegangen. Frederic wollte sich zuerst vom Büro zu seiner alten Wohnung in die Rue de la Violette begeben, die mitten im Zentrum von Lüttich lag. Dort würde er seinen Kulturbeutel und ein paar Klamotten in seinen 40 Jahre alten mintfarbigen Citroën packen und dann in die gemeinsame Wohnung nach Aachen zu seiner Angelika fahren. Dabei wusste er jetzt schon, dass er den neuen Designeranzug und die hippen Schuhe, die nach Angelikas Aussage »perfekt« zum Anzug passten, in seiner Lütticher Wohnung geflissentlich vergessen würde.

*

Am Nachmittag des folgenden Tages hatte der beurlaubte Kommissar eine Art Déjà-vu. Wie vor knapp zwei Wochen in Vaals machte Angelika Besorgungen, während er relaxt vor einem Lokal saß. Dieses Mal an einem Samstag und auf der Terrasse des Café-Restaurants »Elisenbrunnen« in seiner neuen Wahlheimat Aachen. Er hatte eine Zigarette im Mundwinkel und blätterte das »Aachener Tagblatt« durch. Dabei stolperte er über den Polizeibericht:

Aachener Tagblatt vom 30. Oktober 2021. – Polizeibericht:

Aus der Nachbarschaft. Wie die Aachener Polizei aus ermittlungstaktischen Gründen erst heute mitteilt, ist es im niederländischen Grenzort Vaals zu einer Leichenfledderei gekommen. Als am frühen Morgen des 19. Oktobers einer der Friedhofswärter über den Friedhof zur Aussegnungshalle gehen wollte, entdeckte er einen Erdhügel, der dort nicht mehr sein sollte, weil mit dieser Erde tags zuvor ein frisch ausgehobenes Grab zugeschüttet worden war. Bei näherer Betrachtung stellte er fest, dass das Grab der am Vortag darin beerdigten Frau wieder ausgehoben und der Inhalt des Sarges verschwunden war. Von Leiche und Leichendieb fehlt bislang jede Spur. Sachdienliche Hinweise …

Schon wieder Vaals? Dort geht es derzeit ja zu wie im Chicago der 1920er-Jahre! Ich glaube, ich lasse mich nach Holland versetzen, dachte Le Maire grinsend, schob den irrsinnigen Gedanken aber sofort wieder beiseite.

Weil die niederländische Provinz Limburg, zu der das ansonsten eher beschauliche Grenzstädtchen zählte, nicht zu seinem Revier gehörte, hatte er dort nichts zu melden. Allerdings scherte sich der belgische Kriminalbeamte normalerweise nie um Grenzen, an denen seine Kompetenzen als »ein im deutschsprachigen Gebiet Belgiens tätiger wallonischer Kriminalhauptkommissar« normalerweise endeten.

Die Sache mit dem Leichendiebstahl in Vaals interessierte ihn brennend. Aber: Es ging ihn wirklich nichts an.

Deswegen schlug er die Zeitung zu und zog nachdenklich ein paar Mal an seiner Zigarette. Schließlich war er für ermordete Menschen und nicht für verschwundene Friedhofsleichen aus dem Ausland zuständig – es sei denn, sie hatten etwas mit einem Mordfall zu tun, den er und sein Team bearbeiteten. Aber derzeit gab es eben nichts zu bearbeiten. »Keine Leiche, keine Arbeit! So einfach ist das«, seufzte er leise in sich hinein.

*

Frederics ganz persönliche »Urlaubswünsche« waren insofern in Erfüllung gegangen, dass Angelika nicht schon wieder freibekommen hatte und er seine Freizeit zumindest tagsüber weitgehend selbst im direkten Umfeld gestalten konnte. So hatte er es gemütlich angehen lassen und Angelika fast täglich zur Arbeit gefahren. Danach war er meist planlos durch Aachen geschlendert, ohne sich um das dortige Geschäftsleben zu kümmern. Manchmal hatte er sich in ein Café gesetzt, um ganz einfach Menschen zu beobachten.

