Der Geheimbund der 45

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Ein todbringendes Geschenk

Altshausen und villa Ysinensi – Anno Domini 1041 bis 1042

Die magische Zahl I

Kapitel 1

Ein Geräusch zerriss die Stille. Vielleicht ein Flügelschlagen. »Hörst du das auch?«, flüsterte Gerold Eberz, ein Ackerbauer und Sargmacher aus der kleinen Allgäuer Siedlung namens villa Ysinensi, an einem frühen Novembermorgen im Jahre des Herrn 1041 seinem Sohn Michael zu. Aber er bekam keine Antwort. Sein neunjähriger Spross saß ein ganzes Stück vom Vater entfernt auf dem Ast eines Baumes und konzentrierte sich auf das, was gleich direkt unter ihm geschehen würde. Denn während sein Vater am Ufer des kleinen Weihers im Norden ihrer beschaulichen Heimatsiedlung darauf wartete, dass ein Fisch anbiss, lauerte Michael darauf, dass ihm ein Kaninchen in die Drahtfalle ging, die sich jederzeit zusammenziehen konnte. Dabei musste er darauf achten, dass der gefrorene Ast sein Gewicht aushielt.

Während der Vater mit zusammengekniffenen Augen das Dunkel dieses Wintermorgens zu teilen versuchte, zupfte er immer wieder leicht an der Angelschnur, die im klaren Wasser des Weihers hing. Obwohl die Temperaturen hier gerade im Winter streng sein konnten, fror die Aachquelle nie zu. Daran, dass hier jemals ein fließendes Gewässer mit einer Eisschicht bedeckt gewesen war, konnte sich der Vater nicht erinnern, auch in diesem Winter nicht, obwohl es so ausnehmend frostig war, dass die Bevölkerung fror wie selten zuvor. Das Fällen von Bäumen als Brennmaterial war den geplagten Untertanen des Grundherrn, Wolfrad II. Graf von Altshausen, strikt untersagt worden. Lediglich Bruchholz durften sie einsammeln. Trotz der hohen Wahrscheinlichkeit, eines Tages erwischt zu werden, hatte es die hungernde und verhärmte Bevölkerung über Generationen hinweg riskiert, die Wälder ihrer Herren zu freveln, das Wild daraus zu jagen und in den gräflichen Gewässern zu fischen.

Was dies anbelangte, waren gerade die Menschen von villa Ysinensi im Laufe der Jahre einfallsreich geworden. Sie rotteten sich meist in den späten Herbsttagen zusammen, um in den Besitz von »Bruchholz« zu gelangen. Und dies spielte sich immer auf die gleiche Art ab: Während die Frauen von der Natur gegebenes Bruchholz und herumliegende Äste einsammelten, regelten die Männer den Rest. Ein paar von ihnen waren dafür zuständig, die anderen zu warnen, falls der gräfliche Forstverwalter mit seinen rauen Gehilfen auftauchen würde. Währenddessen schlugen die meisten von ihnen mit ihren Äxten die Stämme der sorgsam ausgewählten Bäume nur so weit an, dass die Zugkraft ihres einzigen Pferdes den Rest des Baumstamms knicken und zum Bersten bringen konnte. Die glatte Hälfte der Baumstümpfe bearbeiteten sie dann so, dass es aussah, als wären die Bäume vom letzten Sturm umgerissen worden. Danach etwas Walderde darübergestrichen und mit Glück ein bisschen Zeit bis zum nächsten Inspektionsrundgang des Forstverwalters gewonnen, so war der Waldfrevel bisher kaum einmal offenkundig geworden. Damit keiner den anderen beim Grafen anzeigen konnte, mussten sich sämtliche Männer der Siedlung daran beteiligen.

