Die Anerkennung des Verletzbaren

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Aus der Reihe: Erfurter Theologische Studien #110
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EINLEITUNG

„Nanu, denk ick Jetzt bin ick uff erst war ick zu, Dann geh ick raus und kieke Und wer steht draußen? Icke. Jeder geschlossene Raum ist ein Sarg. Jeder geschlossene Raum ist ein Sarg.“ 1

Theodor W. Adorno konstatierte, dass moralische Fragen immer genau dann entstehen, wenn ein allgemeines, kollektives Ethos gebrochen ist, „wenn jene fraglose und selbstverständliche Vorgegebenheit von sittlichen Normen des Verhaltens im Leben einer Gemeinschaft nicht mehr vorhanden ist“2. Diese Beschreibung der Entstehungsbedingung moralischer Fragen kann zwei Reaktionsweisen nach sich ziehen. Entweder sieht man darin eine Zersetzung und Zerstörung eines gemeinsamen und gemeinschaftlichen moralischen Ethos, die dazu auffordern eine einheitliche Quelle von Moral und Identität wiederherzustellen. Oder aber man sieht genau in der Wiederherstellung dieser Einheitlichkeit ein „Ethos der Gewalt“, weswegen man sich weigert, den Verlust der Einheitlichkeit des Ethos zu betrauern, da jedes kollektive Ethos eine falsche Einheit setzt, welche die Schwierigkeiten und Diskontinuitäten jedes zeitgenössischen Ethos in ebenjenem Ethos aufzulösen sucht und damit im strengen Sinne die Ansprüche einer Moralphilosophie verkennt.3

Das fundamentalethische Interesse dieser Arbeit besteht darin zu klären, ob es eine funktionale und damit exegetisch angemessene Interpretation des Theologumenons der Gottebenbildlichkeit mit Hilfe des anerkennungstheoretischen Paradigmas geben kann, die bei der Beantwortung ethischer Frage hilfreich und weiterführend ist. Es geht in dieser Arbeit damit nicht um die Ausarbeitung eines materialen theologisch-ethischen Konzepts, sondern um das Aufzeigen eines funktionalen Paradigmas, das vom Begriff der Gottebenbildlichkeit in Zusammenschau mit den auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel zurückgehenden anerkennungstheoretischen Ansätzen Axel Honneths und Judith Butlers ausgeht. Konkret wird dieses Paradigma an einer Konvergenz von moderner Anerkennungsdebatte als Versuch einer nicht materialen Grundlegung der Ethik im Kontext des modernen Pluralismus auf der einen und dem biblischen Verständnis der Gottebenbildlichkeit als nicht ontologischer, sondern funktionaler Kategorie auf der anderen Seite beobachtbar. Diese beobachtete Konvergenz legitimiert dazu, das theologische Verständnis der Gottebenbildlichkeit des Menschen für die heutige Zeit gegen die Tradition im Sinne der Mühe der Heuristik der Anerkennung auszulegen und nicht mehr im Sinne substanzieller Merkmale.

Dabei gibt es eine Parallele zwischen der notwendigen Revision der Dissoziation zwischen funktional-relationaler und ontologischer Verständnisweise der Gottebenbildlichkeit, wie sie sich in der Tradition bei der Deutung der Begriffe „Ebenbild” und „ähnlich” eingeschlichen hat, und dem Ringen im Anerkennungsdiskurs um die Versöhnung zwischen einem Ausgangspunkt in Vorstellungsweisen vom guten Leben auf der einen Seite, sowie der formalen Unabgeschlossenheit der Suche nach Anerkennung auf der anderen.

