Tödlicher Orient

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Kapitel 2

Einige Tage später, an einem frühen Freitagmorgen, besteigt Otto – er wird sich als Gelehrter, als Orientalist aus dem Deutschen Reich ausgeben – ein kleines Ruderboot, das ihn von Kabataş über den Bosporus hinüber zum Bahnhof nach Haidarpaşa bringen soll. Sein Diener Ali, der mit Otto reist, hat schon seinen Koffer in das Boot verfrachtet.

Begleitet vom kreischenden Lachen der großen städtischen gelbbeinigen Mittelmeermöwen setzt sich das Boot in Bewegung und mit schnellen Ruderschlägen nähert es sich dem Bahnhof von Haidarpaşa. An Backbord geht es vorbei an Skutari, der größten der Vorstädte auf dem asiatischen Kontinent. Im frühen Morgenlicht glänzen die schönen Moscheen und die im leichten Dunst liegenden Höhen, auf denen sich der große moslemische Friedhof mit seinen zahlreichen Zypressen befindet. Dazwischen tauchen immer wieder Wohnviertel auf, deren Straßen gesäumt von Laubbäumen sich bis an das Ufer hinziehen.

Nur wenige Meter entfernt gleitet das Boot an einem dreißig Meter hohen Turm entlang, der zwischen Asien und Europa mitten im Bosporus herausragt und Kız Kulesi, Mädchenturm, genannt wird. Es ranken sich schöne Legenden um diesen Turm, wie sich Otto erinnert. Eine besagt, dass der Vater einer osmanischen Prinzessin sie dort vor dem vorhergesagten Biss einer Giftschlange in Sicherheit bringen wollte. Aber alle Vorkehrungen nützten nichts, denn die Prinzessin wurde schließlich durch eine Viper, die mit einem Obstkorb auf die Turminsel gelangte, gebissen und starb.

Die mythologische Überlieferung von Leander und Hero besagt, dass Leander jede Nacht zur Turminsel hinüberschwamm, um seine Geliebte Hero, eine Priesterin der Göttin Artemis, zu besuchen. Eines Nachts aber ertrank Leander in sturmgepeitschter See. Aus Trauer stürzte sich Hero von ihrem Turm ebenfalls ins Meer. Für diejenigen, die an diese Version glauben, ragt dort der Leanderturm empor.

Eine davon wird wohl wahr sein, denkt sich Otto. Entscheiden will er sich aber nicht. Da wird sein Blick auch schon steuerbords, also zu seiner Rechten, gefangen von der traumhaft schönen, malerischen Silhouette der Serailspitze mit dem Topkapı-Palast und dem ehemaligen Harem. Zu diesem Panorama gesellt sich eine ungeheure doppelte Terrasse von Häusern, Moscheen, Bazars, Serails, Bädern und Kiosken, die in verschiedensten Farben schimmern. Dazwischen streben zahlreiche Minarette mit glänzenden Spitzen gleich riesigen Elfenbeinsäulen dem Himmel entgegen und grüne Zypressenwäldchen senken sich in dunklen Streifen von den Höhen zur See.

Still und festtäglich liegt Konstantinopel an einem Freitag da. Für Europäer ist es immer noch ungewohnt, dass der Freitag der Ruhe- und Hauptgebetstag im moslemischen Morgenland ist und nicht der Sonntag wie im christlichen Abendland.

Vom Wasser aus ist sie nicht zu übersehen: Hoch aufragend auf der höchsten Höhe von Stambul, als Krone der Siebenhügelstadt, die Hagia Sophia, nach dem Petersdom zu Rom die glänzendste jemals von der Christenheit erbaute Kirche. Zur Rechten ragt der imposante Komplex der Osmanischen Schuldenverwaltung heraus. Ihre gewaltige Silhouette mit den drei Türmen dominiert den gesamten Stadtteil Cağaloğlu. Das Gebäude ist eher ein Dorn im Auge der Osmanen, denn von hier aus verwalten Europäer die immensen Auslandsschulden und ziehen im gesamten Reich Steuern bis runter nach Dschidda ein. Eine immense Schande für die stolzen Osmanen. Otto muss bei diesen Gedanken schmunzeln. Sollen sie sich eben nicht so verschulden. Durch ihre ausgeprägte Korruption sind sie dann nicht in der Lage die Kredite zurückzuzahlen. Selber schuld. Orientalen eben durch und durch!