»Irgendwann kriegen sie uns!«, hatte Gerold Eberz mehr als einmal gewarnt. Der trotz seines niederen Standes kluge Urenkel eines Ackerbauern, Enkel eines Ackerbauern und Sohn eines Ackerbauern hatte sich in Ravensburg zum Sargtischler ausbilden lassen, weswegen er sich zwar den Ärger seiner Eltern, aber auch den Respekt seiner Mitmenschen und sogar den der Obrigkeit verdient hatte. Denn außer ihm war noch keiner von ihnen aus villa Ysinensi hinausgekommen. Er war von allen Männern der Siedlung derjenige, der am meisten von Holz und dessen Verarbeitung verstand. Deswegen lag es auch Jahr für Jahr an ihm, die Baumstümpfe so zu präparieren, dass sie glaubwürdig danach aussahen, als hätte sie ein Sturm umgerissen und dementsprechend zersplittert. Der gräfliche Forstverwalter war allerdings nicht dumm, weswegen ständig die Gefahr drohte, ihm auf den Leim zu gehen. Dennoch war in all den Jahren fast nichts schiefgelaufen. Nur wenige der Männer waren von den Schergen des Grundbesitzers so hart bestraft worden, dass sie nicht hatten weiterarbeiten können.

Aber Gerold Eberz war wohl bewusst, dass er und sein Sohn an diesem Wintermorgen etwas streng Verbotenes taten, das ihrer beider Leben kosten konnte. Deswegen war der äußerst wachsame Familienvater unruhig geworden. Ohne zu atmen, lauschte er ins morgendliche Halbdunkel hinein. Er konnte sich anstrengen, wie er mochte; das, was er zu hören glaubte, war nicht zu sehen. Und dies beunruhigte den abergläubischen Mann, der zusammen mit seinem Sohn mutig damit beschäftigt war, gleich zweifach gegen das vom Grundherrn herausgegebene »Jagdt- und Fischereyrechtt« zu verstoßen. Darauf stand offiziell die Todesstrafe und weil sich die gesamte Gegend im Besitz des Grafen von Altshausen befand, war dieses elende Gesetz lebensbedrohend – weniger wegen der drohenden Strafe bei Zuwiderhandlung, vielmehr wegen der Hungersnot bei Nichtzuwiderhandlung. Eine Todesstrafe drohte in Wirklichkeit vermutlich nicht, dafür waren die steuerzahlenden Arbeitskräfte zu wertvoll. Aber welchen Grundherrn scherten schon die Vermutungen seiner Untertanen?

Weil Eberz zehn Mäuler zu stopfen hatte, mussten die beiden weitermachen, ohne sich von irgendwelchen Gesetzen beirren zu lassen. Der alte Mann zog unverdrossen weiter an seiner Angelschnur, während sein Sohn ein Kaninchen entdeckte, das seinen Köder gerochen haben musste.

Im vergangenen Jahr war villa Ysinensi noch eine gänzlich schutzlos offene Siedlung gewesen. Seit die Siedler aber unter der fachkundigen Ägide von Gerold Eberz einen einfach geflochtenen Speltenzaun aus Weidenruten und geviertelten Holzstangen errichtet hatten, fühlten sie sich sicherer. Wenn diese primitive Ortsumschließung auch Lücken zwischen den Holzpflöcken aufwies, bot sie doch einen gewissen Schutz vor Wölfen und anderen Wildtieren. Das Wichtigste dabei war aber, dass es allein dieser Zaun vermochte, aus den vierundzwanzig Behausungen der ehemaligen Haufendorfsiedlung ein richtiges kleines Dorf zu machen, in dem zum gegenseitigen Schutz der Zusammenhalt noch mehr heraufbeschworen werden konnte als zuvor. Die ersten Hütten waren auf einer kleinen Erhebung um den Fronhof des Grafen herum errichtet worden, damit die hier lebenden Menschen bei Notwendigkeit auch den Schutz ihres Grundherrn in Anspruch nehmen konnten, aber auch, um ihm jederzeit schnell zur Verfügung zu stehen, falls er sich in villa Ysinensi aufhalten sollte … was allerdings in der Vergangenheit höchstens zweimal im Jahr vorgekommen war. Da hatte sich sein Abgabeneintreiber schon öfter blicken lassen.

