Schweizer Wasser

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Mai (4)

Wie masochistisch muss man sein, sich so was anzutun? Oder ist es reine Verzweiflung? Voyeurismus, weil man sich so schön vorstellen kann, wie es wäre, wenn sich diese Lackaffen bis auf die Knochen blamieren würden, wenn man hemmungslos Schadenfreude empfinden könnte? Natürlich erfüllen sich solche Szenarien nur im Traum. Okay, dann träum weiter. Aber das ist nur eines von Lisas Problemen. Seit längerer Zeit schläft sie kaum. Und wenn, dann unruhig. Es ist lange her, dass sie mehr als drei Stunden am Stück ins Reich der Träume entfliehen konnte. Und als wäre das nicht genug, waren nicht wenige davon Albträume. Vielleicht ist ihr Alkoholkonsum schuld. Bestimmt nicht nur, ist sie überzeugt.

In ungesunder Haltung, mehr liegend als sitzend auf dem Kunstledersofa aus dem Brockenhaus, die nackten Füße auf dem alten Salontischchen, in der linken Hand ein Glas billigen Rioja, rechts die TV-Fernbedienung, lässt sie ihrer Opferrolle freien Lauf. Körperlich und mental fühlt sie sich, als hätte sie einen 16-Stunden-Tag hinter sich. In Tat und Wahrheit waren es nur sechs. Nach dem Einsatz beim Frühstück durfte sie noch drei Stunden Zimmer putzen. Aus Sicht der Gouvernante war es ein Dürfen. Aus ihrer ein Müssen. Aber sie braucht jeden Cent, um über die Runden zu kommen. Und da sind drei Stunden zum Mindestlohn eben wichtig. Anstrengender als die körperliche Arbeit war allerdings die Angst davor, Heinz Grob zu begegnen, der im Hotel Kirche ein und aus geht, als wäre es sein Betrieb. Wann immer jemand den Frühstücksraum oder einen Korridor betrat, schnellte ihr Puls in die Höhe. Nur für ein paar Sekunden. Trotzdem so ermüdend wie ein Intervalltraining. Heute ist sie ihm nicht begegnet. Wobei das früher oder später nicht zu vermeiden sein würde. Wahrscheinlich eher früher. Schließlich ist sie auf Abruf auch direkt für Heinz Grob tätig.

Die wenigen kritischen Fragen nach der Veranstaltung haben im Beitrag des Regionalsenders keinen Platz. Vielmehr wird der große Aufmarsch betont und dass sogar Tourismusorte mit noch größerer internationaler Ausstrahlung sich plötzlich für Grindelwald interessieren. Journalistisch wenig ausgewogen. Die Abstimmung scheint nur noch Formsache zu sein. Ein voller Erfolg für Luke und seine Crew, muss Lisa neidlos eingestehen. Darauf hebt sie sarkastisch ihr Glas und trinkt einen großen Schluck.

Wie nonchalant und herablassend ihre ernsthaften Fragen beantwortet wurden, macht sie immer noch wütend. Ihr einfach das Wort abschneiden und die Fragerunde beenden, der Gipfel der Frechheit. Und das Verhalten der übrigen Einheimischen? Schlicht trostlos. Kein Schwein wagte, etwas zu sagen, ihr Hinterfragen zu unterstützen. Stattdessen musste sie mitleidige, genervte Seitenblicke aushalten. In ihrem Innern brodelt es wie in einem Vulkan, kurz bevor er mit voller Wucht ausbricht. Plötzlich macht sich auch noch Angst breit. Was, wenn sie diesmal zu weit gegangen war, indem sie versucht hatte, Heinz Grob in der Öffentlichkeit anzugreifen? Wobei, es waren ja nur zwei, maximal drei Fragen gewesen. Wird er ihr das Leben noch schwerer machen? Sie endgültig fallen lassen? Nach außen wirkt er umgänglich, hilfsbereit, gar väterlich. Tatsächlich nutzt er ihre Abhängigkeit schamlos aus.