Das erste Kapitel dieser Arbeit nimmt seinen Ausgang von der genannten Frage, welche der beiden grob umrissenen Reaktionsweisen auf die Pluralität und Parallelität gesellschaftlicher Ethoi angemessen sein kann bzw. welche grobe Form ein zeitgenössisches Ethikdesign haben müsste. Vorgeschlagen wird hierfür zunächst der anerkennungstheoretische Ansatz in der Ausgestaltung Axel Honneths. Gleichzeitig wird in diesem Kapitel der Beobachtung zum Theologumenon der Gottebenbildlichkeit nachgegangen, die darin besteht, dass in der theologischen Tradition bei der Interpretation der Ebenbildlichkeit des Menschen eine Dissoziation der beiden dafür im Hebräischen verwandten synonymen Bildbegriffe zaelaem (צלם) und demut (דמות) erfolgte. Daraus entwickelte sich in der theologisch-systematischen Rezeption ein klassisches, ontologisch besetztes und eine einheitliche Basis bietendes Fundamentalargument, das häufig als Fundament anthropologischer und ethischer Aussagen herangezogen wurde und wird.4 In dieser Interpretationsweise eignet dem Theologumenon und der auf ihm aufbauenden theologischen Argumentationen aber eine Unbeweglichkeit im Austausch mit einem pluralen Diskurs, der sich häufig nicht auf ontologische Maßstäbe und Denkweisen einlässt. Damit stellt sich die Frage, ob damit das Theologumenon der Gottebenbildlichkeit als Spitzenaussage theologischer Anthropologie für den pluralen Diskurs „aus dem Rennen ist“, oder ob der Begriff anschlussfähig interpretiert werden kann. Ein Schritt in Richtung einer bleibenden Anschlussfähigkeit kann in der Rekonstruktion dessen bestehen, was die eigentliche Aussageintention der Gottebenbildlichkeit im biblischen Kontext ist – und was nicht.

Dies geschieht im zweiten Kapitel. Damit einher geht die Feststellung, dass der Begriff der Gottebenbildlichkeit im Bereich der Dogmatik einen hohen Systematisierungsgrad aufweist, im Bereich der theologischen Anthropologie und Ethik aber Unklarheiten darüber bestehen, was eigentlich gesagt wird, wenn von der Gottebenbildlichkeit die Rede ist. Hilfreich ist hier eine Ausschöpfung des semantischen Potentials, das im alttestamentlichen Bestand mit dem Begriff der Gottebenbildlichkeit verbunden ist. Außerdem wird die weitere biblische und außerbiblische Traditions- und Interpretationsbildung in den Blick genommen. Hierüber wird deutlich, dass mit dem Theologumenon eine hermeneutisch offene, funktionale Struktur, keine Seins- oder Wesensbestimmung des Menschen beschrieben wird. So kann eine erste, aus der Gottebenbildlichkeit resultierende anthropologische und ethische Zwischenbilanz gezogen werden, die darin besteht, dass sich über die Gottebenbildlichkeit eher erfassen lässt, was das Bild Gottes nicht ist und wie es als Repräsentant Gottes nicht handeln sollte.

Das dritte Kapitel stellt als weitere Akzentuierung des anerkennungstheoretischen Paradigmas dessen Ausarbeitung durch Judith Butler dar. So kann gezeigt werden, wie sich das intersubjektiv angelegte Theoriekonzept Honneths durch den subjektivierenden Ansatz Butlers ergänzen und in bestimmten Punkten auch präzisieren lässt. Ein besonderes Gewicht wird auf den anerkennungstheoretischen Dreischritt von Anerkennungsbedürfnissen des Menschen, deren zwangsläufige Verletzung und Missachtung und den daraus resultierenden Kampf um Anerkennung bzw. die daraus resultierende Fortentwicklung gesellschaftlicher Verhältnisse gelegt. Besonders die Vorgänge von Verletzung und Missachtung menschlicher Anerkennungsbedürfnisse stellen einen zentralen Punkt dar, da sie, also die anthropologische und ethische via negativa, die einzige Möglichkeit darstellen Richtungsindizes für sowohl anthropologische als auch ethische Aussagen herauszuarbeiten. Die via negativa, dies deutet sich an, kann somit zu einem heuristischen Prinzip für die jeweilige Kontextualisierung der Gottebenbildlichkeit werden.