Während Michael unbeirrt vom Baum herunter auf die Kaninchenfalle spähte, horchte sein Vater wieder konzentriert ins Nichts des aufziehenden Morgens. »Rabenvögel«, murmelte er seine Wahrnehmung leise in sich hinein. Nach genauerem Hinhören konnte er abschätzen, dass es mindestens ein Dutzend, wenn nicht gar drei Handvoll dieser Unglücksvögel waren, die sich inzwischen auf den umliegenden Bäumen niedergelassen hatten.

»Dreizehn!«, entfuhr es ihm bei diesem Gedanken so laut, dass die Schar erschrocken aufstob und laut krächzend davonflog. »Das ›Dutzend des Teufels‹ hat uns gesehen! Das ist kein gutes Zeichen! Lass uns abbrechen, Michael!«, rief er seinem Sohn zu, während er auch schon seine Angelschnur aus dem Wasser zog und hastig auf einen kurzen Stock rollte. Georg wusste aus trauriger Erfahrung, dass eine solche Menge dieser Vögel drohendes Ungemach ankündigen konnte.

Im Moment allerdings schienen sie zumindest Michael kein Pech gebracht zu haben; denn das Kaninchen war tatsächlich in seine Falle getappt. Trotzdem war der junge Eberz verärgert. »Ist dir klar, Vater, dass das Karnickel abgehauen wäre, wenn es deinen Ausschrei auch nur einen Moment vorher gehört hätte?« Während der im Grunde genommen überglückliche Knabe leise weiterschimpfte, kletterte er behände vom Baum, um nachzusehen, ob er einen Rammler gefangen hatte. »Scheiße, schon wieder eine Häsin!«, fluchte er. »Dann kommst du eben doch in Mutters Kochtopf!«

»Du wirst schon noch ein passendes Karnickel fangen, um mit deiner Zucht beginnen zu können. Deine ›Wuschel‹ muss sich in Gottes Namen noch ein wenig gedulden, um für Nachwuchs zu sorgen. Hauptsache, wir haben etwas zu essen! Ich gratuliere dir, mein Sohn! Ich bin stolz auf dich!«

Auf dem Nachhauseweg lag immer noch ein undurchdringliches Grau über ihnen, das sich bis über die Siedlung am Fuße des Schwarzen Grates zog, in der die beiden mit dem Rest ihrer Familie ein gottgefälliges Leben führten – sah man von dem täglichen Mundraub einmal ab. Michael schien hochzufrieden zu sein, doch fröstelte es seinen Vater. Er hatte das Gefühl, als wenn sich die Natur mit den unheilbringenden Vögeln verbündet hätte und ankündigen wollte, welch unbeschreibliches Elend auf die Bewohner von villa Ysinensi jetzt und in den bevorstehenden Jahrhunderten zukommen würde. Dass sich Gerold Eberz’ Vorahnung schon bald erfüllen würde, konnte er allerdings ebenso wenig wissen, wie er nicht im Entferntesten erahnen konnte, dass das kommende und über ganze fünf Jahrhunderte anhaltende Unheil von einem gut gemeinten Gastgeschenk ausgehen würde.