Erst nach Angelikas Feierabend in der Aachener Rechtsmedizin war es für ihn das eine oder andere Mal etwas stressig geworden. Angelika hatte ihn dazu überredet, mit einem oder zwei befreundeten Pärchen ins »Aachener Brauhaus« oder in den »Domkeller« zu gehen, zwei der wenigen verbliebenen urigen Öcher Bierkneipen. Wie immer, wenn sie sich mit Freunden trafen, hatte Angelika sich die eine oder andere neckische Bemerkung wegen ihres Berufes anhören müssen wie beispielsweise: »Hast du dir auch schön die Hände gewaschen?« Weil die coole Leichenbeschauerin diese dummen Sprüche zur Genüge kannte, nahm sie das Ganze stets locker.

Frederic konnte nicht immer alles so leicht nehmen wie seine Partnerin. Denn während Angelikas beste Freundin, die 42-jährige Innenarchitektin Eleonore Olbrich, von ihrem aktuellen Projekt zwischen Münsterplatz und Fischmarkt erzählte und von der ersten Madonnenfigur schwärmte, die dort zur Dekoration eingetroffen war, nervte ihr Mann. Bert Olbrich war ein äußerst geschwätziger Psychologieprofessor der RWTH Aachen, der immer alles besser wusste – sogar besser als Frederic.

Während Frederics »Single-Urlaubs« hatte Angelika sich lediglich zweimal durchsetzen und ihn in die nordrhein-westfälische Spitzengastronomie schleppen können; einmal davon sogar in ein japanisches Edelrestaurant in Köln, in dem das Fleisch vor ihren Augen auf einem »Teppanyaki-Grill« zubereitet wurde.

»Jaja! Dann trinke ich in Gottes Namen eben ein japanisches Bier!«, hatte Frederic sehr zu Angelikas Missfallen geknurrt, nachdem ihn der freundliche Koch gefragt hatte, ob alles in Ordnung sei. »Asahi-Bier! Wenn ich das schon höre, Asahi! Da lobe ich mir mein belgisches Jupiler«, hatte er gemault und das Getränk mit einer todesverachtenden Mimik in sich hinein- und einen Shōchū hinterhergeschüttet.

Da hatte es auch nichts genützt, dass Angelika ihm erklärt hatte, dass er ein Sapporo- oder ein Yebisu-Bier hätte bestellen können. »Das Asahi …«, hatte sie mit erhobenem Zeigefinger geschulmeistert, »… ist das teuerste japanische Bier, das sie hier haben, also wird es wohl auch das Beste sein. Und jetzt hör endlich mit deiner Motzerei auf!« Sie hatte ihn sogar so laut gerügt, dass der Chefkoch erneut an den Tisch gekommen war, um nochmals nachzufragen, ob alles in Ordnung sei.

»Jaja … Ein Bier, bitte!«

Im »La Bécasse«, einem französischen Nobelrestaurant in Aachen, hatte er sich ein paar Tage später zwar schnell an die landestypische Zubereitung des Steaks mit der leckeren Soße gewöhnt. Allerdings gab es als Beilage keine Fritten, sondern nur Kroketten. Französische Kartoffelstäbchen hätte er – im Gegensatz zu deutschen Pommes frites – seinem Magen sogar angetan, obwohl er normalerweise nur belgische Fritten akzeptierte.

Was die Getränke betraf, so war er wenigstens diesbezüglich etwas zufriedener gewesen. Die Bierqualität war deutsch. Und damit konnte sich das japanische Gebräu trotz aller Bemühung nicht messen.

So waren die Tage vergangen, ohne dass Angelika die Zeit gehabt hatte, mit ihm ausschweifend shoppen zu gehen. Hier und da waren sie zwar in die von Frederic gerne gemiedene »Elisengalerie« oder in den von ihm gehassten Konsumtempel »Aquis Plaza« gehetzt, aber mehr hatte sie ihm nicht zugemutet. Weil Angelika bei den wenigen Einkaufsmöglichkeiten ganz auf sich selbst fixiert gewesen war, hatte sie ihn weitestgehend verschont. Die Camouflage-Jogginghose, die in einer Geschäftsauslage gelegen hatte, hatte sie ihm dann aber doch kaufen müssen.

Ich bin Polizeibeamter und kein Soldat. Nur gut, dass ich die ausschließlich zu Hause tragen muss und mich niemand damit sieht, hatte er sich gedacht, als er das Geschenk mit einem verzerrten Lächeln in Empfang genommen und ihr ein Küsschen gegeben hatte.

*

Zur Abwechslung war Frederics Lebensgefährtin übers Wochenende mit ihm nach Lüttich gefahren, wo sie sich erst einmal damit befassen musste, Frederics ehemaligen Erst- und heutigen »Ausweichwohnsitz« auf Vordermann zu bringen.