Im vierten Kapitel zeigt sich als Ertrag der durchgeführten Überlegungen, dass sich das anerkennungstheoretische Paradigma für eine funktionale und damit exegetisch angemessene Auslegung der Gottebenbildlichkeit als hilfreich erweist, da sich sowohl im theologischen, als auch im sozialphilosophischen Diskurs der Widerstreit zwischen materialer Füllung einer ethischen Grundlage der Suche nach Anerkennung des Menschen und ihrer bleibenden Offenheit zeigt. Während der säkulare Ansatz dabei die immer neue negative Hermeneutik der Verletzlichkeit akzeptieren muss, bleibt für das theologische Verständnis die Aufgabe der immer neuen Kontextualisierung der Aussagen von der transzendenten Verwiesenheit des Menschen – in seiner Mitte die besondere Aussage vom Menschen als Gottes Ebenbild – allerdings ebenfalls vermittelt über die via negativa.

 

Um darzustellen, dass Verletzbarkeit als heuristisch-hermeneutisches Prinzip bzw. der anerkennungstheoretische Dreischritt auch theologisch einholbar ist, erfolgt eine auszugsweise Darstellung der Theologie des Dominikanertheologen Edward Schillebeeckx, der mit seinem Konzept der „negativen Kontrasterfahrung“ genau diesen Weg geht – was zunächst nicht verwunderlich ist, da er sich intensiv mit der Frankfurter Schule auseinandersetzte – und so aus theologischer Perspektive ebenfalls zu negativ-offenen anthropologischen und ethischen Richtungsindizes kommt.

Durch die Vermittlung der unterschiedlichen Herangehensweisen kann anstelle einer Betrachtung der Gottebenbildlichkeit als eines materialen, obersten Prinzips die Gottebenbildlichkeit als funktional-kritische Ressource treten, um über die via negativa die historische Kontingenz gesellschaftlich fixierter Anerkennungsverhältnisse, Identitäten und Ausschlussmechanismen aufzuzeigen, sie immer wieder zu hinterfragen und zu dynamisieren. Die Idee der Gottebenbildlichkeit zielt dann in gewissem Sinne darauf, die verletzbare Identität, das unvollkommene Leben von Menschen anzuerkennen und zu schützen und sich dabei lernfähig bzw. heuristisch5 sensibel zu erweisen für sowohl neue Bedrohungen als auch neue Aspekte von Inklusionen menschlicher Identitäten, Biografien und menschlichen Lebens. In genau diesem historisch wandelbaren Anerkennungspotential des Prinzips der Gottebenbildlichkeit liegt auch der beste Schutz davor das Theologumenon zu ideologisieren, zu moralisieren, oder zu einer Formel erstarren zu lassen.

Andererseits kann durch die Gottebenbildlichkeit eine (Transzendenz)Offenheit bewahrt werden, die eine spezifisch christliche Ethik in den pluralen ethischen Diskurs einbringen können muss und darf. Wenn menschliches Leben unverkürzt und gerade auch in seiner Fremdheit gegenüber sich selbst zur Geltung gebracht werden soll, dann ist auch die geheimnisvolle Offenheit des Menschen über sich hinaus, seine Transzendenzverwiesenheit zu berücksichtigen, wobei das Ziel dieser Verwiesenheit nach theologischem Verständnis nicht in einem abstrakten, unberührten Sein besteht, sondern in einer verwundbaren Transzendenz, „welche in nicht festzulegender Offenheit in die Geschichte des Menschen mit ihren Abgründen und ihrer Destruktivität hinein begegnet und diese zu bewältigen hilft“6.