Hinter sich lässt Otto auch die weite Flussmündung des Goldenen Horns mit ihrer von deutschen Ingenieuren entwickelten Eisenbrücke auf Pontons, fünfundzwanzig Meter breit, die die beiden Stadtteile Stambul und Pera miteinander verbindet. Noch vor wenigen Jahren überspannte eine alte, aber exotische Pontonbrücke das Goldene Horn, die von aneinandergebundenen Holzbooten getragen wurde. Dort gingen damals Händler, Fischer und Garküchenbetreiber ihren Geschäften nach und dichte Trauben von vorbeiziehenden Menschen deckten sich bei ihnen mit dem Nötigsten ein. Zu jeder Tages- und Nachtzeit waren Scharen von Anglern anzutreffen. Aber um dem gestiegenen Fußgänger – und Fahrzeugverkehr gerecht zu werden, erhielt 1907 die Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg den Zuschlag für den Neubau einer Brücke. Wegen der politischen Turbulenzen durch den jungtürkischen Staatsstreich konnte man erst vor kurzem mit den Arbeiten beginnen. Das dauert bestimmt noch zwei weitere Jahre, bis die Brücke endlich fertig sein wird, denkt Otto.

Aber für all diese atemberaubenden Schönheiten hat Otto heute keinen rechten Blick mehr. Zum einen muss er unwillkürlich an sein letztes Treffen mit seiner Ayşe denken. Ganz wohlig ums Herz wird ihm dabei. Obwohl er in einer geheimen Mission für sein Vaterland unterwegs ist, hat er ihr davon berichtet. Schließlich musste er ihr ja sagen, dass er sie für längere Zeit nicht besuchen könne. Wirkliche Bedenken hat Otto immer noch nicht, denn er vertraut ihr vollends. Zudem hat er ihr zusätzlich noch das Versprechen abgenommen, mit niemandem, aber auch wirklich mit niemandem darüber zu sprechen. Als Ayşe ihn mit ihren dunklen Augen anblickte und das Versprechen wiederholte, da wusste er, sie wird keiner Menschenseele auch nur ein Sterbenswörtchen davon erzählen.

Zufrieden und verträumt wandern Ottos Blicke zum Bahnhof von Haidarpaşa, dessen Silhouette sich im morgendlichen Dunst auf dem asiatischen Kontinent abzeichnet. Vor nunmehr etwas mehr als zehn Jahren hatte sein heutiger Chef, Botschafter von Hohenstein, die Konzession für den Bau eines Bahnhofs im asiatischen Teil Konstantinopels als Ausgangspunkt für die Bagdadbahn unterzeichnet. Vorbei geht es nun an der langen Kaianlage mit zwei großen Lagerschuppen und einem Getreidespeicher. Die drei Laufkräne sind gerade dabei Dampfer zu be- und entladen.

Erst vor ein paar Monaten, Ende letzten Jahres, ist der Bahnhof eingeweiht worden. Die Bauarbeiten gestalteten sich schwieriger als gedacht, denn bei den notwendigen Aufschüttungsarbeiten hatte man zu wenig Platz für das Gebäude gelassen. Und wenn, dann sollte es auch schon repräsentativ sein. Also rammte man eintausendeinhundert Pfähle aus einundzwanzig Meter langen wasserfesten Eichenstämmen unter dem Wasser in die Erde.

Da der Bahnhof fast direkt an der Kaimauer errichtet worden war, verfügt er kaum über einen Vorplatz. Aber das, so Otto, macht überhaupt nichts, denn so wird die Wuchtigkeit des Gebäudes noch deutlicher. Die deutschen Architekten hielten sich nicht an die landesüblichen Formen, sondern erbauten ihn, und darauf ist nicht nur Otto besonders stolz, ganz im wilhelminischen Geiste im neoklassizistischen Stil. So gleicht das Bauwerk eher einem norddeutschen Rathaus als einem Bahnhof im Osmanischen Reich. Preußen im Orient. Das entspricht auch Ottos Vorstellungen.

Als das Boot an der Kaimauer anlegt, steigt Otto von Wesenheim schwungvoll aus und richtet seinen Blick auf die Uhr des Bahnhofs, übrigens eines der ganz wenigen Gebäude mit einer Uhr in dieser Riesenstadt. Zu seiner Erleichterung stellt Otto fest, dass er den Zug ohne Hektik rechtzeitig erreichen würde. Der Zug wartet bereits unter Dampf im Bahnhof. Pünktlich um acht Uhr morgens soll es losgehen.