»Aha. Da also hast du deinen neuen Anzug und die Schuhe versteckt«, hatte Angelika in ruhigem Ton gesagt und die beiden hippen Teile demonstrativ auf dem Bett ausgebreitet. Das Schuhwerk hatte sie ebenfalls gut sichtbar direkt davor auf den Boden gestellt. Frederic war nichts anderes übrig geblieben, als den topaktuellen Anzug mit der, wie er fand, schrecklichen Jacquardmusterung zu loben. Um keinen Streit zu provozieren, hatte er sogar beschlossen, sich kampflos in sein unausweichliches Schicksal zu ergeben. Vielleicht wäre es doch besser, wenn ich Soldat geworden wäre, hatte er sich gedacht und sich gnädig gezeigt: »Weißt du was, Angelika? Zum Dank lade ich dich heute zum Essen ein!«, hatte er an diesem frühen Samstagabend verheißungsvoll getönt und – um seiner Geliebten zu gefallen – den Anzug angezogen, den er ansonsten niemals »freiwillig« tragen würde.

*

»Sag mal, spinnst du? Willst du mich natzen!«, schimpfte Angelika, die in ihrem engen Kostümchen eine ganz besonders gute Figur abgab, obwohl ihr die Zornesröte ins Gesicht geschossen war.

»Wieso?«, wunderte Frederic sich allen Ernstes, als sie durch die Tür der »Friterie du Perron« an der Ecke Rue de Rey nahe seiner alten Wohnung spazierten, wo Angelika ungläubig auf die frittierten Kartoffelstäbchen in der Auslage starrte, während er im Geiste bereits genüsslich damit begonnen hatte, sein Menü zusammenzustellen.

Fast angewidert wandte Angelika ihren Blick ab und schaute wehmütig zum Fenster hinaus. Anklagend zeigte sie über die Hauptstraße zum »Place du Marché« hinüber. »Hättest du mich nicht wenigstens ins ›Å Pilori‹ einladen können? Ist das nicht eines deiner beiden Stammlokale gewesen, als du noch in Lüttich gewohnt hast? Weshalb haben wir uns so rausgeputzt? Nur dass du mich in eine gewöhnliche Frittenbude schleppst?«

 

»Entschuldige, mein Schatz! Weil ich schon lange nicht mehr bei meinem alten Freund ›Fritten Ralf‹ war, dachte ich mir …«

»Was dachtest du dir?«, unterbrach Angelika schroff. »Nichts hast du dir dabei gedacht, als du mich ohne Vorwarnung hierhergebracht hast.« Während Angelika so richtig loslegte, brummte es in Frederics Hosentasche. Egal, wer dran ist, der Anruf kommt genau zur richtigen Zeit, dachte er sich und fischte sich zu Angelikas Erstaunen sein ausnahmsweise einmal betriebsbereites Mobiltelefon aus der Tasche. Dass der Akku seines Handys geladen war, lag nur daran, dass er sehnlichst darauf hoffte, endlich Arbeit zu bekommen, derentwegen er seinen Urlaub würde abbrechen müssen.

Als Angelika weiterschimpfen wollte, sagte er nur: »Entschuldige bitte.«

»Schon gut!«, schnaubte sie, aber ihr Unmut war noch lange nicht verraucht.

»Oh, Locki! Du bist es! Was gibt’s? … Aha! … Schon gut!« Gleich darauf schoss ein erschrocken wirkendes und irgendwie doch zufrieden klingendes »Was?« aus ihm heraus. Nachdem er einige Male still genickt hatte, fragte er seine Sekretärin: »Wo?« Gleich darauf sagte er in versehentlich gut gelaunt klingendem Tonfall: »Ich fahre sofort los. Ruf die uniformierten Kollegen in Clermont an, dass sie alles absperren und nichts berühren oder verändern sollen!«

Angelika hatte sich zwar vorgenommen, umgehend weiterzupoltern, sowie Frederic sein Telefonat beendet haben würde, ahnte aber, um was es darin gegangen war. »Wer war das?«, säuselte sie und spielte dabei die Uninteressierte.

»Das hast du doch gehört, Schatz! Es war Mademoiselle Loquie, meine Sekretärin!«

»Und? Was ist los? Nun sag schon!«

Frederic atmete tief durch, bevor er antwortete: »Es tut mir leid, aber ich muss weg! Wir haben eine Leiche!«

»Wo?«

»Keine 30 Kilometer von hier!«

»Wo?«, wiederholte sie genervt.