*

Zur selben Zeit hatte sich die gräfliche Familie in ihrer Residenz im knapp sechzig Meilen entfernten Altshausen mit dem dortigen Pfarrer, dem Beichtvater und Vertrauten der Grafenfamilie, zur ersten Mahlzeit des Tages zusammengefunden. Es war ein ganz besonderer Tag, denn mit am Tisch saß nicht nur Manegold, der leibliche Bruder des Herrn dieser fruchtbaren Gegend, sondern auch sein siebenundzwanzigjähriger Sohn Hermann, den man »den Lahmen« nannte. Wegen einer körperlichen Behinderung und eines Sprachfehlers hatte ihn der Vater bereits mit sieben Jahren dem Kloster Reichenau übergeben. Normalerweise hätte Hermann in diesem zarten Alter damit beginnen müssen, die hohe Schule zum Ritter zu durchlaufen. Hätte der an Muskelschwund erkrankte Knabe dies tun können, wäre er schon vor sechs Jahren in den Ritterstand erhoben worden. Der Vater hatte sich aber frühzeitig eingestehen müssen, dass er aus seinem Sohn keinen streitbaren Recken und schon gar keinen weltlichen Herrscher würde machen können. Stattdessen hatte Abt Berno von Reichenau erkannt, dass der Junge mehr mit geistigen Talenten gesegnet war, die es zu fördern galt. Deswegen hatte der Graf sich schweren Herzens dazu entschlossen, nach seinem viel zu früh verstorbenen zweiten Sohn Luitpold an dessen Stelle seinen leiblichen Bruder Manegold zum Nachfolger zu bestimmen.

 

Gräfin Hiltrud hatte wie gewohnt auftafeln lassen, was Küche und Keller hergegeben hatten. Während das Volk darben musste, standen schon in aller Herrgottsfrüh auf dem reich gedeckten Tisch ein kunstvoll getöpferter Bartmannskrug mit unverdünntem Bier und eine Glaskaraffe, die aus dem fernen Murano stammte und die dank der guten Handelsbeziehungen Westschwabens aus den italienischen Landen den Weg nach Altshausen gefunden hatte. Das von Meisterhand geschliffene Glas funkelte im Schein der vielen flackernden Holzspäne an den Wänden und der Kerzen auf dem Tisch, der blutrote Wein schimmerte darin und verführte trotz der frühmorgendlichen Stunde zum Trinken.

Zu essen gab es Haferschleim mit Honig vom Mare Brigantium, frisch gebackenes Brot und Gänseschmalz in kleinen Töpfchen, Käse, gebratene Eier, Schweinespeck und einiges mehr.

»Nun sagt mir endlich, was Euch bedrückt, mein Herr!«, eröffnete der dickwanstige Pfarrer das Gespräch, während er schmatzend an einem Hühnerbein herumnagte.

»Das kann ich gerne tun«, antwortete der Graf, während er seinem Sohn lächelnd in die Augen schaute. »Zunächst aber möchten Wir Unserer Freude darüber Ausdruck verleihen, dass sich Unser Sohn Hermann die Ehre gegeben hat, Uns zu besuchen! Seinen weisen Rat werden Wir sicher noch gut gebrauchen können!«

»Um was geht es denn, Vater?«, mochte Hermannus Contractus ebenfalls wissen, wie sich der Altshausener Spross seit seinem Eintritt in den Konvent der Reichenauer Benediktiner nannte.

Der Graf nahm einen kräftigen Schluck, wischte Hermann das Sekret, das ihm aus dem Mund troff, mit dem extra hierzu bereitliegenden Lappen weg und fuhr sich selbst mit dem Handrücken über den Bart. Dann hielt er seinem Mundschenk eines der zur Karaffe passenden Gläser hin.

Bevor er tief durchatmete, bekannte er, »sein Volk« nicht mehr richtig im Griff zu haben. »Die Bauern beginnen zunehmend zu rebellieren, insbesondere im Süden Unseres Herrschaftsgebietes! Außerdem hat Uns der gräfliche Forstverwalter berichtet, dass in den Wäldern um villa Ysinensi herum auffallend viele Holzbrüche zu verzeichnen sind und laut Aussage des dort eingesetzten Mairs eine Seuche viele Fische in den dortigen Teichen und Bächen dahingerafft haben soll. Wegen des ungemein hohen Schnees kann er beidem aber erst im Frühjahr nachgehen.«

Als er dies hörte, murmelte sein Sohn Hermann abschätzig: »Von wegen ›Holzbruch‹ und ›Fischsterben‹! Lasst Euch das von Eurem dortigen Ortsvorsteher ja nicht gefallen!«