Auf dem Bahnhof ist es vorbei mit der Ruhe des frühen Morgens. Überall laufen schwatzende und lärmende Männer herum; dazwischen schleppen die Lastträger das Gepäck; Offiziere gehen plaudernd auf und ab. Die mitreisenden Frauen werden von ihren Männern in die überfüllte Haremlık der dritten Klasse hineingedrängt, wo sie sich schreiend und zankend einen Platz suchen müssen, während sie selber zweiter oder gar erster Klasse reisen.

Otto kann die charakteristischen Rufe der Simitverkäufer vernehmen. Diese Sesamkringel sind äußerst beliebt und werden gern zu jeder Tages- und Nachtzeit verzehrt. Um Garküchen herum stehen Menschentrauben, um gegrillte Hackfleischbällchen und geröstetes Hühnchen mit etwas Gemüse und Fladenbrot schmatzend zu verspeisen oder es sich als Wegzehrung einpacken zu lassen. Daneben schlängeln sich die Wasser- und Teeverkäufer durch die Massen hindurch, um ihr köstliches Nass an den Mann und die Frau zu bringen. Danach ist es an der Zeit, sich den Lokumverkäufern zuzuwenden. Pakete von Lokum werden entweder als Nachtisch oder für unterwegs gekauft. Aber die meisten Käufer können nicht an sich halten und öffnen das Paket sofort, um sich wenigstens ein oder zwei grüne Lokum herauszuholen, die sie sich mit einem Grinsen im Gesicht in den Mund schieben.

Ottos Diener Ali verstaut das Gepäck seines Herrn in dem komfortablen Abteil der ersten Klasse und begibt sich dann in die dritte Klasse. Der Zug ist ziemlich lang, macht durchaus einen feudalen Eindruck, auch ein paar Güterwagen fahren mit. Einer davon ist voller Rekruten, die ihren Dienst irgendwo im anatolischen Hochland antreten sollen oder vielleicht auch im fernen Dschidda?

Dann ist es auch schon fast so weit. Da sieht er aus dem Augenwinkel, dass noch eine Dame mit eiligen Schritten und leicht hochgerafftem Rock an seinem Abteil vorbeischreitet. Diese rötlichen Haare und die Silhouette, irgendwie kommen sie Otto bekannt vor. Hat er sie schon einmal gesehen? Und wenn ja, wo war das bloß? Doch schnell vergehen ihm die Gedanken, denn jetzt ist es tatsächlich so weit. Abfahrt! Langsam setzt sich der Zug, gezogen von einer Lokomotive von Kraus Maffei aus München, in Bewegung. Klirrend und ratternd sucht er sich seinen Weg.

Und nun taucht Otto von Wesenheim ein in eine andere Welt, erlebt sein ganz persönliches orientalisches Abenteuer. Zunächst geht es auf die dreihunderteinunddreißig Kilometer lange Strecke nach Eskişehir. Laut Fahrplan dauert die Reise zehn Stunden und fünfunddreißig Minuten. An den Vorstädten Konstantinopels vorbei windet sich der Zug Richtung Izmit mit prächtigem Ausblick auf die Prinzeninseln, das Marmara-Meer und die vorgelagerten Bergketten. Der Zug mit Otto von Wesenheim nimmt einen uralten Weg.

 

Kreuzritter zogen hier auf ihrem Weg ins Heilige Land vorbei, Karawanen, Händler und Krieger bewegten sich auf ihm entlang. Die Strecke von Konstantinopel nach Izmit war begehrt und umkämpft, eine geschichtliche Hauptstraße sozusagen. Konstantin der Große liegt in Izmit begraben.

Immer wieder fährt der Zug an den neu errichteten, ziegelgedeckten weißen Stationshäuschen vorbei, deren Namensschilder mit arabischen Schriftzeichen versehen und auch auf Französisch geschrieben sind, der zweiten Amtssprache im Osmanischen Reich. Pah, so Otto, warum nicht auf Deutsch? Das muss geändert werden. Und er macht sich eine Notiz. Aber immerhin grüßen die Bahnbeamten in Uniform teilweise schon nach deutscher Art.

Der Bau der Bahnstrecke ist eine Meisterleistung deutscher Ingenieurskunst und deutscher Baufirmen wie Philipp Holzmann. Erhebliche Schwierigkeiten mussten überwunden werden. Aus der Ebene steigt die Bahnlinie durch schroffes Felsgebirge auf eine Höhe von bis zu knapp neunhundert Metern an, um dann die anatolische Hochebene zu erreichen. Neben umfangreichen Flusskorrekturen und Uferschutzbauten wurden etliche Tunnel und eine große Anzahl von Brücken und Viadukten errichtet.