Der vorliegenden Arbeit geht es darum, genau diese Verbindungslinien aufzuzeigen. Weder kann eine generelle nachmetaphysische Grundlegung theologischer Ethik geleistet werden, noch eine abschließende Begründung einer theologischen Ethik der Gottebenbildlichkeit und Personenwürde. Vielmehr geht es darum, die Legitimität der Kontextualisierung des Verständnisses von der biblischen Aussage zur Gottebenbildlichkeit des Menschen in der Beteiligung am Ringen um die zunehmende Anerkennung aller Menschen in den Kämpfen gegen ihre Verletzungen und die Sinnhaftigkeit eines negativen Ansatzes der theologischen Anthropologie und Ethik zu erweisen, die ethisch in einer Anerkennung der Verletzbarkeit des Menschen besteht.

1 Blumfeld, Verstärker, auf: dies.‚ Ein Lied mehr. The Anthology Archives 1, Indigo 2007.

2 Th. W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie, Frankfurt a. M. 22015, 30.

3 Vgl. M. Killius, Grenzen der Anerkennung. Eine Diskussion zwischen Charles Taylor und Judith Butler, in: Ethik und Gesellschaft 1/2014. [http://dx.doi.org/10.18156/eug-1-2014-art-2 (Zugriff am 21.12.2016)]; J. Butler, Kritik der ethischen Gewalt. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt a. M. 2007, 9ff.

4 So beispielsweise zur theologischen Begründung der Menschenwürde. Vgl. hierzu St. Heuser, Menschenwürde. Eine theologische Erkundung, Münster 2004, 258ff.

5 „Heuristik“ wird hier im Sinne der Abwägung von Wahrscheinlichkeiten verstanden, die aus begrenztem Wissen eine wahrscheinliche Orientierung von Suchbewegungen ermöglicht. Vgl. J. Römelt, Der kulturwissenschaftliche Anspruch der theologischen Ethik (QD; 242), Freiburg i. B. 2011, 39.

6 Vgl. ebd., 21.24.

Erstes Kapitel:

Der Widerstreit inhaltlich-materialer und dynamischer Grundlegung eines Verständnisses der Gottebenbildlichkeit des Menschen im philosophischen und theologischen Diskurs

1. ETHIK UNTER PLURALEN VORAUSSETZUNGEN

Alfred North Whitehead hat in seinem philosophischen Werk darauf hingewiesen, dass menschliches Denken und menschliche Kultur von bewussten und unbewussten Abstraktionen gesteuert werden: „Wir können nicht ohne Abstraktion denken; deshalb ist es von äußerster Wichtigkeit, unsere Abstraktionsweisen sehr sorgfältig zu überprüfen. […] Eine Zivilisation, die ihre herkömmlichen Abstraktionen nicht durchbrechen kann, ist nach einer sehr begrenzten Zeit des Fortschritts zur Sterilität verurteilt.“1 Aus dieser Überlegung kann man folgern, dass die unser menschliches Denken und Verhalten bestimmenden Abstraktionen auch in Bereichen des religiösen Lebens, der Theologien und der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Themen der Religion aufzudecken und gegebenenfalls zu revidieren sind. Bei dieser Revision handelt es sich um eine interdisziplinäre Angelegenheit, da die gebräuchlichen Abstraktionen jeweils in mehreren Kontexten verortet und operativ sind.2

Dabei ist es in einer säkularen Kultur und Gesellschaft natürlich keineswegs selbstverständlich Leitkonzeptionen an biblischen Texten zu orientieren. Vielmehr besteht die Unsicherheit, auf welche Theorien überhaupt zurückgegriffen werden kann und soll. Weist man beispielsweise auf, wie weit sich das zeitgenössische Verständnis der Gottebenbildlichkeit und der Menschenwürde von den wichtigsten biblischen Belegstellen entfernt hat und somit unsicher wird, wie man eine theologische Leitkonzeption bzw. Abstraktion begründen kann, so besteht einerseits zumindest die Möglichkeit einen weiten Abstand vom biblischen Ausgangspunkt einzunehmen und vielleicht sogar relativistisch zu argumentieren. Andererseits kann man aber auch die positiven Veränderungspotenziale der biblischen Texte für Leitkonzeptionen betrachten, welche die Chance in sich bergen, steril gewordenen Abstraktionen wieder ins Leben zu helfen.