»In Clermont!«

»Meinst du Thimister-Clermont in der belgischen Wallonie? Das kenne ich! Ein süßes mittelalterliches Örtchen.«

»Entschuldige bitte, Angelika. Ja! Selbstverständlich meine ich dieses Clermont und nicht das Clermont in Frankreich oder gar in Florida!«

Während Frederic sich insgeheim darauf freute, endlich wieder einen Mordfall lösen zu dürfen, anstatt mit Angelika einen auf fein machen zu müssen, holte sie ihr nagelneues iPhone hervor und versuchte, damit ins Netz zu gelangen.

»Also … Äh … Ich muss jetzt fahren!« Wenn der Kriminalbeamte hoffte, sich so einfach loseisen zu können, irrte er sich gewaltig. Angelika fragte ihn, ob er sie nicht mitnehmen mochte.

Der Mordermittler überlegte einen Moment lang. Dann zuckte er mit den Schultern und sagte, dass er grundsätzlich nichts dagegen habe, es aber nicht ihr Fall sei, weil der Tote, »… wie wir nun ja festgestellt haben«, in der Provinz Lüttich aufgefunden worden sei. Damit – so glaubte er – sei die Sache vom Tisch.

»Da irrt sich der Herr Kriminalhauptkommissar aber gewaltig!«, entgegnete sie selbstbewusst.

»Wie … Wie meinst du das?«, wunderte sich Frederic.

»Sieh selbst!«, sagte sie und hielt ihm triumphierend ihr Smartphone entgegen.

»Ja und? Du hast einen Routenplaner aufgerufen. Was soll das?«

Angelika lachte siegessicher auf, bevor sie ihm erklärte, dass es von Lüttich nach Clermont genau 28,4 Kilometer, von Aachen aus aber nur 23,3 Kilometer waren. »Also liegt Aachen näher am Tatort als Lüttich, oder? Außerdem ist dies sowieso nicht dein Fall, weil du in Eupen und nicht mehr in Lüttich arbeitest! Hast du das vergessen?«

Nun triumphierte Frederic: »Dennoch wurde ich angerufen! Und von Eupen aus sind es nur gute 14 Kilometer!«

Er sah Angelikas fordernden Blick und fluchte still in sich hinein. Er wusste, dass er sagen konnte, was er wollte, er hatte schon verloren. Also gab er sich lieber gleich geschlagen, als sich auf eine lange Diskussion einzulassen, bei der er am Schluss sowieso den Kürzeren ziehen würde. »Von mir aus!«, knurrte er. »Möglicherweise hast du Glück.«

Angelikas Augen weiteten sich erwartungsvoll. »Weshalb?«

»Na ja, ich hatte dir doch davon erzählt, dass der junge Nachfolger von Docteur Brülèe zur Fortbildung in Brüssel ist. Somit ist die Gerichtsmedizin in Lüttich derzeit verwaist.«

Bevor es sich Frederic doch noch überlegte, fiel sie ihm um den Hals und küsste ihn. »Danke, Lemmi!«

Nun stieg ihm die Zornesröte ins Gesicht. »Ich habe dir schon tausendmal gesagt, dass du mich nicht so nennen sollst! Und nun lass mich in Ruhe mit meinem Chef telefonieren, damit er unserer neuerlichen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zustimmen kann! Das klappt nur, wenn er seinen Segen gegeben hat. Und den bekommen wir nur, wenn es Docteur Baguette gelingt, Oberstaatsanwalt Delieux ebenfalls mit ins Boot zu nehmen.«

»Aber das war doch sicher nicht zufällig, dass sie in Eupen angerufen und dich zu dem Fall gerufen haben, oder?«, wunderte sich Angelika und setzte keck nach: »Dann gibt es sicher auch keine Probleme, wenn ich dich bei der Aufklärung dieses Falls unterstütze.«