»Wie meint Ihr das?«, fragte der Vater irritiert, bekam von Hermann aber lediglich zur Antwort, dass er ihm dies später erklären würde. »Erzählt uns erst weiter von dem, was Euch bedrückt.«

Der Graf nahm erneut einen Schluck, dann sagte er, was ihn schon seit längerer Zeit belastete: »Leider werden Wir nicht umhin kommen, immer strengere Maßnahmen zu ergreifen, um die Bauern zur Räson zu bringen! Wenigstens haben Wir die Handwerker und Kaufleute der größeren Dörfer und der Städte gut unter Kontrolle!«

»Das glauben Wir gerne«, bemerkte Hermann wegen seines Sprachfehlers schwer verständlich und begründete dies damit, dass die Bauern ihren Äckern in diesen kargen Zeiten trotz des guten Bodens zu wenig abzuringen vermochten, um auch noch ordentlich Abgaben zahlen zu können. Den Handwerkern und Kaufleuten hingegen ginge es verhältnismäßig gut.

»Dafür können Wir doch nichts! Das ist von Gott so gewollt«, entgegnete der Vater fast trotzig.

»Aber Ihr seid der Grundherr, mein Gemahl!«, mischte sich nun Hiltrud ins Gespräch, während sie an Hermanns Gewandung herumzupfte. Obwohl sie wissen sollte, dass Frauen zu schweigen hatten, wenn sich Männer unterhielten, wagte sie es ungeniert, sich am Gespräch zu beteiligen. Wegen ihres Sohnes, der in einem eigens für ihn angefertigten Spezialstuhl saß, hatte der Graf es ihr gestattet, bei diesem Gespräch mit dabei zu sein, damit sie sich um ihn kümmern konnte.

»Mutter hat recht!«, pflichtete Hermann ihr bei. »Es liegt allein an Euch, etwas dagegen zu tun!«

Der Graf stöhnte auf. »Aber was? Das ist hier die Frage.«

»Welche Bauern sind denn am aufmüpfigsten?«, interessierte indessen den Priester, während er sich zum dritten Mal Wein in den Becher schütten ließ.

Der Graf brauchte nicht lange zu überlegen, um zu antworten, dass es die ständig nörgelnde Bevölkerung von villa Ysinensi sei, die ihm arg zu schaffen mache. »… aber gleichzeitig sind die Menschen dort auch die gottesfürchtigsten!«

»Das ist gut!«, sprudelte es aus Hermann heraus, während sich auch schon ein breites Grinsen über sein schmales und blasses Gesicht zog.

»Selbstverständlich ist das gut!«, wunderte sich der Altshausener Geistliche über die Feststellung seines klösterlichen Gesinnungsbruders.

Hermann schwieg ein Weilchen, dann bemühte er sich um Worte, die allerdings nur schwerlich über seine Lippen kamen: »Ich wüsste da schon etwas!« Dabei rang er hörbar um einen triumphierend klingenden Tonfall.

Alle horchten auf, selbst der Priester hielt mit seiner ständigen Kauerei inne. Sämtliche Blicke waren auf den weisen Kleriker vom Mare Brigantium gerichtet, der es offenbar genoss, seinem ansonsten »allwissenden« Vater einen guten Rat erteilen zu dürfen.

»Spendiert Euren dortigen Untertanen einfach ein Gotteshaus, das wird ihnen die Münder stopfen und sie aus Dankbarkeit Euch gegenüber wieder gefügiger machen!«

»Eine Kirche?«, wunderte sich Manegold, während sich Wolfrad bereits Sorgen darüber machte, was dies kosten würde.

