Der Geheimbund der 45

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Trauer in der Burg derer von Veringen

Altshausen – Anno Domini 1065

Die magische Zahl II

Kapitel 3

Das Amulett war im Besitz des Grafen Wolfrad von Altshausen verblieben. Bis zum unseligen Jahr 1065 war es zu einigen familiären Problemen und äußerst merkwürdigen Unglücken gekommen, die im überraschenden Tod des bis dahin vermeintlich kerngesunden Grafen gegipfelt hatten. Zuvor hatte es aber auch noch andere unerklärliche Geschehnisse gegeben. So war bis zum Tod des Grafen gleich mehrmals in der Burg Altshausen eingebrochen und alles durchwühlt worden. Dabei hatte ein Leibdiener des Grafen den Tod gefunden. Weil man ihn mit durchgeschnittener Kehle im Schlafzimmer seines Herrn aufgefunden hatte, waren alle davon ausgegangen, dass er den Grafen hatte schützen wollen und sich todesmutig vor den Einbrecher gestellt hatte.

Bei seinen Einbrüchen war der Täter raffiniert vorgegangen und hatte immer dann zugeschlagen, wenn der nunmehr allein lebende Graf verreist war. Dies hatte vermuten lassen, dass der Einbrecher Kenntnis über die Reisepläne des Adeligen gehabt hatte. Es musste im engsten Umfeld des Grafen einen Verräter geben oder der Einbrecher war einige Zeit am Hof gewesen und hatte das Verhalten des Hausherrn studiert.

Aber auch dies war lediglich reine Spekulation gewesen. Sicher war nur, dass irgendjemand irgendetwas gesucht … und augenscheinlich nicht gefunden hatte. Denn bei sorgfältiger Überprüfung nach jedem Einbruch war stets festgestellt worden, dass rein gar nichts gefehlt hatte; weder das Tafelsilber noch der Schmuck der bereits vor dreizehn Jahren verstorbenen Gräfin, geschweige denn wertvolles Interieur, Kunstwerke oder sonst etwas. Und um die schwere Geldschatulle des Grafen wegzuschleppen, hätte es mehrerer Männer bedurft. Außerdem war diese so gut versteckt, dass sie von niemandem hatte gefunden werden können.

Was also in Herrgotts Namen war für den Einbrecher so wichtig gewesen, dass er einen wehrlosen alten Diener umgebracht und immer wieder das Risiko auf sich genommen hatte, auf frischer Tat ertappt zu werden? Was dies für ihn bedeutet hätte, wäre allen Untertanen des Grafen klar gewesen. Deswegen lag die Vermutung fern, dass es einer der ihren gewesen war. Umso mehr hatte den Burgherrn interessiert, wer die unheimliche Gestalt war, die offensichtlich keinen Respekt vor den hiesigen Gesetzen hatte. Aus diesem Grund, und um den Tod seines Leibdieners zu sühnen, hatte er alles in Bewegung gesetzt, um den Einbrecher auf frischer Tat zu erwischen. Aber trotz der Verdoppelung seiner Wachen und etlicher anderer Vorsichtsmaßnahmen war ihm dies bis zu seinem eigenen Tod nicht gelungen.

*

Wegen dieser Vorfälle war die Familie des toten Grafen Wolfrad lange Zeit vor einem Rätsel gestanden. Aber Manegold I., das neue Familienoberhaupt derer von Altshausen, hatte andere Sorgen gehabt; die Beerdigung seines verstorbenen Bruders hatte ebenso vorbereitet werden müssen wie die Neuregelungen der Grafschaft Altshausen-Veringen und der Herrschaft Trauchburg. Bevor Manegold das Erbe seines Bruders ordentlich hatte übernehmen können, hatte Wolfrad sieben Tage lang aufgebahrt werden müssen, was in der Kälte des Winters problemlos ohne allzu große Geruchsentfaltung machbar gewesen war. Während dieser Zeit hatten diejenigen, die ihm am offenen Sarg die letzte Ehre erwiesen hatten, die Gelegenheit gehabt, Einwände gegen die von Wolfrad gewünschte Erbfolge vorzubringen – immerhin war der Erbe kein leiblicher Sohn des Grafen, sondern nur dessen leiblicher Bruder. Da konnten Begehrlichkeiten von Seiten anderer Familienmitglieder aufkommen.