Kapitel 2

Und ob der leitende Lütticher Staatsanwalt Martin Delieux zugestimmt hatte. Denn der Mann war wegen eines überaus günstigen Zufalls erst vor einem Jahr zum Oberstaatsanwalt avanciert und musste sich in seiner neuen Position beweisen. Und dies tat er am besten, indem er möglichst viele, vor allen Dingen schnelle Erfolge erzielte. Weil dies ohne Mordfälle aber schwierig war, hatte er Docteur Baguettes Vorschlag zugestimmt, keine Zeit zu verlieren und die deutsche Rechtsmedizinerin mit der Leichensektion zu betrauen. Weil das Dream-Team Le Maire/Dr. Laefers bei den »Frittenmorden« vor zwei Jahren und bei den »Glühweinmorden« im vergangenen Jahr bereits hinreichend bewiesen hatte, dass es gut und erfolgreich zusammenarbeitete, konnte dies einer raschen Aufklärung des aktuellen Falls nur dienlich sein und für Delieux schnelle Ergebnisse zeitigen, mit denen er sich würde schmücken können. Deswegen war der Oberstaatsanwalt über seinen eigenen Schatten gesprungen und hatte seine Ressentiments Le Maire gegenüber beiseitegeschoben – zumindest vorübergehend. Er hatte seinen Eupener Chefermittler sogar persönlich angerufen, um ihm die volle Unterstützung der Staatsanwaltschaft zuzusichern. Dazu war allerdings nötig gewesen, dem Interimsleiter seiner Lütticher Mordkommission klarzumachen, dass dies Le Maires Fall und somit ein Fall der Eupener Kollegen war, die es mit aller zur Verfügung stehenden Lütticher Manpower zu unterstützen galt.

Weil Patrick Miller, der eigentliche Chef der Lütticher Mordkommission, im Urlaub weilte, kam es Delieux entgegen, Le Maire für den Fall abzustellen.

*

»Bonjour, Locki! Was gibt’s?«

»Bonjour, Monsieur le Commissaire! Gut, dass Sie gleich rangehen!«

Le Maire seufzte. »Was gibt es denn Wichtiges?«

»Agnès Devaux ist bereits nach Clermont unterwegs! Den Kollegen Pierre Vonderbank konnte ich leider nicht erreichen. Und Herbert Demonty ist …«

»Na ja, wir haben Wochenende!«, unterbrach Le Maire seine aufgekratzte Sekretärin. Lassen wir es die beiden Kollegen genießen. Eine Unterstützung genügt mir fürs Erste! Ist sonst etwas?«

»Ja! Ich soll Ihnen ausrichten, dass sich Oberstaatsanwalt Delieux gleich morgen früh mit Aachen in Verbindung setzen wird, um die Angelegenheit in Bezug auf Ihre Kompetenz und die Sache mit Frau Dr. Laefers zu klären.«

Als er dies hörte, lachte Le Maire triumphierend auf. »Dass dies mein Fall ist, geht meinen Aachener Kollegen Peter Dohmen zwar nichts an, aber von mir aus. Danke, Locki! Ich bin in etwa 15 Minuten in Clermont und komme dann am Montag ins Büro. Du machst jetzt auch gleich wieder Feierabend, ich brauche dich heute nicht mehr, dafür am Montag umso mehr! Alles klar? Au revoir!«

Enttäuscht legte Fabienne Loquie auf. Weil ihr Freund Hennes auf beruflicher Bustour und sie deswegen allein war, wusste sie mit diesem verregneten Wochenende nichts Besseres anzufangen, als zu arbeiten und ihrem Chef zur Seite zu stehen. Bis vor etwa zwei Jahren hatte sie ihn sogar offen angehimmelt. Seit sie aber während einer Reise nach Brüssel den Aachener Busfahrer Hennes kennen- und lieben gelernt hatte, verehrte sie ihren Chef nur noch, dies aber mit einer fast schon selbstlosen Hingabe, die Le Maire hier und da lästig war.

*

Die auf der Straße herumstehenden Anwohner staunten nicht schlecht, als Angelikas SLK fast etwas zu flott in die kleine Gasse einbog, die Locki ihrem Chef beschrieben hatte. Mehr staunten die Kolleginnen und Kollegen der ebenfalls von Locki informierten Eupener Spurensicherung darüber, dass sie zum Einsatz kamen und dass Le Maire in einem todschicken Anzug vor ihnen stand. Vollends verwundert waren sie, als sie gewahr wurden, dass nicht der junge Rechtsmediziner aus Lüttich, sondern eine ihnen bestens bekannte Rechtsmedizinerin aus dem Ausland die Leichenbeschau vornehmen wollte. Zumindest machte sie den Eindruck, denn die aparte Frau war in einen weißen Schutzanzug geschlüpft, mit ihrem Arztkoffer direkt auf die Leiterin der Spurensicherung zugegangen und hatte selbstbewusst gefragt: »Was haben wir?«

Weil normalerweise der leitende Ermittler diese obligatorische Frage stellte, blieb Le Maire nur ein drängendes »Und?« übrig.