Bis vor zwei Jahren waren Lisa und ihr Partner 15 Jahre lang Pächter auf dem Hof von Heinz Grob gewesen. Ein schöner Betrieb im Talboden zwischen der Talstation Pfingstegg und Landi. Die ersten zehn Jahre ließ man sie mehr oder weniger in Ruhe. Dann wurde im großen Stil umgebaut. Für Lisa und ihren Partner völlig überdimensioniert. Zu viele Tiere und zu wenig Land, um nur annähernd für genügend eigenes Futter zu sorgen. Statt sich, wie von ihnen vorgeschlagen, Richtung Bio zu entwickeln, wurde der entgegengesetzte Weg gewählt. Widerstand war zwecklos. Vogel friss oder stirb, die unmissverständliche Taktik des Hofbesitzers.

»Wir sind kein Freilichtmuseum, das ›Ueli der Knecht‹-oder ›Geissenpeter‹-Zeiten nachtrauert. Nur wer rentabel wirtschaftet, kann mittelfristig überleben«, so seine Lieblingsargumente gegen ihren Einwand, dass Größe allein doch keine Strategie sei und Erfolg sich nicht nur monetär messen lasse. Drei Jahre hatte ihr Partner die Kraft gehabt, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Dann starb er viel zu jung an einem Herzinfarkt. Für Lisa besteht kein Zweifel daran, wer oder was dafür verantwortlich ist. Ein paar Monate nach seinem Tod musste sie kapitulieren. Den Betrieb mit oft wechselnden, billigen Aushilfen zu führen, war nicht mehr möglich. Dazu kam, dass sie bei einzelnen Tieren erste Symptome der Blauzungenkrankheit nicht sofort erkannt hatte. Obwohl die Krankheit für Menschen ungefährlich und die Übertragung auf andere Tiere äußerst selten ist, spielte dieses Ereignis in Heinz Grobs Karten. Seither führt er den Betrieb mit einer fest angestellten, gut bezahlten Fachkraft wieder selbst.

Einzig das Angebot »Schlafen im Stroh« darf sie noch betreuen. Eine ihrer Ideen in all den Jahren, die ausnahmsweise vom Besitzer nicht abgeschmettert wurde. Vermutlich, weil der Erfolg sich rasch einstellte und nach wie vor anhält. Für sie erstaunlich, weil mit dem Umbau ein Teil des heimeligen Charmes des Bauernhofs verloren ging. Insbesondere von Mitte Mai bis Ende September sind regelmäßig Schulklassen und Familien zu Gast, die sie auf Wunsch bekocht. Zusammen mit temporären Teilzeit-Einsätzen im Hotel Kirche und der Bergbeiz auf der Bussalp kommt sie finanziell mehr schlecht als recht über die Runden.

Was, wenn er sich rächt, mich von der Liste für Aushilfen streicht? Dann kann ich mich gleich bei der Sozialhilfe melden. Nun beruhig dich mal. Du hast ihn ja nicht beleidigt. Am liebsten würde ich ganz Grindelwald den Stinkefinger zeigen und einfach abhauen! Aber wohin? Und wer gibt mir mit 57 noch einen Job?

Der Kampf der beiden Stimmen in ihr wogt nicht zum ersten Mal. In letzter Zeit gewinnt meist die negative. Auch diesmal?

Mittlerweile hat Sonnyboy Luke seinen Auftritt im TV-Beitrag. Jovial platziert er einmal mehr seine Lobrede auf das Zukunftsprojekt.

Hat deine Platte einen Kratzer oder leidest du an Alzheimer, dass du dich immer wiederholst? Mit dieser Honeymoon-Spinnerei wollt ihr euch doch nur ein Denkmal setzen, ihr narzisstischen Wichtigtuer! Wer nicht eure Meinung teilt, wird mitleidig belächelt, ignoriert oder irgendwann entsorgt.