Obwohl solch familiäre Dinge bisher immer friedlich hatten geklärt werden können, war Vorsicht geboten. In der Burg Altshausen war das »Vetorecht« am offenen Sarg eines verstorbenen Herrschers von jeher eine ebenso genau reglementierte Tradition gewesen wie die Art und Weise der Aufbahrung. Zu dieser hatte schon immer gehört, dass der Verstorbene die schwergliedrige Kette mit dem kunstvoll emaillierten Familienwappen um den Hals trug, die er zu Lebzeiten nur bei besonders wichtigen und großen Anlässen präsentiert hatte. Dem verstorbenen Regenten diese Kette umzulegen, war eine der vornehmlichen Aufgaben des designierten Nachfolgers gewesen, ebenso sie ihm kurz vor der Einsargung wieder abzunehmen, um sie für kommende Generationen verwahren und zu gegebener Zeit an sie weitergeben zu können.

»Ach, Bruder!«, hatte Manegold trotz der Freude über das auf ihn zukommende Erbe geseufzt, als er seinem Vorgänger in Amt und Würde die Wappenkette umgelegt hatte. Zuvor hatte er seinem Bruder das Amulett abnehmen müssen, das ihm anlässlich der Kirchenweihe in villa Ysinensi vom Konstanzer Bischof überreicht worden war.

Manegold erinnerte sich noch daran, dass Wolfrad dieses Amulett so lange als wertlos eingestuft hatte, bis ihm sein in Arithmetik und Astronomie erfahrener Sohn Hermann die geheimnisvolle Welt der Zahlen erschlossen hatte, die auf dem Revers des Amuletts zu sehen waren. Und nicht nur das; der kluge und belesene Reichenauer Benediktinermönch hatte auch die Symbolik auf dem Avers des Amuletts zu deuten gewusst. »Laut den Abbildungen und Aufzeichnungen eines alten Buches aus einem fernen Land namens China könnte es sich bei der Darstellung der Leiche in der Mitte des Amuletts um einen verstorbenen ›Huang‹, eine Art ›erhabenen Gottkönig‹ handeln!«, hatte er gesagt und dazu ergänzt, dass die zu beiden Seiten des Toten abgebildeten menschlichen Innereien darauf hindeuten könnten, dass man dem König die lebenswichtigen Organe entnommen hatte, um ihn für die Unendlichkeit einbalsamieren zu können. Nachdem er dies gesagt hatte, waren Manegold und die anderen Zuhörer derart entsetzt gewesen, dass sie allesamt das Kreuz geschlagen hatten und ihm nicht mehr hatten zuhören wollen. Aber Hermann war stur geblieben und hatte das Auditorium, das um ihn herum versammelt gewesen war, weiter aufgeklärt: »In China wurden schon vor dreitausend Jahren Leichenöffnungen vorgenommen, einerseits zum Zwecke der Wissenschaft. Andererseits …«, bevor er weitergesprochen hatte, war von ihm das Amulett so hochgehalten worden, dass es alle hatten sehen können, »… ist dies auch geschehen, um die Erinnerung an bedeutende Menschen für Jahrhunderte oder sogar über Tausende von Jahren hinweg aufrechtzuerhalten. Dabei spielte die Religion schon immer eine wichtige Rolle. Die Abbildungen auf beiden Seiten dieses Amuletts sollen den Betrachtern wohl sagen, dass sie sich ebenfalls der Verbreitung wissenschaftlichen Gedankengutes und dessen Umsetzung zuwenden sollen«

Als wenn es nicht schon still genug im Wappensaal des Altshausener Schlosses gewesen wäre, warnte Hermann seine Zuhörerschaft davor, die Kraft des Amuletts zu unterschätzen. »… denn dort, wo dieses ›Magische Amulett‹ ist, lauert der Tod! Es wird wohl das Beste sein, wenn niemand weiß, wo es sich befindet! Es aber leichtsinnig irgendwo zu vergraben oder auf eine andere Art loszuwerden, würde noch mehr Unheil über den Besitzer und seine Familie bringen!« Er räusperte sich und beendete seinen kurzen Vortrag mit den Worten: »Es ist wie ein böser Fluch!«