»Der Fundort ist nicht der Tatort!«, verkündete Therese Lambert, die 39-jährige Leiterin der Eupener Spurensicherung, bevor sie beiseiteging und die Rechtsmedizinerin ihre Arbeit tun ließ. Und die würde in dieser Nacht wohl nicht einfach werden.

Vor ihnen war eine Frau mit dunklem Teint so an der oberirdischen Grabkammer der Familie Tomson-­Brandebourg hindrapiert worden, als wenn sie ihren Rausch ausschlafen würde. Sitzend lehnte sie mit dem Rücken an der Glastür, die in die Familiengruft führte. Ihr linker Arm war wie schützend auf ihre Scham gelegt worden, der andere fehlte. Sie trug aufreizende Kleidung. Und während stetig Blut vom Armstumpf heruntertropfte, waren ihre Augen starr in Richtung der gegenüberliegenden Kirche Saint Jaques le Majeur gerichtet. Der Mund der Toten war so weit geöffnet, dass es wirkte, als ob sie dem heiligen Jakobus ihren Schmerz entgegenschrie.

Dieses Bild störte die Wahrnehmung der wenigen Menschen am Tatort so stark, dass sie wie erstarrt dastanden, einen Moment lang unfähig, etwas zu tun. Lediglich Le Maire war dazu imstande, die Lage um die Tote herum sofort zu analysieren: »15 Meter …« Damit meinte er den Abstand zwischen der Leiche und dem Gotteshaus, auf das sie starrte und vor dem unzählige, teilweise jahrhundertealte Grabsteine standen oder einfach nur herumlagen. Ob ihm diese Einschätzung etwas nützen würde, wusste er nicht. Aber dies war im Moment nicht wichtig, jetzt ging es erst einmal darum, den Leichenfundort »sauber« zu halten, die Leiche zu identifizieren und die Umstände des Todes an Ort und Stelle wenigstens in etwa zu analysieren.

»Todesursache?«, bellte Le Maire ungeduldig, musste sich mit einer Antwort aber so lange gedulden, bis Dr. Laefers mit ihrer Arbeit so weit war.

Der Mordermittler nützte die Zeit, um mit den wenigen anwesenden Streifenbeamten zu sprechen und sie das Rundbogentor zum Friedhof absperren zu lassen. »… und leuchtet – verdammt noch mal – endlich das Areal aus!«

»Wir haben keine so großen Strahler zur Verfügung«, hielt einer der Beamten in eingeschüchtertem Tonfall entgegen.

»Dann holt ihr eben die Feuerwehr!«, gab Le Maire unwirsch zurück.

Nachdem dies geklärt war, blieb dem Mordermittler nichts anderes übrig, als sich »notgedrungen« eine Zigarette anzuzünden und das Tun seiner Partnerin im Dunkel der Nacht zu betrachten, das nur durch ein paar Taschenlampen erhellt wurde, weswegen die Szenerie umso schauriger wirkte. Davon unbeeindruckt, wartete er darauf, was sie zu berichten hatte. Und das traf ihn mit voller Wucht.

»Also, Herr Hauptkommissar!«, sagte sie, während sie aufstand. »Die Frau ist etwa 25 Jahre alt und keine zwei Stunden tot, weswegen das Blut dort …«

»… nicht ganz eingetrocknet ist«, kam Frederic seiner Partnerin zuvor.

»Die Schleifspuren hier sind frisch und kommen von dort!«, bestätigte Therese Lambert, während sie mit einer Hand zur entgegengesetzten Seite des Friedhofseingangs zeigte. Gleichzeitig drückte sie Le Maire ein Tütchen in die Hände.

 

»Was ist das? Sieht wie Schuppen eines Reptils aus, vielleicht einer Schlange«, stellte er fest, nachdem er den Inhalt des Tütchens näher betrachtet hatte. »Woher stammt das?«

»Von ihren Fingerspitzen! Diese Schuppen finden sich auch unter ein paar Fingernägeln«, kam es zur Antwort.

»Ist das alles, was ihr bisher gefunden habt?«, knurrte Le Maire.