So, jetzt aber mal halblang, Lisa! Im Moment hast du deine Jobs noch. Vielleicht solltest du etwas weniger tri…

Halt die Klappe! Fakt ist, dass nichts und niemand sie aufhalten wird. Schon gar nicht eine wehrlose alte Schachtel mit Kummerfalten und einer grau melierten Mähne. Das Einzige, was diese scheinheiligen Opportunisten interessiert, sind ihr Profit, Schulterklopfen und Applaus!

Für eine alte Schachtel finde ich dich ziemlich attraktiv. Wenn du nüchtern bist, insistiert ihre innere Stimme.

Pahpahpah! Verarschen kann ich mich selbst. Weißt du, wann ich zuletzt Sex hatte?

Klar! Ich war ja dabei.

Dann hör verdammt noch mal mit deinem Zweckoptimismus auf. Mein Leben befindet sich im Sturzflug, ohne Aussicht auf Thermik. Sterbe ich hier und jetzt, wird man meine Leiche erst finden, wenn’s im Treppenhaus zu stinken beginnt. So sieht es aus!

Dann ist es so weit. Das angestaute explosive Gemisch detoniert. Ein ohrenbetäubender Knall. Stille. Glühende Tränen kullern über ihr Gesicht, auf die schwer atmende Brust.

Apathisch, mit glasigem Blick und rot gefärbtem Speichel in den Mundwinkeln starrt Lisa auf den mit Wein getauften und Glassplittern dekorierten Röhrenbildschirm.

Mai (5)

Endlich. Im fünften Anlauf erbarmt er sich mit einem jammernden Wehklagen seines Meisters. Wobei nicht klar ist, wer hier die Macht über wen hat. In letzter Zeit musste Wim mehr als einmal mit ein paar kräftigen Schlägen auf den Anlasser die Hierarchie wiederherstellen. Mit jedem Jahr wird seine uralte Occasion widerspenstiger und eigensinniger. Fast schon beängstigende Parallelen zu den Menschen, geht es ihm durch den Kopf. Wobei er bei ihnen natürlich nie Gewalt anwenden würde. Nicht einmal verbal. Auf einen neuen fahrbaren Untersatz verzichtet er nicht aus nostalgischen Gründen. Ihm fehlen schlicht die flüssigen Mittel. Das war nicht immer so. Bis vor drei Jahren hatte er als regionaler Verkaufsleiter ein regelmäßiges, ganz akzeptables Einkommen inklusive Firmenwagen. Der Titel suggerierte allerdings mehr Verantwortung, als der Job wirklich verlangte. Von ihm aus hätte auf der Visitenkarte einfach »Verkauf« stehen können. Parallel zum Ausbau des Onlinehandels wurden Stellen abgebaut. Für die wenigen verbliebenen Jobs im Verkaufsaußendienst kamen jüngere, dynamischere und billigere Kolleginnen und Kollegen zum Handkuss. Diesen Entscheid konnte Wim sogar nachvollziehen. Die paar Menschen, die ihn etwas besser kannten, staunten immer, dass ausgerechnet er im Verkauf gelandet war. Dem in vielen Köpfen noch vorhandenen typischen Verkäuferbild hatte er nie entsprochen. Seine introvertierten, leicht depressiven Züge erinnern ihn an seinen Vater. Bestimmt nicht an seine holländische Mutter, die meist nach dem Motto kommunizierte: »Woher soll ich wissen, was ich denke, bevor ich höre, was ich sage?« Noch so gerne hätte er einen Teil ihres heiteren Gemüts geerbt. So wie sie im Moment leben, Emotionen und Gefühle zeigen konnte, ohne sich zu fragen, was andere darüber dachten. Gegensätze ziehen sich an, sagt man. Trotzdem hatte Wim nie verstanden, weshalb seine Eltern überhaupt zueinandergefunden hatten. Noch weniger, wieso sie heirateten. Und am allerwenigsten, dass sie sich nicht scheiden ließen. Nachdem er mit 20 definitiv von zu Hause ausgezogen war, hätten doch beide einen Neuanfang wagen können. Stattdessen lebten sie getrennt in der gleichen Wohnung. So eine Art WG mit Trauschein. Er hat sie nie danach gefragt. Wie auch. Bei einem, maximal zwei Besuchen im Jahr spricht man nicht über so persönliche Dinge. Leider. Und jetzt ist es seit sechs Monaten zu spät. Innerhalb weniger Wochen starben beide. Ein Hinweis, dass sie sich trotzdem gebraucht hatten. Immerhin konnten sie auf die Art und Weise gehen, wie es sich viele Menschen wünschen. Einschlafen und nicht mehr aufwachen. Die spärlichen Erinnerungen an seine Eltern begleiten ihn seither oft auf den Fahrten zu seinen Kunden. Wieso interessieren wir uns erst dann für andere, wenn es zu spät ist? Und Eltern sind doch nicht einfach andere. Bin ich wirklich so oberflächlich und empathielos? Liegt es daran, dass ich nie nur in die Nähe davon kam, eine eigene Familie zu gründen?