Bis vor kurzem machten auch noch Räuberbanden und Wegelagerer schon kurz hinter Haidarpaşa den Reisenden zu schaffen. Aber nachdem auf Drängen von Hohensteins Militärpatrouillen die Gegend sichern, hat sich die Lage deutlich entspannt. Noch vor geraumer Zeit verkehrten die Züge der Bagdadbahn aus Sicherheitsgründen nur tagsüber, was die Fahrtzeit natürlich erheblich verlängerte.

Schon bald entwickelt sich die Landschaft zu einer wilden Großartigkeit. Es geht entlang an tiefen Schluchten längs eines schäumenden Flusses, durch bewaldete Berge hindurch, aus deren Grün kahle Felsen aufragen. Dazwischen fruchtbares Land mit Feigen und Getreide.

Dann fährt der Zug durch ein enges Tal mit zahlreichen bizarren Schluchten, gewaltige Felsmauern ragen bis zu dreihundert Meter senkrecht auf und lassen gerade Platz für die Bahntrasse. Unwillkürlich weckt dieser Anblick in Otto Karl-May-Fantasien. Auch exakt hier zogen die Kreuzfahrer vorbei und noch mehr: Dies ist zudem die alte Seidenstraße, jener berühmte Handelsweg, auf dem Marco Polo über Konya nach Bagdad und weiter nach China reiste. Otto auf seinen Spuren, jedenfalls ein bisschen.

Die Bahn mit ihren schwankenden Waggons nimmt den Anstieg auf das siebenhundert bis achthundert Meter hohe Plateau und über Brücken und durch Tunnel erreicht Otto Eskişehir. Mit nur wenig Verspätung trifft der Zug am Eisenbahnknotenpunkt ein. Von hier kann man entweder nach Konya oder nach Angora fahren. Später sollte dieser Ort Ankara heißen und die Hauptstadt der Türkei werden. Jetzt aber ist er ein verschlafenes Nest mitten im anatolischen Hochland. Otto war noch nie in Angora und hat das auch nicht vor. Was soll er dort auch?

Auf der Höhe von Eskişehir rechtzeitig zur Schlafenszeit betritt der Steward das Abteil und klappt die unbenutzten Polstersessel auf der rechten Seite des Waggons auseinander. Dann zieht er die weißen Laken darüber, streicht sie sorgfältig glatt und schüttelt die Kopfkissen aus. Auf das Fenstertischchen stellt er eine Wasserflasche mit einem Glas, dazu eine Banane und eine kleine Blechdose mit Keksen. Währenddessen starrt Otto unablässig aus dem Fenster. Er will den Steward nicht bei der Arbeit beobachten. Stattdessen verfolgt er, wie im Dunkeln die Funken aus dem Schornstein der Lokomotive sprühen und tänzelnd in der Nacht verschwinden. Als der Steward das Abteil verlassen hat, ist Otto froh, sich allmählich zur Ruhe begeben zu können. Das recht gleichmäßige Rattern des Zuges und das rhythmische Schlagen des Waggons auf den Nahtstellen der Gleise lassen Otto in einen dämmerungsähnlichen Schlaf sinken.

Am nächsten Morgen steht das nächste Ziel an: Konya. Eine Strecke von vierhundertvierunddreißig Kilometern. Reisezeit dreizehn Stunden – Minimum.

Verdutzt schaut Otto immer wieder aus dem Fenster und sieht Bahnstationen mit exotischen Namen, aber mit Bahnhäuschen, die auch im Schwarzwald stehen könnten. Zunächst führt die Strecke durch Hügelland, dann durch die Salzsteppe. Keine Spur von Menschen, keine Siedlung soweit man blicken kann, kein Tier, nicht einmal ein Vogel in der Luft.

Otto sinkt auf der linken, schattigeren Seite des Wagens in den Polstersessel, der nachts zu einem ganz komfortablen Liegebett ausgezogen werden kann. Ein Steward betritt das Abteil und stellt wieder schweigend eine Wasserkaraffe und ein Glas auf den Tisch am Fenster. Otto schenkt sich Glas auf Glas ein, bis die Karaffe leer ist. Anschließend kippt er die Lehne nach hinten und fällt in einen leichten Schlaf.