Von da an hatten Hermanns Zuhörer gewusst, dass sie ihre Familien auch über die kommenden Generationen hinweg vor diesem Amulett warnen mussten. Wolfrad selbst hatte es bis zu seinem Tod Tag und Nacht an einem Lederriemen um seinen Hals getragen. »Damit es nicht in falsche Hände gerät und somit kein Unheil mehr angerichtet werden kann!«, hatte er in Erinnerung an die grausamen Morde am Ortsvorsteher von villa Ysinensi und an seinem Leibdiener gesagt, bevor er mit einem gequälten Lächeln ergänzt hatte, dass derjenige, der ihm das Amulett abnehmen wolle, ihn umbringen müsse.

Auf Nachfrage hatte Hermann seiner Familie auch die Mythologie und die Symbolik der Zahlen Eins bis Neun, die innerhalb des »Magischen Quadrates« auf der Rückseite zu sehen waren, genau erklären wollen, war aber im Trubel dieser familiären Zusammenkunft nicht damit fertig geworden. So hatte er es zunächst bei der Eins belassen müssen: »Genau so, wie es nicht möglich ist, halbtot zu sein, kann die Zahl Eins nicht geteilt werden. Aber von ihr nimmt jede weitere Zahl ihren Ausgang …«, war alles, an was sich Manegold angesichts seines toten Bruders und dessen ebenfalls toten Leibdieners hatte erinnern können. Was für eine Bedeutung mag dann die Zahl Zwei haben?, hatte er sinniert, während er dem Bruder sanft den Kopf angehoben hatte, um ihm das Amulett abzunehmen und ihm stattdessen das Familienwappen umzulegen.

Schon wenige Tage später sollte er eine zwar nicht ganz zufriedenstellende, aber doch eine Antwort auf seine Frage erhalten. Denn mit Arnulf war ein Neffe nach Altshausen gekommen, der nicht nur Abschied von seinem Oheim nehmen wollte, sondern sich beruflich voll und ganz der Arithmetik verschrieben hatte. Manegold lud Arnulf auf ein persönliches Gespräch zu sich.

»Zwei Dinge – das Gute und das Böse – sind keine gegensätzlichen Pole! Und die Welt ist eine zerrissene Welt! Da wird etwas getrennt, was eigentlich zusammengehört!«, hatte Arnulf ihm gleich zu Beginn dieses Gespräches erklärt.

Das geht ja gut los, dachte sich Manegold. Zum Zeichen dafür, dass er nichts verstanden hatte, zuckte er mit den Schultern und zog die Augenbrauen hoch, während er gleichzeitig die Mundwinkel nach unten schob.

Dann begann sein hochgebildeter Neffe zu dozieren: »Das Bewusste und das Unbewusste, das Harte und das Weiche, das Gerade und das Ungerade, das Offene und das Verborgene, das Hintere und das Vordere, das Oben und das Unten, Licht und Schatten, sowie der rhythmische Wechsel von Tag und Nacht, der mit Helligkeit und Dunkelheit einhergeht, sind Gegensätze, die zwar eine Spannung erzeugen, aber dennoch aufeinander bezogen sind! Das eine kann nicht ohne das andere!«

 

Bevor der aufmerksame Manegold eine Frage stellen konnte, fuhr Arnulf fort: »Wenn die Zwei aber zu einem Widerspruch führt, dann stehen die soeben genannten Beispiele wie zwei streitbare und unversöhnliche Kontrahenten zueinander! Gerade das Gute und das Böse sind keine Gegensätze, die sich gegenseitig bedingen!«

»Nein?«, kam es versehentlich aus dem Mund des staunenden Zuhörers.

»Nein!«, bestätigte Arnulf, bevor er fortfuhr: »Sie stellen sich sogar gegenseitig infrage: Das Gute ist doch das, was sein soll, oder?«

Weil er auch dies verstanden hatte, nickte Manegold.