 

Ein lautes Hupkonzert reißt ihn abrupt aus seinem Tagtraum. Keine Ahnung, wie lange die Ampel schon grün leuchtet. Bestimmt keine zwei Sekunden. Die Gesellschaft wird ja nicht geduldiger. Trotzdem will er natürlich kein Verkehrshindernis sein, gibt Vollgas und lässt die Kupplung etwas zu schnell los. Sein bescheidenes vierrädriges Blechhaus macht einen känguruähnlichen Sprung, röchelt ein letztes Mal und bleibt in seiner ganzen Pracht mitten auf der Kreuzung stehen. Zwei misslungene Startversuche später ist der Fall klar. Er muss seinem unzuverlässigen Begleiter den Meister zeigen. Schon wieder. Du hast es so gewollt. Denk bloß nicht, ich könnte Mitleid für dich empfinden! Auch auf dein Alter kann ich keine Rücksicht nehmen.

Wäre alles nicht passiert, wenn du deine Gedanken bei der Straße gehabt hättest. Und du weißt ganz genau, dass meine Kupplung sehr sensibel ist. Jammere nicht und sorg dafür, dass wir hier fortkommen. Die Huperei ist unerträglich!

Für dieses Szenario hat Wim bereits eine Routine entwickelt. Wenn auch der Ort noch nie so exponiert war. Trotz Déjà-vu-Erlebnis sind Schweißperlen und Schamröte unvermeidbar, als er wie ferngesteuert aussteigt, seinen Anlasser-Knüppel aus dem Kofferraum holt, die Motorhaube öffnet, dreimal gezielt zuschlägt, den Blechdeckel schließt, das Holzwerkzeug wieder verstaut, einsteigt, kuppelt, den Zündschlüssel dreht und davonfährt. Was, wenn jemand dieses Schauspiel, das es durchaus mit einem Sketch von Mr. Bean aufnehmen könnte, mit der Handykamera gefilmt hat und in den sozialen Medien verbreitet? Who cares! Tausende Klicks wären mir sicher. Wim Peter – YouTube-Star! Ein kleines, kaum sichtbares Schmunzeln kann er sich nicht verkneifen, während er vor einem Lebensmittelladen parkt. Dem nächsten potenziellen Kunden auf seiner Akquisitionsliste.

»Nein, danke. Wir brauchen nichts und sind zufrieden mit unseren Lieferanten«, lautet die Standardreaktion der Ladenbesitzerin.