»Ja!«, antwortete Hermann und ließ auch schon seine weiteren Gedanken hierzu laut werden: »Und wir weihen sie dem heiligen Apostel Jakobus dem Älteren und dem heiligen Märtyrer Georg! Es muss ja nichts Großes sein!« Mühsam sprach er weiter: »Eine kleine Hütte aus gestrickten Balken vielleicht. Wenn Ihr Euch ganz besonders großzügig zeigen wollt, sogar mit einem kleinen Turm, der gleichzeitig als Warnturm dienen könnte. Die Glocke dazu kann ich stiften, weil ich weiß, dass in einem Schopf meines Klosters eine herumliegt, die nicht mehr gebraucht wird, … glaube ich zumindest.«

*

Hermanns Rechnung war aufgegangen: Als sein Vater Wochen später nach mehreren Besichtigungen und Planungsgesprächen mit seinem Baumeister, den Priestern der Umgebung und dem Ortsvorsteher von villa Ysinensi die dortige Bevölkerung zusammenrief, um sie von seinem Vorhaben in Kenntnis zu setzen, war die Freude übergroß. Um an den Kirchenbau gehen zu können, waren allerdings nicht nur Handlanger, sondern auch fachkundige Arbeiter nötig. Aber die waren in dem kleinen Dorf Mangelware.

»Auf keinen Fall setze ich hier meinen Hofbaumeister und die teuren Handwerker aus Altshausen oder aus Trauchburg ein!«, gab der Graf dem Mair die klare Marschrichtung vor und sollte – wie konnte es anders sein – damit durchkommen.

Weil es in villa Ysinensi keinen einzigen Bauarbeiter gab, der dieses Handwerk richtig gelernt hatte, wurde der Sargtischler Gerold Eberz kurzerhand zum Vorarbeiter über diejenigen Männer gemacht, mit denen er schon den Dorfzaun errichtet und mit zwei Toren versehen hatte.

»Stellt diesem Tischler irgendetwas in Aussicht! Dann wird er schon spuren«, empfahl der Graf seinem Geldverwalter, von dem alle wussten, dass ihm Eigennutz vor Gemeinwohl ging.

Dass der Graf ausgerechnet diesen hinterlistigen Denunzianten auf seine Geldschatulle gesetzt hatte, war kein Zufall gewesen. »Altshausen ist weit weg von villa Ysinensi«, hatte er ihm bereits vor dessen Amtseinführung in verschwörerischem Tonfall gesagt und ergänzt, dass er jemanden bräuchte, der ständig Informationen für ihn einholen würde. Auch wenn der Graf den kleinen dicken Mann nicht mochte, drückte er ihm zu dessen Freude ein paar Münzen in die verschwitzten Hände. Dass Eberz und seine Helfer keinen Pfennig davon zu sehen bekommen würden und sich der Geldverwalter dieses Geld mit dem ebenfalls hinterlistigen Mair von villa Ysinensi teilen würde, war ihm dabei klar. Hauptsache, der Kirchenbau würde so gut vorangehen, dass er das Bistum Konstanz bald über die Fertigstellung informieren konnte.

Es stellte sich rasch heraus, dass die Wahl des Grafen richtig gewesen war; denn Gerold Eberz verstand es offensichtlich nicht nur, meisterlich mit Holz umzugehen, sondern auch Menschen zu führen. Ohne einen Plan lesen zu können, gab er seinen Männern klare Anweisungen in Bezug auf das Fällen und Bearbeiten der von ihm und vom gräflichen Revierförster sorgsam ausgewählten Bäume, die er an den vier Ecken der Kirche so verzapfte, dass das Gebäude mit zunehmender Balkenhöhe stabiler wurde.

Die Arbeit ging gut voran, es hatte keine unangenehmen Vorkommnisse und keinen einzigen nennenswerten Unfall gegeben. Alles lief wie geplant. Es schien fast so, als wenn dieser Kirchenbau unter einem guten Stern stehen würde. Als sich aber eines Tages Rabenvögel auf den umliegenden Bäumen niederließen, um das Geschehen zu beobachten, kam Eberz wieder das »Dutzend des Teufels« in den Sinn. »Heilige Maria Mutter Gottes, erbarm dich unser«, flüsterte er von den anderen unbemerkt in sich hinein, während er hastig das Kreuz schlug. Danach ging ihm die Arbeit wieder ein wenig leichter von der Hand.