»Und das Böse ist das, was nicht sein darf, … aber allgegenwärtig ist!«

Arnulf hatte zwar gemerkt, dass ihm ein gleichsam fassungsloser wie ratloser Mann gegenübersaß. Trotzdem beendete er seine Ausführungen, obwohl es zur Bedeutung der Zahl Zwei noch viel zu sagen gäbe. Denn er hatte sich gut gemerkt, was er während seines Studiums über die Mythologie und die Symbolik der Zahlenfolgen gelernt hatte. »Langer Rede kurzer Sinn!«, sagte er und kam zum Schluss: »Die Zwei ist Zweifel, Zwist, Zwietracht, Zwiespalt; sie ist eine Zwillingsfrucht am Zweig eines Baumes, gleichsam süß und bitter!« Er schaute seinem Oheim warnend in die Augen, dann sagte er abschließend: »Die Zwei bleibt nie allein!«

»Das … das heißt, mein Bruder und dessen Leibdiener sind nicht die letzten …«

Noch bevor Manegold das Unfassbare ausgesprochen hatte, nickte Arnulf und spreizte den Daumen, den Zeige- und den Mittelfinger seiner rechten Hand, die er seinem Onkel warnend entgegenstreckte.

*

Nachdem Gott den Grafen Wolfrad von Altshausen, den gottesfürchtigen Kirchenstifter, in den Himmel abberufen hatte, war laut Erbrecht die um Veringen erweiterte Grafschaft Altshausen mitsamt den Herrschaften Trauchburg und Ysinensi auf seinen Bruder Manegold und seine verwitwete Schwester Irmengard übergegangen. Manegold I. war nun der uneingeschränkte Herr des traditionsreichen Hauses Altshausen, das sich um einiges erweitert hatte.

Dem umsichtigen Grafen gelang es mit dem nötigen Weitblick, das Erbe seines Bruders Wolfrad so erfolgreich fortzusetzen, dass sich sein Herrschaftsgebiet in jeder Hinsicht prächtig entwickelte.

Klosterstiftung bringt Unheil, Dorfentwicklung Fortschritt

Altshausen und Ysinensi – Anno Domini 1090, 1096, 1100 und 1104

Die magische Zahl III

Kapitel 4

Aus Dankbarkeit für seine glückliche Hand und auf Wunsch des längst verstorbenen Benediktinermönchs Hermannus Contractus mochte Manegold zusammen mit seiner Gemahlin Liutphild und mit seiner Schwester Irmengard mit gleich frommem Eifer und mit gleicher Liebe das von Wolfrad begonnene Werk zur Lobpreisung Gottes weiterführen. So sollte Wolfrads Kirchenstiftung in villa Ysinensi durch eine weitere Stiftung und den Bau eines Klosters gekrönt werden. Dazu brauchte es Platz und Geld. Um dies zu bekommen, ließ Graf Manegold seine Schwester und seine beiden Söhne Walther und Wolfrad zu sich kommen. Dazu geladen hatte er den neuen Pfarrer von Altshausen und den Abt des Klosters Hirsau.

*

Wie schon Wolfrads Gemahlin Hiltrud in früheren Zeiten hatte auch Gräfin Liutphild auffahren lassen, was Küche und Keller hergegeben hatten. Im Unterschied zu damals saß allerdings nicht nur der amtierende Altshausener Pfarrer, sondern auch noch ein Abgesandter des Klosters Hirsau aus dem Nordschwarzwald am üppig gedeckten Tisch.

»Ich bitte unseren ehrwürdigen Abt Wilhelm zu entschuldigen und mit meiner Wenigkeit Vorlieb zu nehmen. Aber wegen des großen Zulaufes in unserem Kloster plant er eine Erweiterung von St. Aurelius und ist deswegen unabkömmlich!«, entschuldigte sich der Stellvertreter des Hirsauer Abtes bereits zum zweiten Mal, während er auf die Köstlichkeiten schielte, die auf Veranlassung der Gräfin immer noch aufgetragen wurden.