»Freut mich, dass Sie wunschlos glücklich sind. Wie breit ist Ihr Gewürzsortiment? Führen Sie zum Beispiel Mischungen für die indische und asiatische Küche?«, versucht er, die Aufmerksamkeit auf eine Angebotslücke zu richten.

»Da haben wir in der Tat gar keine Auswahl. Aber solange die Konsumentinnen und Konsumenten uns nur berücksichtigen, wenn sie irgendetwas im Einkaufszentrum vergessen haben, kann ich mein Sortiment nicht beliebig vergrößern.«

»Auch nicht mit exotischen Gewürzmischungen in Bio-Qualität?«, startet Wim eine letzte Offensive.

»Tut mir leid. Obwohl ich durchaus für Bio bin, ist mir das im Moment nicht möglich. Vielleicht sieht es nach dem Ladenumbau in sechs Monaten besser aus. Wir haben uns entschieden, trotz ungewisser Zukunft die Flucht nach vorne zu ergreifen.«

Um eine Visitenkarte und ein Muster Ras el Hanout – eine marokkanische Mischung aus 25 Gewürzen – ärmer, notiert er den nächsten Nachfasstermin auf der Liste, bevor er zweimal liebevoll über das Lenkrad streichelt und ein Stoßgebet zum gefleckten Autohimmel sendet. Die Zuneigung wirkt. Der Motor schnurrt auf Anhieb, ohne Murren. Haben Motoren auch Gefühle oder gar eine Seele?

Nach drei weiteren Kundenbesuchen und einem kleinen Verkaufserfolg entscheidet er sich für den Feierabend. Weder Restaurants noch Tante-Emma-Läden wollen nach 17 Uhr gestört werden. Die Tätigkeit als freischaffender Gewürzvertreter ist eine Notlösung. Nach 24 Monaten Arbeitslosigkeit, über 200 Bewerbungen und zwei Praktika bei der Arbeitsvermittlung hatte er kaum mehr eine Wahl. Auf jeden Fall sah er keine andere Möglichkeit als die Selbstständigkeit. Sozialhilfe zu beziehen, war und ist tabu, solange er es irgendwie schafft, jeden Morgen aufzustehen. Egal wie schwer es ihm manchmal fällt. Der Erfolg ist bisher äußerst bescheiden, seine Ersparnisse weiterhin im Sinkflug, die Rücklagen für seine Fixkosten mittlerweile ausgeschöpft. Der letzte Schritt war der Umzug in die kleine Roulotte. Der Wohnwagen aus den Siebzigerjahren ist das einzige, aber sehr willkommene Erbstück seiner Eltern. Sein mobiles Zuhause steht seit einigen Monaten auf dem Campingplatz am Rand von Thun. Seiner Lieblingsstadt. Groß genug, um anonym zu bleiben. Klein genug, um die Übersicht zu behalten. Weit genug weg von Grindelwald, wo er drei schwierige Jahre seiner Pubertät verbracht hat. Das war ungefähr der Rhythmus, in dem sein Vater eine neue Stelle suchen musste, was jedes Mal zur Folge hatte, dass sie umzogen und er sich in einer neuen Umgebung zurechtfinden musste. Fachlich war sein Vater ein Top-Allround-Mechaniker. Problematisch wurde es meist dann, wenn Teamarbeit oder Kundenkontakt gefragt war. In Grindelwald reparierte er Skilifte, Gondeln und Pistenfahrzeuge.

Seine Erinnerungen an diese Periode seiner Kindheit sind wie der Blick durch ein Fenster mit transparenten weißen Vorhängen, die schon länger darauf warten, gewaschen zu werden. Die Fenster und die Vorhänge. Ein trüber, unspektakulärer, unscharfer Schleier. Vielleicht, weil schlichtweg die Zeit für ihn zu kurz war, richtige Freunde zu finden. Vielleicht wegen der Teenagerzeit, die für viele junge Menschen nicht so unbeschwert ist, wie die Erwachsenen oft meinen, obschon auch sie einmal jung waren. Umso mehr galt das für Jungs wie Wim, die problemlos übersehen und erst recht überhört wurden. Die kaum jemand vermisst hatte. Bei denen es keinen Unterschied machte, ob sie anwesend oder abwesend waren.