Dann aber tauchen ein paar Baumgruppen auf und es ertönt ein Pfeifen der Lokomotive, die rasch an Fahrt verliert. Otto schrickt auf. Eine Schafherde versperrt den Weg. Und so geht es weiter. Schon bald ist Otto genervt. Wieder bremst der Zug auf freier Strecke. Otto streckt seinen Kopf aus dem Abteilfenster. Nicht schon wieder. War es erst vor einer Stunde eine Schafherde, ist es jetzt schon wieder eine, die den Zug zum Anhalten zwingt. Gemächlich überqueren die Tiere die Gleise. Erst dann kann es weitergehen, vorbei an kleinen Dörfern mit ihren Lehmhäusern und flachen Dächern. Die Frauen in ihren Pumphosen sind allesamt verschleiert.

Als Otto aus dem Fenster schaut, überschlägt er die Material- und Personalkosten dieses Jahrhundertbauwerks. Es muss eine fast schon unmenschliche Anstrengung für die tausende von Bauarbeitern bedeutet haben, in dieser unwirtlichen, harschen Landschaft ihre Arbeit zu vollrichten. Mit Schaufeln und Pickeln ausgerüstet haben sie monatelang geschuftet und sich geschunden. Ihre Hände, Finger, Schultern und Rücken müssen geschmerzt haben und doch ging es am nächsten Tag weiter. Immer weiter. Wochenlang. Monatelang. Geplagt von Fieber, Cholera und vor Entkräftung müssen etliche von ihnen gestorben sein. Zurück ließen sie ihre Frauen und Kinder, die ohne sie auskommen mussten. Er glaubt, den Klang der Vorschlaghämmer, das zischende Schleifen der Schaufeln, die Detonationen der Sprengungen zu hören; all das vermischt sich jetzt mit dem Stampfen der Lokomotive und mit dem unablässigen Rattern der Waggons, die über die Schienen vorwärtseilen. Nur damit er, Otto von Wesenheim, bequem seinem Ziel entgegenfahren kann. Für kurze Zeit macht sich ein sentimentales Empfinden bei ihm breit. Doch dann durchzuckt es ihn, er richtet sich auf und er wischt diese Gedanken fort. So ist nun einmal das Leben, denkt er kühl.

Schließlich kann Otto von Wesenheim im Dunkeln Licht, Straßen und Menschen ausmachen. Konya ist erreicht. Allerdings liegt die Stadt selber zwanzig Minuten vom Bahnhof entfernt, sodass nur der Burghügel, die schlanken Minarette und die einstöckigen Häuser in der Ferne zu erkennen sind.

Wie gerädert steigen die Fahrgäste aus den Waggons der ersten, zweiten und dritten Klasse aus. Die Wagen der dritten Klasse, in der auch Ottos Diener Ali reist, sind auch während dieses Reiseabschnitts überfüllt, einige Abteile teilweise verhangen, weil hier die Frauen ihren Platz haben. Strikt getrennt von ihnen reisen die anatolischen Bauern, einige Popen, Soldaten und Gendarmen.

Auch die Abteile der zweiten Klasse sind gut gefüllt. In ihnen sind zum großen Teil türkische Offiziere und Militärärzte sowie Kaufleute und auch ein Derwisch in seinem langen Mantel unterwegs. Auch drei Armenier und zwei Juden befinden sich unter den Reisenden. In der ersten Klasse fahren neben unserem Legationsrat alias orientalischem Gelehrten Otto von Wesenheim, ein türkischer Generalmajor, dann ein vornehmer, zurückhaltender älterer Herr, Abgeordneter aus Konstantinopel, der auf Heimreise ist, und ein deutscher Techniker, der zum Bahnbau ins Taurusgebirge muss. Auf dem Bahnsteig erwarten sie bereits schreiende Händler, die Melonen, Gurken, Tomaten, hartgekochte Eier, Brot und Wasser feilbieten. Einer versucht den anderen in der Lautstärke zu übertrumpfen. Ihre Laute gleichen einer Kakophonie, so jedenfalls kommt es Otto vor.

Kapitel 3

Nach einer kurzen Nacht in einer kleinen, aber immerhin einigermaßen sauberen Unterkunft besteigt Otto von Wesenheim am nächsten Morgen den schon wieder bereitstehenden Zug, der ihn zur vorläufigen Endstation der Bagadbahn nach Burgulu am Fuße des Taurusgebirges bringt. Für die zweihunderteinundneunzig Kilometer lange Strecke benötigt man geschlagene elf Stunden. Immer wieder windet und quält sich der Zug die steilen Höhen empor.