Als sie eine gewisse Höhe erreicht hatten, trat Eberz mit seinem Sohn Michael und einem anderen seiner Arbeiter in die Raummitte, streckte beide Arme von sich und sagte: »An diese Stellen hier kommt je ein Fenster, zwei Ellen im Quadrat groß. Dann trat er in den Altarraum vor, den er wie die Apsis einer »richtigen« Kirche etwas schmäler gehalten hatte als den Kirchenraum, der immerhin dreißig Fuß in der Breite maß, während die Länge des Hauptraumes stolze fünfzig Fuß betrug. Das hieß, dass sich zu beiden Seiten eines Mittelgangs jeweils sieben Sitzreihen mit je sieben Plätzen würden einbauen lassen. Dass es genau sieben sein mussten, hatte sich Hermannus Contractus gewünscht, weil dies die heilige Zahl schlechthin war.

»Diesen Teil hier …«, Eberz zeigte auf den festgestampften Lehmboden des Chorraumes, »… erhöhen wir um zwei Treppenstufen! Dann schaut das Ganze imposanter aus und der Pfaffe, der hoffentlich bald kommen wird, kann sich über uns erheben.« Spott schwang in seiner Stimme mit, obwohl er es mit seiner Arbeit im Dienste des Herrn sehr ernst und genau nahm.

Dafür, dass sie das ganze Frühjahr und über den Sommer hinweg bis in den Herbst hinein an der Kirche gefront hatten, waren sie von ihrem Grundherrn außerordentlich gut mit Lebensmitteln für sich selbst und für ihre Familien versorgt worden. Ansonsten hatte der Graf lediglich das Holz für den Kirchenbau gestiftet und sich zwischendurch persönlich nach dem Fortgang der Arbeiten erkundigt. Alles andere war in den Händen von Gerold Eberz und seinen Männern gelegen. Weil sie wussten, dass am Schluss allein der »wohledle« Spender, der Mair und der neue Pfarrer gut dastehen, sie selbst aber keines Lobes gewürdigt würden, gab es immer wieder Situationen, in denen der eine oder andere die Arbeit niederlegen wollte. Aber dem von allen respektierten Vorarbeiter war es immer wieder gelungen, seine maulenden Arbeiter zur Vernunft zu bringen. »Ihr und eure Familien habt doch noch nie so viel zu fressen bekommen wie jetzt, oder?«, hatte er dabei nicht nur einmal als Argument ins Feld geführt und die Männer damit zu Höchstleistungen angetrieben. Geholfen hatte ihm dabei, dass er die Familienväter unter ihnen heimlich auch Holz für ihre eigenen Behausungen hatte schlagen lassen, während er selbst mit dem Abfallholz zufrieden gewesen war. Dabei hatten alle gewusst, dass Eberz damit sein eigenes Todesurteil unterschreiben würde, falls sie denunziert oder beim Holzdiebstahl erwischt würden. Und dies rechneten sie ihrem allseits beliebten Vorarbeiter so hoch an, dass sie ihn auch über den Kirchenbau hinaus niemals im Stich lassen würden.

So war der Rohbau schon bald soweit fertig, dass sie das Dach decken und den Glockenturm errichten konnten.

 

»Kruzifix! Wo bleibt diese verdammte Glocke, die uns der Graf versprochen hat?«, schimpfte Eberz und handelte sich dadurch eine Rüge des neuen Pfarrers ein, der vor ein paar Tagen wie aus dem Nichts in der Abenddämmerung in villa Ysinensi aufgetaucht war und sich einmal mehr hinter ihn geschlichen hatte, um zu lauschen.

Der Geistliche hatte die gotteslästernde Flucherei mitgehört. »Fünfzehn Vaterunser!«, trug er dem Sargtischler als Sühne auf.