Und heute? In seiner Rolle als Hausierer (das gefällt ihm besser als »Verkäufer«) wird er wahrgenommen. Nicht weil er viel spricht, sondern weil er besser zuhören kann als viele seiner Berufskollegen. Ein Feedback, das er in all den Jahren ab und zu von Kundinnen und Kunden erhalten hat. Mit ein Grund, weshalb er zwar mehrmals den Arbeitgeber, nie aber die Funktion als Einzelkämpfer im Außendienst wechselte. Mehr noch als die Gespräche liebt er die Einsamkeit und Ruhe zwischen den Kundenbesuchen. Sein privates Umfeld ist mittlerweile so bescheiden wie seine sechs Quadratmeter Wohnfläche. Mit einem Arbeitskollegen hatte er eine Zeit lang alle zwei Wochen Schach gespielt, bis dieser eine Familie gründete. Daneben unterhält er Brieffreundschaften zu einer Skandinavierin und einem Norddeutschen, die er während einer organisierten Wanderwoche entlang der irischen Küste kennengelernt hatte. Ja, Brieffreundschaften, auch wenn das im digitalen Zeitalter komisch klingt. Damit hat es sich mit seinen privaten sozialen Kontakten. Alles in allem ziemlich triste.

So, Wim! Jetzt kneif den Hintern zusammen und wag doch mal was ganz Neues. Bring etwas Action in dein Leben! Mit 56 hast du nicht mehr alle Zeit der Welt! Lad doch mal deine skandinavische Brieffreundin ein. Trete endlich einem Verein bei. Pack deine Habseligkeiten, steig in den nächsten Zug und lass dich überraschen, wo er dich hinfährt. Schreib ein Buch, beginn zu malen. Egal was!

Ich weiß, ich weiß. Aber in meiner momentanen Lage muss ich froh sein, wenn ich nicht verhungere. Sobald sich die Situation etwas beruhigt, schreibe ich meine Bucket List.

Das versprichst du schon seit gefühlten 20 Jahren. Mindestens! Deine Ja-aber-Antwort ist die billigste und abgedroschenste Ausrede. Wie lange willst du dich damit noch selbst betrügen? Übrigens sind Schreiben und Malen gratis. Genauso wie Träumen.

Du wiederholst dich!

Du etwa nicht?

Genervt über sein Selbstgespräch, das sich schon ewig im Kreis dreht, öffnet er sein Feierabendbier und setzt sich mit einem leeren Notizblock auf den Plastikstuhl vor seinem fahrbaren Minipalast. Wim ist nicht gläubig. Während der Wintermonate fühlte er sich dennoch oft als Eremit. Offiziell ist der Campingplatz in der kälteren Jahreszeit geschlossen. Der Betreiber macht für ihn eine einmalige Ausnahme. Aus Nächstenliebe, Mitleid oder wegen Wims Bescheidenheit? Egal. Hauptsache, er muss sein Gefährt nicht auf einer trostlosen Brache parkieren. Hier genießt er eine Fünf-Sterne-Aussicht. In seinem Rücken verabschiedet sich die Sonne. Angenehme 22 Grad. Um die Tageszeit eine Woche vor Pfingsten längst keine Seltenheit mehr. Vor ihm der See, wie eine straff gezogene Frischhaltefolie. Nach zwei, drei Minuten glätten sich auch seine Wogen. Dann greift er zum Bleistift.

Juni (6)

»Halloo!!! Jetzt mach mal fertig und komm raus! In zehn Minuten müssen wir bereit sein!«

Kein Lebenszeichen.