»Sie sind gut! Bei den Lichtverhältnissen«, kam es ruppig zurück.

»Papiere?«

Die Chefin der Spurensicherer schüttelte wortlos den Kopf.

»Merde!« Weil es dem Ermittler im Moment nicht weiterhalf, gab er das Tütchen an die Spurensicherung zurück und wandte sich wieder Angelika zu. »Und?«

»Schwer zu sagen, mit wem wir es zu tun haben! Die Klamotten sind sehr aufreizend, vielleicht Verbindungen zum Rotlichtmilieu?«

»Und die Todesursache?«, fragte Le Maire noch einmal.

Angelika winkte Frederic näher zu sich, dann beugte sie den Oberkörper der Frau nach vorne. »Sie wurde von hinten erstochen! Alles Weitere …«

»Jaja. Schon gut. Ich weiß … morgen!«, grummelte der Ermittler, während er weiter suchend um sich blickte. »Na, endlich!« Le Maire war erleichtert, als der durch die Polizei angeforderte Gemeindeelektriker mit zwei Flutlichtern auf dem Ladewagen ankam und unverzüglich damit begann, die Beleuchtungskörper so aufzustellen, wie sie die Rechtsmedizinerin und die Spurensicherer haben wollten.

Während die ausfahrbaren Strahler hochgekurbelt und wackelnd in Position gebracht wurden, blitzte das Licht eines Strahlers für den Bruchteil einer Sekunde in Richtung des Kirchenendes, wohin der Ermittlungsleiter zufällig gerade schaute. Weil Le Maire glaubte, einen Kopf mit langen Haaren gesehen zu haben, der hinter der Mauerecke hervorgelugt hatte, eilte er links um die Kirche herum, um die Person zu erwischen. Aber er war zu langsam. Bei der davonrennenden Person konnte er gerade noch feststellen, dass es sich um einen großen Mann handelte, an dessen rechtem Handgelenk etwas zu blitzen schien, als für einen Moment das Licht einer Straßenlaterne darauf schien. Weil der Mann dann aber ganz im Dunkel verschwand, hatte er keine Chance mehr, ihn zu erwischen.

*

»Was tust du denn hier?«, knurrte der belgische Mordermittler, als er anderntags in der Aachener Rechtsmedizin auf seinen Kollegen Peter Dohmen stieß.

»Keine Sorge, Frederic, ich habe es schon gehört, es ist dein Fall! Und da mische ich mich selbstverständlich nicht ein! Allerdings helfe ich dir gerne, wenn …«

Frederic hob abwehrend die Hand. »Dieses Mal nicht, okay?«

»Weil dies hier …«, Peter Dohmen drehte sich mit weit aufgerissenen Armen um die eigene Achse, »… aber die rechtsmedizinische Abteilung ›meines‹ Kommissariats ist, darf ich doch sicher dabei sein, wenn dir Angelika sagt, was sie herausbekommen hat, oder etwa nicht?«

Da war es wieder, dieses ewige Platzhirschgehabe, das der deutsche und der belgische Chefermittler eigentlich nicht mehr an den Tag legen wollten, seit sie zusammen im allgäuischen Oberstaufen gewesen waren, um Gilbert Primat gemeinsam zu verhaften, den damals über sämtliche Landesgrenzen hinweg gesuchten »Glühweinerpresser«. Seither waren sie sogar mehr oder weniger zu Freunden geworden – irgendwie zumindest. Deswegen und weil ihm dieser Fall bereits zugeteilt worden war, zeigte sich der belgische Kommissar großmütig. Er gestattete dem Hausherrn, dabei zu sein, wenn Angelika über die Leiche dozieren würde.

»Jussuf …« Damit meinte sie ihren Assistenten Jussuf Abdalleyah, der sofort verstanden hatte, dass er das Tuch von der Toten nehmen und ihren Oberkörper hochheben sollte.

»Kommen wir also zuerst zur Todesursache: Wie ich bereits am Leichenfundort feststellen konnte, ist sie von hinten erstochen worden! Und zwar …«

»Um Gottes willen! Was ist das denn?«, unterbrach Peter Dohmen die Rechtsmedizinerin, hielt aber sofort inne, als er Frederics genervten Blick sah.