Gerade hat sich Otto in seinen Sitz zurückgelehnt, als es plötzlich an seiner Abteiltür klopft. Zu seinem großen Erstaunen erblickt er durch das Fenster in der Tür die Dame, die anscheinend in letzter Minute in Haidarpaşa zugestiegen ist, die er aber schon wieder vergessen hat. Immer noch etwas verwirrt, öffnet Otto die Tür. Noch bevor er sie ganz aufgesperrt hat, hört er die Dame auch schon sagen: »Mein Herr, ich bitte Sie vielmals um Verzeihung und entschuldige mich schon jetzt für mein ganz und gar ungebührliches Verhalten. Aber ich halte es nicht länger aus. Ich musste Sie noch unbedingt vor dem Ende unserer Reise ansprechen.«

Bevor Otto noch irgendetwas sagen kann, steht sie schon mitten in seinem Abteil.

»Ich darf mich doch setzen, oder?«, fährt sie ohne Unterbrechung fort.

Das kleine Taschengeld für den Zugbegleiter hat sich ausgezahlt. Nachdem sie ihm Otto von Wesenheim kurz beschrieben hatte, kam der Schaffner kurz darauf mit der Information, in welchem Abteil der gesuchte Herr zu finden sei, zurück. Gut, gut, denkt sie sich. Dann wollen wir mal sehen, wie es weitergeht.

»Aber selbstverständlich, meine Dame«, vernimmt sie die Stimme eines sichtlich überraschten Otto von Wesenheim, der dazu die Stirn ob solcher Forschheit runzelt.

»Gestern brachte ich in Erfahrung, dass ein Gelehrter des Orients aus Deutschland im Zuge sei. Ich konnte es vor Neugierde gar nicht mehr aushalten und fand schließlich heraus, dass es sich um Ihre Person handelt. Nun habe ich all meinen Mut zusammengenommen und Sie aufgesucht. Ich hoffe, Sie vergeben mir meine Aufdringlichkeit.« Dabei kommt ihr der letzte Satz fast aufreizend leise über ihre wohlgeformten Lippen.

Es entsteht eine längere Pause.

Mittlerweile hat Otto seine Haltung wiedergewonnen, kann sogar ihr Gesicht betrachten und stellt schnell fest, dass es nicht unbedingt als hübsch im klassischen Sinne durchgeht, aber für eine Europäerin eigentlich recht ansehnlich ist. Große blaugrüne Augen in einem schmalen, blassen Gesicht unter den rötlichen Haaren und dem spitzen Kinn, ein zartes Gesprenksel von Sommersprossen um die Nase. Ihr blassgrüner Rock schmiegt sich eng um ihre Hüfte. Dazu trägt sie eine weiße Bluse mit hohen Spitzenkragen.

Ungewollt beeindruckt und mit viel weicherer Stimme als sonst, kommt es über Ottos Lippen: »Meine Dame, wie unhöflich von mir. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Wie wäre es mit einem Schluck ausgezeichneten Tee aus Rise am Schwarzen Meer? Ich habe ihn extra nach Konstantinopel schicken lassen. Eine Spezialität. Oder wie wäre es mit Mineralwasser der Marke »Friedrich«, direkt aus meiner Heimat importiert. Auch der Sultan liebt es.«

»Wie außerordentlich freundlich von ihnen«, flötet die Dame. »Dann natürlich deutsches Mineralwasser.«

Um ein Haar entgleitet ihrem Gesicht ein Grinsen.

Mit dieser Antwort hat sie zielsicher Ottos Herz erreicht. Er läutet nach Ali, seinem Diener, der den Befehl seines Herrn nach Mineralwasser der Marke »Friedrich« sofort erfüllt. Mit einem dankbaren Blick führt sie das Glas an ihre Lippen und nippt von dem Wasser. Ohne den Blick von ihr zu wenden, nimmt auch Otto einen großen Schluck.

»Meine Dame«, sagt Otto, »darf ich mich vorstellen? Otto von Wesenheim, Orientgelehrter der Humboldt-Universität zu Berlin.«

»Sehr erfreut. Mein Name ist Margaret Morris, Archäologin der Universität Oxford.«

Jetzt wird es Otto klar, was ihm die ganze Zeit schon im Unterbewusstsein aufgefallen ist. Ihre Aussprache hat einen leichten Akzent, den er aber nicht so richtig zuordnen konnte. Eine Engländerin also.

»Ich bin außerordentlich erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Gnädigste«, sagt Otto galant und meint es auch tatsächlich so, obwohl sie Engländerin ist.