»Haalloo!! Es eilt wirklich! Bitte!«

Funkstille. Seit gefühlten 30 Minuten trippelt sie auf den Zehenspitzen. Der Schließmuskel wird arg gefordert. Doch so laut sie schreit, flennt, mit ihren Fäusten gegen die verschlossene Tür hämmert, die Person dahinter reagiert nicht.

»Wo ist Sophie?«, fragt die Klassenlehrerin.

»Wahrscheinlich noch immer auf der Toilette. Wobei ›Scheißhaus‹ für diese unmenschliche Einrichtung besser passt. Keine Ahnung, was die wieder geschluckt hat. Oder treibt sie es mit dem Jungbauern in Ausbildung? Wenn ja, dann sehr diskret und geräuschlos. Geöffnet hat sie mir jedenfalls nicht. Ich musste mein Geschäft auf dem Miststock verrichten. Stellen Sie sich das einmal vor! Sooo eklig! Igitt!«

Pubertierendes Stimmbruchgelächter und zickiges Kichern. »Es reicht jetzt, Jungs und Mädels! Ich werde mal nach ihr sehen. Packt eure Sachen und macht euch mit meiner Kollegin schon mal auf den Weg Richtung Dorf. Der Ortsbus bringt euch wie gestern auf die Bussalp. Dort ist noch einmal eure Tatkraft gefragt. Vorbereitungsarbeiten für den bevorstehenden Alpaufzug und Weiden von Unkraut und Steinen befreien stehen auf dem Programm. Herr Nowak, den ihr ja schon vom Hof hier im Talboden kennt, wird euch instruieren. Gegessen wird ausnahmsweise in der Beiz. Spaghetti bolo auf der Terrasse im Bergrestaurant. Zum Dessert haben wir ein Gratisfitnesstraining organisiert. Fußmarsch zurück ins Dorf. Davon habt ihr doch immer schon geträumt.«

In Embryostellung liegt Sophie neben der Kloschüssel auf dem Boden, den Kopf in einer stinkenden Lache Erbrochenem. Die langen dunklen Haare verdecken die Augen und kleben an der rechten Wange. Auf ihrer Hose zeichnet sich zwischen den Beinen ein dunkler Fleck ab. So präsentiert sich das schockierende Bild, nachdem die Klassenlehrerin mit dem Ersatzschlüssel der Lagerköchin Lisa die Toilettentür öffnen konnte. Den Brechreiz unterdrückend, bückt sie sich und tastet auf der Innenseite des Handgelenks nach dem Puls. Erst als sie die Augen schließt, sich vollständig konzentriert, spürt sie ein schwaches, unregelmäßiges Pochen. Sophie lebt. Noch.

40 Minuten später schließt Lisa die Hecktür der Ambulanz mit einem warmen, aufmunternden »das wird schon« in Richtung Klassenlehrerin, die Sophie ins Krankenhaus begleitet. Um die Lehrerin zu entlasten, hat sie angeboten, Eltern und Klasse zu informieren. Diese hat dankend angenommen. Der Albtraum ist auch so belastend genug.

Dabei hatte die Landschulwoche auf dem Hof von Heinz Grob so vielversprechend begonnen. Aus Lisas Sicht hatte die Klasse mit Juni den perfekten Zeitpunkt für einen Aufenthalt auf der Bussalp gewählt. Dann erwacht hier oben die Vegetation so richtig. Den Kontakt mit den oft vorlauten, dennoch liebenswürdigen Jugendlichen hatte sie wie immer genossen. Die Kommunikation mit den verständnisvollen Leiterinnen und Leitern hatte reibungslos funktioniert. Ihre Kochkünste wurden geschätzt.