1.1 Pluralität, Widerstreit und Kompromiss

„Wir machen deshalb einen Fehler, wenn wir eine einzige Definition des Menschlichen oder ein einziges Modell der Rationalität für die bestimmende Charakteristik des Menschlichen halten und dann von diesem anerkannten Verständnis des Menschlichen auf alle seine verschiedenen kulturellen Formen schließen. […] Auf das zu stoßen, was für manche wie ein Grenzfall des Menschlichen wirkt, ist eine Herausforderung, das Menschliche neu zu denken. […] Eine kritische Wirkungsweise jener demokratischen Kultur besteht darin, […] eine Reihe unvereinbarer und sich überschneidender Rahmen in den Blick kommen zu lassen, die Herausforderung der kulturellen Übersetzung anzunehmen, und besonders solche Herausforderungen, die entstehen, weil wir selbst in nächster Nähe zu denen leben, deren Überzeugungen und Werte unsere eigenen auf einer sehr grundsätzlichen Ebene in Frage stellen. […] Es ist […] eine fortwährende Aufgabe, das Menschliche neu zu denken, wenn sich herausstellt, dass dessen vermeintliche Universalität keinen universellen Geltungsbereich hat. Die Frage, wer menschenwürdig behandelt werden wird, setzt voraus, dass wir zunächst die Frage geklärt haben, wer als ein Mensch zählt und wer nicht.“3

Für die Theologie als Akteurin innerhalb der pluralen Gesellschaft4 stellt sich daher die Frage, wie christlich-ethische Positionen in der Öffentlichkeit entwickelt, artikuliert und übersetzt werden können. Die Voraussetzungen hierfür sind dabei durchaus kritisch zu beurteilen, um „die Vermutung der Homogenität innerhalb der einzelnen Weltanschauungsgemeinschaften nicht zu überdehnen. Die Pluralität der Gesellschaft reicht weit in diese einzelnen ‚communities‘ hinein und bewirkt seit langem – wenngleich in gewissen Grenzen – eine innere Pluralisierung auch der als relativ homogen geltenden gesellschaftlichen Kräfte wie z. B. der katholischen Kirche […]. Die darin angezeigte Entwicklung wirft weit reichende Fragen bezüglich der Chancen und Ressourcen zur Verständigung über Werte und Ziele gesellschaftlichen Handelns auf. Zum anderen ist die Diskussion um geeignete Verfahren der ethischen Verständigung unter Pluralitätsbedingungen aufzunehmen“5. Weiter stellt sich aus gesellschaftlicher Perspektive einerseits die Frage, ob überhaupt der Bedarf an einer Übersetzung religiöser Begriffe und Positionen aus der „überweltlichen“ in die „innerweltliche“ Sphäre besteht und andererseits aus theologischer Perspektive, ob eine solche Übersetzung erfolgversprechend sein kann, oder ob nicht gerade die normativen Begriffe der großen Weltreligionen „die unauslöschlichen Spuren primitiver gesellschaftlicher Verhältnisse tragen, die längst nicht mehr bestehen […]“ und somit jeder Versuch „diese Begriffe in die Sprache der profanen Vernunft zu überführen […] letzten Endes den Verrat ihres ursprünglichen religiösen Gehalts [bedeutet | BK]“6, nämlich des Transzendenzbezuges.7 Außerdem stellt sich die Frage, wann eine Übersetzung als gelungen betrachtet werden kann, da man davon ausgehen muss, dass es eine restlose Übersetzung nicht geben kann. Deswegen scheint es sinnvoll weniger von einem Paradigma des Übersetzens, als von dem einer Transposition moralisch-ethischer Elemente des Religiösen in eine säkulare moralisch-ethische Sprache auszugehen. Hinzu tritt hier der Vorteil, dass somit die Kooperation von Menschen mit und ohne religiöser Tradition unterstrichen wird, da Verständigung zwischen „beiden Gruppierungen“ dann zustande kommt, wenn beide zustimmen können, weil sie sich in ihren Anliegen getroffen fühlen. „Der in dieser Kooperation enthaltene Wechsel zwischen der Innenposition des Glaubens und der Außenposition zur Religion weist […] schließlich die Richtung, um der Idee einer ‚Übersetzung‘ zwischen einem Glaubens- und einem nicht-religiösen Standpunkt etwas abzugewinnen und dabei gleichzeitig dem Problem der Reduktion religiöser Semantik auf kognitive Gehalte zu begegnen.“8