Das freundliche »Greift bitte zu!« hätte sich der Graf sparen können. Denn so schnell hatten die Bediensteten gar nicht schauen können, wie sich der Hirsauer Mönch die Backen gefüllt hatte.

Als der Pfarrer dies sah, lächelte er verständnisvoll. Dann griff auch er ungeniert zu.

Über dieses unmanierliche Verhalten entsetzt, schauten sich die gräflichen Familienmitglieder an. Um die beiden Kleriker aber nicht zu brüskieren, streckte der Hausherr sein Glas dem Mundschenk entgegen, um es füllen zu lassen. Dann bedeutete er seinen beiden Söhnen, seiner Schwester und seiner Gemahlin, es ihm gleichzutun. Als alle ihre Trinkgefäße gefüllt hatten, stand der Hausherr auf und hielt sein Glas zuerst dem Prior, dann dem Pfarrer und zuletzt seiner Familie entgegen. »Auf gutes Gelingen!«

Das Repetieren seiner Worte durch die anderen ging in den vollen Mündern der beiden Männer Gottes unter. Das wird ja was werden, dachte sich der Graf im Hinblick auf das kommende Gespräch, das wegen der Völlerei seiner Gäste wohl noch eine ganze Weile würde warten müssen. Und genau so war es auch; die beiden Kleriker stopften sich eine geschlagene Stunde lang voll, während derer lediglich Höflichkeiten und ein paar Unwichtigkeiten ausgetauscht werden konnten. Dabei schmatzten sie ungeniert. Etliche Rülpser und Leibeswinde später konnte das Geschirr abgeräumt werden. Die auf dem ganzen Tisch herumliegenden Knöchelchen der in Salzlake gepökelten Schweinefüßchen und der gebratenen, mit Honig überstrichenen Hühnchen nahm eine Dienstmagd mitsamt der total versauten Tischdecke mit.

Als die fünf Männer dann auch noch einen Branntwein vom Bodensee vor sich stehen hatten, konnte Graf Manegold das Wort ergreifen und endlich ernsthaft zum Thema kommen. Also begann er: »Um ein Kloster errichten zu können, bedarf es eines ansehnlichen Grunds und Bodens, den Wir mit Zustimmung Unserer holden Gemahlin Liutphild, Unserer gemeinsamen Söhne Walther und Wolfrad, aber auch mit Einwilligung Unserer hochverehrten Schwester Irmengard und deren Sohn Manegold stiften werden!« Das Gespräch solchermaßen eröffnet schaute er ins Rund, um sich durch das gönnerhafte Kopfnicken seiner Familie das bestätigen zu lassen, was sie bereits hinreichend besprochen hatten. Er fuhr fort: »Mit weiteren, teils beweglichen, teils unbeweglichen Gütern in Form von zwölf der vierundzwanzig bereits bestehenden Höfe nebst anderen Grundstücken, Äckern, Wiesen, Weideplätzen, Waldungen, Wasserstellen, Mühlen und anderen Besitzungen werden Wir den Grundstein für den Bau eines Klosters in Ysinensi legen. Um diesen Kraftakt bewältigen zu können, werden Wir das aufblühende Dorf im Süden Unseres Herrschaftsgebietes in den Mittelpunkt Unseres Tuns rücken müssen! Dazu sind Wir mit der ganzen Macht Unseres Verstandes und Unseres Herzens entschlossen!«

»Hoffentlich auch mit der ganzen Kraft seiner Geldschatulle«, flüsterte der Altshausener Pfarrer dem klösterlichen Abgesandten in einem unbeobachteten Augenblick zu, bekam aber anstatt des erhofft zustimmenden Lächelns nur einen strafenden Blick zurück.

Nachdem der Graf seine weiteren Vorstellungen mitsamt einem Lageplan auf den Tisch gelegt hatte und sich auch seine Familie hinreichend zu Wort gekommen war, übermittelte der Prior die Vorschläge seines Abtes. Dabei war rasch offenkundig geworden, dass Abt Wilhelm auf die Empfehlungen seines Vertrauten Hugo von Cluny gehört und dessen strenge Lebensweise für das Kloster Hirsau übernommen hatte.