Klassenlager mit jungen Menschen bringen immer Leben auf den Hof und in ihren Alltag. Aus solchen Wochen tankt sie Energie, schöpft neuen Mut und Zuversicht. Was in ihrer aktuellen Lage wichtiger ist denn je. Witzige Aktionen und Streiche der Teenager erinnern sie an unbeschwerte, längst vergangene Zeiten. Die erste Zigarette, Schwindelgefühl inklusive, versteckte, zufällige Berührungen, der erste richtige Kuss und die damit verbundenen Libellen im Bauch (Schmetterlinge klingen ihr zu abgedroschen). Nächtliche Picknicks im Zimmer des andern Geschlechts. Oder das Mithören der Leiterrunde, die auch nicht immer promillefrei, geschweige denn leise blieb. Was ihr schon damals bewies, dass Erwachsene keine fehlerlosen Wesen sind. Heute ist sie überzeugt, dass die Unvollkommenheit im Alter sogar zunimmt. Von wegen Weisheit sei eine Frage des Alters.

 

Sophies Zustand sei stabil, aber nach wie vor kritisch. Man könne zuversichtlich sein, dass sie das Gröbste bald überstanden habe, tappe aber immer noch im Dunkeln auf der Suche nach der möglichen Ursache. Drogen seien nicht im Spiel gewesen. Am wahrscheinlichsten sei eine Vergiftung, ausgelöst vermutlich durch ein verdorbenes Lebensmittel. Oder irgendein Virus. Wobei Letzteres eher nach einer medizinischen Standardantwort klingt und so viel heißt wie: Wir haben keine Ahnung.

Verdorbene Lebensmittel? Die Information der Klassenlehrerin trifft Lisa wie eine rechte Gerade in die Magengrube. Panik vermischt sich mit Wut und Übelkeit. Verdorbene Lebensmittel? Unmöglich. Im Geist geht sie den Menüplan durch. Auch nach mehrmaligem Überdenken findet sie keinen Anhaltspunkt, was der Auslöser hätte sein können. Auf kritische Lebensmittel, wie zum Beispiel Eier in Nachspeisen, verzichtet sie konsequent. Experimente sind tabu. Fleisch wird nur durchgebraten serviert. Außer Reis und Pasta kauft sie praktisch alles täglich frisch und regional ein. Bei der Lagerung hält sie sich strikt an die Vorschriften der Lebensmittelverordnung, wie sie für die Gastronomie gelten. Auf die Hygiene achtet sie besser als mancher Chefkoch, ist sie überzeugt. Vor dem Lebensmittelinspektor fürchtet sie sich nicht. Verdorbene Lebensmittel! Trotzdem verfolgt sie dieser Gedanke, während sie das Abendessen vorbereitet. Zum Glück ein einfaches Menü. Gschwellti, Käse und Salat.

Zwei Stunden nachdem ihr Kopfkarussell sie endlich in Ruhe gelassen hat, reißt sie ein bekannter Klingelton aus dem Schlaf. Auf dem Bauch liegend, tastet Lisa mit der rechten Hand nach der Lärmquelle. »Mist!« Scheppernd fällt das smarte Telefon auf den Fußboden. Als ihre Finger es endlich spüren, wischt die unkoordinierte Handbewegung es unter das Bett. »Merde!«

»Tut mir leid, wenn ich Sie so früh störe, Frau Pelletier. Heute Nacht sind zwei Jungs, ein Mädchen und meine Leiterkollegin erkrankt. Sie leiden unter Erbrechen, Schüttelfrost und Durchfall. Alle vier sind im Notfall. Ich werde das Lager abbrechen und mit dem Rest der Klasse heute um acht Uhr nach Hause fahren. Da scheint ein sehr ansteckender Virus im Umlauf zu sein. Bitte kommen Sie so rasch wie möglich vorbei«, lautet die niederschmetternde Mitteilung auf ihrer Sprachmailbox. Und dabei hatte sie sich eingeredet, dass nach dem äußerst schwierigen, von Vorwürfen bestimmten Telefonat mit Sophies Eltern am Vorabend der unangenehme Höhepunkt dieser Geschichte überstanden sei. Weit gefehlt!