Häufig wird außerdem angesichts der zunehmenden Pluralisierung der Ruf nach einem gesellschaftlichen Grundkonsens laut, womit ausgedrückt werden soll, dass es einer Verständigung über eine geteilte Wertgrundlage innerhalb einer Gesellschaft bedarf, um den sozialen und politischen Frieden innerhalb einer Gesellschaft zu erhalten. Die Frage ist, ob es einen derartigen materialen Grundkonsens unter den gegebenen Gesellschaftlichen Bedingungen überhaupt noch geben kann – oder geben darf. Vielleicht ist es sinnvoll unter den geschilderten Bedingungen eher von einer Gesellschaft oder „Kultur des Kompromisses“9, als von einer Konsenskultur zu sprechen. Marianne Heimbach-Steins zufolge kommt dem Kompromiss als „Verfahren handlungsorientierter Verständigung trotz bleibender Dissense“ eine herausragende gesellschaftliche Bedeutung zu, da der Kompromiss die Pluralität einer Gesellschaft respektieren und als Herausforderung für die Gestaltung des Zusammenlebens annehmen kann, „ohne dass dies zum Identitätsverlust der handelnden (individuellen oder kollektiven) Subjekte führen darf“, womit gleichzeitig etwas über Chance und Schwierigkeit des Kompromisses zum Ausdruck kommt. Der Kompromiss, so Heimbach-Steins, bildet eine Art Analogon zu den partizipatorischen Strukturen politischer Entscheidung und zugleich ein Korrektiv zum Mehrheitsprinzip der Demokratie. Seine Grenzen findet der Kompromiss in der Orientierung am Gemeinwohl: Das Ziel, die Bedingungen für die Entfaltung der Gesellschaftsmitglieder zu optimieren, „also dem Personwohl aller einzelnen Geltung zu verschaffen, setzt einer Kultur des Kompromisses offensichtlich Grenzen. Sie werden immer dort erreicht, wo Werte oder Ansprüche miteinander konkurrieren, die nicht ohne weiteres gegeneinander ausgleichsfähig erscheinen; dies betrifft namentlich sittliche Werte“10. Wie aber sind diese Grenzen in einer pluralen Gesellschaft ausfindig zu machen bzw. wie kann eine „ethische Wahrheit“ entdeckt werden, die ja nicht statisch erscheint, sondern in einem unbegrenzten und unabschließbaren Prozess stets neu ermittelt werden muss? Hier kann eine Definition des Begriffs „Kompromiss“ hilfreich sein: Ein Kompromiss kann „bestimmt werden als eine zivilisierte Form der Auseinandersetzung bzw. der konstruktiven Bearbeitung von Dissensen mit dem Ziel, unter Anerkennung fortbestehender Differenz zwischen den Beteiligten einen handlungsorientierten Konsens zu erreichen“. Bei einem Kompromiss kann es also nicht um definitive Wertentscheidungen, sondern „um geschichtlich überholbare, handlungsbezogene Entscheide auf der Basis des je jetzt bestmöglich Einsichtigen“11 gehen.