 

Die folgende Stunde verfliegt wie im Nu. Beide unterhalten sich, tauschen sich über ihre Familien, ihre Berufe und das Leben im Reich des Sultans aus. Vollkommen unvermittelt ändert Margaret dann die Richtung des Gesprächs. Mit leicht erröteten Wangen sieht sie Otto unmittelbar in die Augen und sagt: »Lieber Herr von Wesenheim, es wäre mir eine große Ehre, wenn Sie mich Margaret nennen würden, jetzt nachdem wir uns so anregend unterhalten haben und Sie so … wie soll ich sagen … galant sind, wie ein echter englischer Gentleman.«

Leicht verwirrt über das direkte Vorgehen, den Vergleich mit einem englischen Gentleman eigentlich missbilligend, dann aber doch geschmeichelt, antwortet Otto.

»Die Ehre ist ganz auf meiner Seite, Gnädigste, äh Margaret. Bitte nennen Sie mich Otto.«

»Ja, dann also«, räuspert sich Otto und schaut Margaret an: »Margaret, meine Teuerste, Sie wollen also zu Baron von Koppental nach Tel-Halaf in den Nordosten Syriens fahren, um den berühmten Ausgrabungen des Siedlungshügels aus assyrischer Zeit beizuwohnen? Ist das nicht zu gefährlich für eine Dame und dann noch ganz allein in diesem abgeschiedenen, unzivilisierten Teil der Welt?«

In ihrem Element und voller Selbstbewusstsein antwortet Margaret: »Aber nein, ich kenne nicht nur Franz von Koppental schon seit längerer Zeit und schätze ihn als Archäologen sehr, sondern auch die arabische Welt. Wie ich Ihnen, lieber Otto, bei unserer Plauderei schon gesagt habe, habe ich einige Zeit in Kairo gelebt, bin der arabischen Sprache mächtig und kann mich in der männlich dominierten Welt des Orients behaupten – da können Sie ganz sicher sein!«, schiebt Margaret, eine kleine Pause einlegend und leicht die rechte Augenbraue hebend, nach.

Letztere Äußerung glaubt Otto ihr aufs Wort. Mit neutralem Gesichtsausdruck, aber doch etwas enttäuscht bemerkt er: »Aber dann werden wir uns ja, nachdem wir Burgulu erreicht haben, trennen müssen. Weiter ist der Bau der Bagdadbahn nicht vorangeschritten. Das bedauere ich sehr.«

Und meint damit beide Tatsachen.

»Ja, verehrtester Otto, so wird es sein. Aber ich mag nun einmal Geheimnisse enthüllen und Rätsel der Vergangenheit lösen. Für mich ist das alles gar keine richtige Arbeit, sondern vielmehr wie ein Hobby und Vergnügen, ja geradezu eine Leidenschaft.«

Bei diesen Worten schaut sie Otto mit etwas schrägem Kopf leicht von unten an und streicht eine rötliche Haarsträhne aus ihrem Gesicht.

Wie kokett, denkt sich Otto. Oder geht seine Fantasie mit ihm durch? Das kennt er doch sonst nur von Ayşe. Apropos Ayşe, was macht sie wohl nur ohne ihn? Für kurze Augenblicke schießt ihm dabei der Morgen nach dem Erdbeben durch den Kopf, als er unangekündigt bei Ayşe auftauchte und dabei eine Frau einen Moment im Flur sah. Das rötliche Haar und dieses Gesicht. Irgendwie kommt ihm dabei etwas bekannt vor. Aber schnell verwirft er den Gedanken. Das kann doch nicht sein. So wenige Europäerinnen haben nun auch nicht rötliche Haare. Aber dennoch. Doch dann lenken ihn Margarets Worte von seinen Gedanken ab.

»… Ihrer Reise?«, hört er Margaret fragen.

»Verzeihen Sie bitte. Wie unhöflich von mir. Ich war kurze Zeit abwesend. Wie war Ihre Frage, bitte?«

»Ich wollte nur wissen, was denn das Ziel Ihrer Reise ist.«

»Ach so, ja.« Was soll er ihr nur sagen? Am besten die Wahrheit.

»Ja, also ich beabsichtige nach Dschidda zu fahren.«

»Oh, Dschidda! Welch ein ungewöhnliches Reiseziel und welch weiter und gefahrvoller Weg bis dorthin.«

»Nun, unser Ingenieur Meißner Pascha, eigentlich Heinrich August mit Vornamen, hat ab Damaskus die Hedjasbahn fertiggestellt. Da reist es sich, so nehme ich jedenfalls an, ganz bequem«, sagt Otto mit Stolz und auch etwas Pathos in der Stimme.