»Darf ich weitermachen?«, hakte sich Angelika gleich wieder ein, um eine unnütze Streiterei der beiden Alphatierchen im Keim zu ersticken. »Also: Die Stichwunde sieht deswegen so schlimm aus, weil der Mörder ein Messer benutzt hat, das einseitig normal geschärft ist und auf der anderen Seite grobe Sägezacken besitzt! Deswegen muss er es ihr mit aller Kraft in den Rücken gerammt haben. Zudem hat er es ein paar Mal in der Wunde gedreht. Die von der Schneideseite her spitz zulaufende Klinge ist am Schaft 40 Millimeter breit und genau 21,5 Zentimeter lang.«

»Gerade so kurz, dass sie vorne nicht herauskam«, resümierte Frederic.

»Kurz?«, entfuhr es Jussuf Abdalleyah verwundert.

Aber weder Frederic noch Angelika gingen darauf ein. Stattdessen gab sie Frederic recht und fuhr unbeirrt fort: »Ja. Der Stich ging von hinten genau in den linken Lungenflügel. Und zwar so, dass sie nicht gleich tot war.«

Frederic überlegte kurz, dann fragte er, wie groß die Frau gewesen sei.

»1,66 Meter!«

»Sie war also recht klein. Das heißt, dass der Mörder – wenn er größer ist – das Messer mit dem Daumen nach vorne – also eher von unten – hineingestoßen haben könnte. Der Stichkanal würde dafürsprechen, oder?« Weil ihm Angelika durch ein Kopfnicken beigepflichtet hatte, fasste Frederic seine Theorie zusammen: »Wenn er das Messer von oben benutzt hat, hätte er es zu hoch angesetzt. Wir können also davon ausgehen, dass der Mörder mindestens 1,80 Meter groß ist, oder?«

»Du fragst mich etwas?«, wunderte sich Peter Dohmen, nickte aber bestätigend.

Während die beiden erfahrenen Ermittler darüber sprachen, gebot die Rechtsmedizinerin ihrem Assistenten, die Tote wieder auf den Rücken zurückzulegen. Dann zeigte sie auf die Hämatome zwischen den Brüsten der Toten.

»Was haben die blauen Flecken zu bedeuten?«, mochte Frederic wissen.

»Ganz einfach!«, antwortete die Ärztin. »Siehst du nicht, dass das die Form eines Schuhabdrucks ist?« Sie zeichnete mit dem Zeigefinger die nicht besonders gut erkennbaren Konturen nach und erklärte den beiden, dass der Mörder mit dem spitz zulaufenden Schuh mit hohen Hacken – »vielleicht ein Stiefel« – mit seinem rechten Fuß auf der Brust der Toten gestanden hatte, als er dem bedauernswerten Opfer den rechten Arm absägte. »Eine saubere Arbeit!«, bescheinigte die Rechtsmedizinerin dem Mörder und bedeutete Jussuf, sich auf den Boden zu legen, um die Situation nachstellen zu können. »Übrigens: Schuhgröße 45!«

Angesichts dieses Schauspiels musste Frederic trotz der traurigen Sachlage und der bedauernswerten Toten für einen Moment belustigt schmunzeln, blieb aber professionell: »War sie da bereits tot?«

Angelika blähte ihre Wangen und stieß Luft aus, bevor sie antwortete. »Ich glaube nicht. Sie war aber sicherlich bewusstlos von den Folgen des Stiches in ihren Rücken, während ihr der Arm abgetrennt wurde. Ich kann auf jeden Fall schon einmal so viel sagen, dass der Arm mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit demselben Messer abgetrennt wurde, mit dem auch der Stich in die Lunge erfolgte. Haut und Fleisch wurden akkurat aufgeschnitten, bevor der Os humeri fachgerecht zersägt wurde.«

»Also nicht unbedingt post mortem?«, interessierte Frederic, der sich mit der menschlichen Anatomie bemerkenswert gut auskannte.

Angelika nickte bestätigend.

»Dann kann es sich bei dem Mörder nur um einen ganz besonders perversen Triebtäter handeln!«, konstatierte Peter Dohmen.

»Das müsst ihr herausfinden«, antwortete die Ärztin und rief ihren Assistenten erneut zu sich: »Jussuf, holst du bitte die Wäsche?«

Als er die Reizwäsche sah, war Frederic nicht besonders erstaunt. »Ein Slip ouvert mit Tigermuster und ein BH mit Löchern für die Brustwarzen … Netzstrümpfe und Strapse? Deutet auf Prostitution hin, oder sie war auf dem Weg zu einem Rendezvous.«