»Wenn es in Eurem Sinne ist, dass insbesondere der Tagesablauf, die Liturgie und die Organisation der klösterlichen Gemeinschaft auch in Ysinensi ganz besonders streng geregelt sind, entsendet unser geliebter Abt Wilhelm gerne so viele Mönche, wie benötigt werden, um ein geordnetes Klosterleben zum Wohlgefallen Gottes zu gewährleisten!«

Stundenlang hatten sie sich über viele Details des geplanten Klosterbaus und der späteren Klostergründung unterhalten. Dabei waren sie in medias res gegangen und hatten – sozusagen zur geistigen Erbauung – das »Blut Gottes« getrunken, wie der Prior den köstlichen und von ihm geweihten Wein aus der Mersburger Gegend bezeichnete. Im Verlauf des Gesprächs hatten sie auch allerlei Neuigkeiten ausgetauscht und waren von einem Thema ins andere gerutscht. So waren sie zu vorgerückter Stunde auch noch auf das »Magische Amulett« zu sprechen gekommen, von dem der derzeitige Besitzer berichtete, dass es bereits drei Menschenleben gekostet hatte. »Aber was soll ich tun?«, klagte der Graf. Ohne eine Antwort abzuwarten, die sowieso nicht gekommen wäre, beruhigte er sich selbst, indem er sagte, dass ihm wohl nichts anderes übrig bleiben würde, als es zu behalten und vor fremden Augen zu schützen.

»Ich weiß nicht, ob dies ein guter Gedanke ist«, warf der Prior ein.

»Wie meint Ihr das?«, mochte der Graf sofort wissen.

Der Stellvertreter des Hirsauer Abtes hielt dem Mundschenk sein Glas entgegen. Gleichzeitig umklammerte er mit der anderen Hand das vor seiner Brust hängende Pektorale – gerade so, als wenn er sich damit vor etwas schützen wolle.

»Was ist jetzt?«, drängte der unruhig gewordene Graf.

Der Prior beugte sich seinem Gastgeber verschwörerisch entgegen und flüsterte so leise, dass es die anderen nicht mitbekommen konnten: »Man hört ja so einiges …«

»Nun lasst Euch nicht alles aus der Nase ziehen!«, grummelte der Graf, während er den Mundschenk zu sich beorderte und auf das immer noch leere Glas des Priors zeigte.

Der Hirsauer rückte noch näher an den Grafen heran, bevor er ihm zuflüsterte, über mehrere Ecken gehört zu haben, dass es wohl einen Geheimbund geben müsse, der vor vielen Jahren im Konstanzer Münster gegründet worden sei.

»Was ist mit diesem geheimnisvollen Bund? Und was hat er mit dem Amulett zu tun?«

»Also gut!«, besänftige der Prior die Neugier seines adeligen Gastgebers. »Ich weiß nur so viel, dass sich diese Geheimbündler den Ziffern auf einem Amulett verschrieben haben, das über die Jahrhunderte hinweg immer wieder verloren geht, weswegen …«

»… sie es auch immer wieder suchen und dabei über Leichen gehen, um es zurückzubekommen?«, ergänzte der Graf mit fragendem Blick.

Kaum hatte er dies ausgesprochen, bekreuzigten sich die beiden Kleriker. Weil dem Besitzer des Amuletts das bestätigt worden war, was er schon länger geahnt hatte, wurde ihm schlagartig klar, dass er sich in Lebensgefahr befand, solange das vermaledeite Amulett in seinem Besitz war.

»Dennoch dürft Ihr es nicht weitergeben!«, warnte der Prior, der bemerkt hatte, was in seinem Gastgeber vorging.