»Das freut mich aber. Ich habe mir schon Sorgen um Sie gemacht«, bemerkt Margaret mit einem leichten Augenaufschlag, was Otto nicht verborgen bleibt. Diese Engländerinnen, sagt sich Otto. Aber zu seinem Leidwesen hakt sie nach.

»Und warum Dschidda? Das liegt doch ganz in der Nähe der Heiligen Stätten von Mekka und Medina. Da dürfen doch gar keine Ausländer hin?«

Was soll er ihr bloß sagen? Kurz denkt er an ein Ablenkungsmanöver. Aber wie er Margaret bisher kennengelernt hat, wird das überhaupt nichts nutzen. Also dann: »Gnädigste Margaret, ich muss Sie aber um äußerste Diskretion bitten. Das ist alles sehr, sehr, wie soll ich sagen, delikat.«

Bei diesen Worten rückt Margaret näher an Otto heran. Fast schon verschwörerisch haucht sie mit gepresster Stimme: »Aber ich bitte Sie, Otto, niemals würde ich Sie in irgendeiner Weise desavouieren.«

Otto schnellt leicht zurück, zögert einen Augenblick. Aufrecht sitzend spricht er mit leiser, aber klarer und tiefer Stimme: »Verzeihen Sie meine Worte. Das hätte ich auch niemals von Ihnen gedacht.«

Dann beugt er sich wieder nach vorne zu ihr und bemerkt ihren Parfümduft. Wie machen die Frauen das nur? Selbst in dieser schier unerträglichen Hitze riechen sie noch dermaßen gut, während er selber in seinem mittlerweile mit etlichen Sitzfalten versehenen Anzug ununterbrochen schwitzt und wer weiß wie riecht. Verschwörerisch raunt er ihr so eindringlich, wie er nur kann, zu: »Ich reise im Sonderauftrag Seiner Hoheit des Sultans. Mehr darf ich Ihnen nicht sagen. Und auch das ist eigentlich schon zu viel. Ich bitte um Verständnis.«

Margarets hübscher Mund formt daraufhin ein »Oh«.

»Wie aufregend. Mein Mund wird verschlossen bleiben, Otto. Da können Sie sich ganz auf mich verlassen.«

In ihrer Stimme lässt sie eine tiefe Anerkennung mitschwingen, die die beabsichtigte Wirkung auf Otto von Wesenheim nicht verfehlt. Dabei schaut sie ihm fest in die Augen.

»Wenn wir schon bei Geheimnissen sind«, fährt sie fort und senkt ihrerseits die Stimme, »einige Wochen vor meiner Abreise aus Konstantinopel habe ich Gerüchte von einem Rätsel über einen Schatz oder etwas Wertvolles gehört. Haben Sie auch etwas davon vernommen?«

»Äh, nein.« Kurze Pause. »Überhaupt nichts«, antwortet Otto kurz und bündig.

»Ach so, hätte ja sein können.«

Auch Margaret lässt es damit bewenden. Seltsam, denkt Otto, davon hat er tatsächlich nichts gehört. Kann sie sich auf diesen merkwürdigen Brief beziehen, den er bei sich hat? Bei diesem Gedanken fasst er sich automatisch an seine Innentasche, um zu prüfen, ob der Brief noch da ist. Was mag Margaret nur wissen?, fragt er sich und hält kurz inne. Gar nichts, verwirft er schließlich diesen Gedanken.

Wenn es solche Gerüchte geben sollte, dann müssen sie sich auf etwas anderes beziehen, denn von diesem Brief weiß nur der verstorbene Hermann von Darius und nun er, Otto. Von etwaigen Gerüchten hat er auch deshalb nichts mitbekommen, weil er in den letzten Wochen wegen der vielen Arbeit kaum aus der Botschaft herausgekommen ist. Außer natürlich während seiner kleinen Abstecher zu Ayşe. Schwärmerische Erinnerungen machen sich breit. Einen Moment verliert er sich in seinen Gedanken. Doch dann holt ihn die Realität wieder ein.

»Otto, es war mir eine Freude, Sie kennengelernt zu haben. Wir haben ein anregendes Gespräch geführt und die Zeit ist wie ein Wimpernschlag vergangen. Nochmals ganz herzlichen Dank, dass ich Sie in Ihrem Abteil aufsuchen durfte. Bevor wir nun Burgulu erreichen, erlauben Sie mir, dass ich mich zurückziehe und mich frisch mache. Ich hoffe sehr, dass das nicht unser letztes Zusammentreffen gewesen sein wird.«