Anstatt darauf einzugehen, blaffte der längst selbstbewusst gewordene Vorarbeiter den Priester in der einfachen Sprache des Volkes an: »Was willst du hier, Pfaffe? Schleich dich und lass uns unsere Arbeit machen!«

»Wahrscheinlich möchte er einen von uns bei der Obrigkeit hinhängen!«, bekam Eberz Schützenhilfe von einem seiner Männer, die allesamt zu lachen begannen.

Der Priester konterte, dass es ihn freuen würde, Eberz und seine Leute bei solch guter Laune vorgefunden zu haben. »Zu eurer und zur Freude Gottes darf ich euch im Auftrag unseres Grundherrn etwas mitteilen!«

Nun war es still und auch die Letzten legten ihre Arbeitsgeräte ab, um nähertreten zu können. Schließlich mochten alle mitbekommen, was ihr noch nicht offiziell eingeführter Pfarrherr zu sagen hatte.

Weil der Pfaffe die Situation und seine vermeintliche Überlegenheit genoss, fuhr er nicht gleich fort.

Gerold Eberz nahm sich wieder das Wort: »Nun sag schon, was gibt es für Neuigkeiten?«

»Du betest deine Vaterunser?« Während er auf Eberz’ Antwort wartete, blitzten die Augen des Pfarrers gefährlich auf. Dann spuckte er eine unverhohlene Drohung aus: »Du weißt, was auf Gotteslästerung steht!«

»Schon gut, nach Feierabend werde ich Zwiesprache mit unserem Herrn halten und das Dreifache der von dir geforderten Gebete sprechen!«, wehrte Eberz mit erhobenen Händen ab. »Aber nun sag schon, was …«

Um coram publico zu demonstrieren, dass sich der studierte Pfarrherr das Wort nicht von einem unbelesenen Sargtischler erteilen lassen musste, unterbrach er dessen Frage und kam endlich zur Sache: »Euer Herr lässt ausrichten, dass … die Glocke noch vor St. Martini hier sein wird!«

Weil er diese frohe Botschaft verkündet hatte, war die kleine Stichelei schlagartig vergessen und es brandete ein solcher Jubel auf, wie es ihn zum letzten Mal in villa Ysinensi gegeben hatte, als die Bevölkerung erfahren hatte, dass ihnen der Graf ein Gotteshaus spendieren würde. Damals hatten die Fronarbeiter ja noch nicht gewusst, dass sie ihre Kirche selbst errichten mussten. Aber das war in diesem Moment des Glücks egal, sie freuten sich derart auf die Glocke, dass es ihnen Antrieb gab, das Gebäude rechtzeitig bis St. Nikolaus fertigzustellen.

Die Zeit drängte, denn über den Kirchenbau hinaus hatte der Graf in Auftrag geben lassen, so viele grob gearbeitete Bänke und Tische herzustellen, dass insgesamt etwa einhundertfünfzig Gäste Platz auf dem Gelände finden konnten, auf dem die Kirchweihe auch weltlich gefeiert werden sollte. »Die könnt ihr dann behalten und von mir aus verfeuern!«, hatte er gleichsam gönnerhaft wie spaßhalber zu Eberz gesagt.

Dabei hatte der Graf offensichtlich gewusst, dass der umsichtig denkende Eberz dafür sorgen würde, die bis dahin bearbeiteten Holzbretter niemals dem Feuer zu übergeben, sondern zum Bau der längst überfälligen Kornscheuer zu verwenden. Schon seit geraumer Zeit besprach der Graf solche Dinge mehr und mehr direkt mit dem Sargtischler, anstatt mit dem Mair, der eigentlich dafür zuständig gewesen wäre. Der Grund mochte wohl darin zu suchen sein, dass Eberz ein ernsthaftes Interesse am Vorwärtskommen seines Dorfes zeigte und die Dinge anpackte, während der Mair bei den meisten anfallenden Arbeiten durch Abwesenheit glänzte und sich mehr für Alkohol als für die Allgemeinheit zu interessieren schien.

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