Während der Benediktiner dem Grafen in ausladenden Worten alles berichtete, was Kleriker von Konstanz bis nach St. Gallen und zum Schwarzwald unter vorgehaltener Hand über einen grausamen »mehrere Hundert« Mitglieder umfassenden Geheimbund zu wissen glaubten, wurde Manegold immer schweigsamer. Wenn er auch wegen der in ihm hochgestiegenen Panik nichts mehr hören mochte, erklärte ihm der Prior unter dem Siegel der Verschwiegenheit, dass es sich um sogenannte Assassinen handeln solle, eine Meuchelmördersekte aus einem fernen Land namens Syren »… oder so ähnlich!«

Obwohl der schon längst mehr als gut angetrunkene Mönch selbst nicht mehr merkte, was er dem Grafen für einen Mist erzählte, war es ihm gelungen, eine solche Angst in dem Adeligen zu schüren, dass Manegold nur noch kleinlaut über die Lippen kam, dass es »beim nächsten Mal« drei sein würden. »… damit meine ich drei Tote!«

Dies nahm der blitzgescheite und belesene Prior zum Anlass, um dem Grafen etwas darüber zu erzählen: »Tres est numerus perfectus!«, begann er in bestem Latein und meinte damit, dass die Zahl Drei auf Vollkommenheit hinwies. »Denn erst was sich in der Trias fassen lässt, kann getrost in sich ruhen und ist ein abgeschlossenes Ganzes – genau wie unsere göttliche Dreifaltigkeit!« Kaum hatte er dies gesagt und einen weiteren Schluck genommen, fielen ihm die Augen zu.

Zum Zeichen dafür, dass die anderen ihn gewähren lassen und um Gottes willen ja nicht seinen himmlischen Schlaf stören sollten, legte der Graf einen Zeigefinger auf seine Lippen. Zu seiner Erleichterung schlief der Prior tatsächlich noch am Tisch ein. Um nichts mehr über das Amulett und den mutmaßlich damit verbundenen Geheimbund hören zu müssen, bedeutete der Graf den anderen mit einer weiteren Geste, sich leise zu erheben und den Speisesaal zu verlassen. In dieser Nacht würde er selbst wohl keinen Schlaf finden, zu sehr würde ihm die Zahl Drei im Kopf herumschwirren.

*

Die Zeit verging wie im Flug. Bei der Planung zum Bau des Klosters in Ysinensi lief ebenso alles gut wie bei den anderen Vorbereitungen. Deswegen war Manegold I. Graf von Altshausen-Veringen zu beschäftigt, um ständig an das Amulett denken zu können. Nach wie vor trug er es tagtäglich so unter dem Hemd um seinen Hals, dass niemand es sah. Dennoch war ihm nicht wohl in seiner Haut. Gerade nachts hatte er oft das Gefühl, als wenn sich die Konturen des Amuletts in seine Haut brennen würden. Dies hatte meist zur Folge, dass er heftig schnaufend aufwachte und Schmerzen in der gesamten Brustgegend hatte. Oder bildete er sich dies alles nur ein?

 

Was sollte er tun?

Als es so weit war und in Kürze der Grundstein für das Kloster gelegt werden sollte, hatte er keine Zeit mehr, sich Gedanken um das Amulett zu machen.

*

Für Hannes Eberz, Michael Eberz’ Sohn, sollte der Baubeginn zu einem schmerzlichen Akt geraten, weil ausgerechnet er die Holzkirche abreißen musste, die sein Großvater Gerold vor fünfzig Jahren mit seinen eigenen Händen in Fronarbeit errichtet hatte. Dass genau an diese Stelle der Sakralbau der neuen, wesentlich größeren Kirche kommen sollte, machte die Sache nicht leichter für ihn. Aber der gute Fortgang des Kirchenbaus und der restlichen Klosteranlage versöhnten ihn nach und nach wieder mit Gott und der Welt.

Denn sowohl Graf Manegold als auch der designierte erste Abt gleichen Namens und nicht zuletzt Hannes Eberz selbst, der seinem Großvater etliche Jahre später im Amt gefolgt und vom neuen Grundherrn zum Mair von Ysinensi bestallt worden war, taten alles, um den Klosterbau möglichst rasch voranschreiten zu lassen. Im Gegensatz zum ersten Kirchenbau sorgte nun ein Heer von Baumeistern und Handwerkern aller Gewerke dafür, dass bis zur feierlichen Weihe und zur von Papst Urban II. gesegneten Amtseinführung des Abtes, der für seine Gottesfurcht bekannt war und selbst dem Geschlecht der Grafen von Veringen entstammte, alles nach Plan verlief.

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