 

1.2 Bedingungen einer (post)modernen Ethik

In moderner, pluraler Gesellschaft besteht somit die Notwendigkeit für die Ethik, sich in den Denk- und Erfahrungskategorien der jeweiligen Gegenwart auszudrücken. Die theologische Ethik kann – sowohl in ihrer moraltheologischen als auch in ihrer sozialethischen Ausprägung – zu diesem gegenwärtigen Ausdruck beitragen, wenn sie sich als eine Teilnehmerin an einer gemeinsamen und gesamtgesellschaftlichen Aufgabe und Zielstellung versteht und von daher profiliert, da „die Abhängigkeit der Moral von der jeweiligen Kultur […] ein empirisches, ethnologisch, rechts- und kultursoziologisch ausweisbares Faktum“12 ist.

1.2.1 Prinzipien moderner (theologischer) Ethik

Moderne (westliche) Kulturen sind Kulturen der Freiheit. In diesen Kulturen „verändert sich die traditionelle Vorstellung von Moral grundlegend. Moral ist verantwortliche Freiheit. Sie tritt nicht als Einschränkung der Freiheit auf, sondern muss in ihrem Zusammenhang mit Freiheitsverwirklichung und als Kultivierung von Freiheit verstanden werden. Anstelle einer durch Tradition, Autorität und Gesellschaftskonformität getragenen und legitimierten normativen Ordnung wird Moral zum Projekt von in Freiheit angenommener Verantwortung […]“13.

Ethik kann zeitgenössisch außerdem nur noch als autonome Ethik, d. h. als auf praktischer Vernunft basierte Verantwortungsethik verstanden werden. Normative Gültigkeit einer ethischen Norm ergibt sich dann auch nicht mehr aus den Faktoren Tradition oder Autorität, sondern aus der Richtigkeit des durch diese Faktoren Tradierten. Daraus ergibt sich wiederum, dass Traditionen aufgrund ihres Vermögens beurteilt werden müssen, „die universale Respektierung der menschlichen Würde zu verwirklichen. […] Tradition wird gemessen an der Ethik, und nicht die Ethik an der Tradition“14. Werte und Normen erlangen ihre Plausibilität immer nur innerhalb eines konkreten, gelebten und reflektierten Kontextes.

Eine solche Auffassung von Ethik und Moral wird dann auch von einem bestimmten Geschichtsverständnis grundiert, welches sich nicht als Fortschrittsmodell, sondern als Modell bezeichnen lässt, welches geschichtliche Veränderungen anerkennt, sich aber des wertenden Urteils im Sinne einer Fortschritts- oder Niedergangstheorie enthält. Dieses Geschichtsverständnis lässt sich als „strukturelles Transformationsmodell“ bezeichnen. Der Sinn solcher beschreibenden Gesellschaftsanalysen kann allerdings nicht darin bestehen, gänzlich auf eine Bewertung gesellschaftlicher Entwicklungen zu verzichten.15 Faktoren für diese Bewertung müssen dabei die Berücksichtigung der durchgängigen Veränderbarkeit und somit die Vorläufigkeit gesellschaftlicher Entwicklungen, deren Pluralität, also die Gleichzeitigkeit mehrerer Gesellschaftsentwürfe und die Komplexität moderner Gesellschaften, d. h. deren tendenzielle Unüberschaubarkeit darstellen.16 Konkret schlägt K.-W. Merks folgende Kriterien zur Bewertung der Fortschrittlichkeit oder Rückschrittlichkeit konkreter Lösungen ethischer Probleme vor:17

- Autonomie der Ethik | Eine Theorie der Moral muss in modernen Gesellschaften die Eigenständigkeit ihrer ethischen Fragestellungen „in ihrer Eigenheit gegenüber technokratischen Automatismen zur Geltung zu bringen“18. Somit besteht Fortschrittlichkeit von Moral nicht in einer Adaption von technischem oder wissenschaftlichem Fortschritt, sondern in der Aufrechterhaltung moralischer Autonomie – nicht Kontextlosigkeit – gegenüber diesen Faktoren. Außerdem ist im normativen Sinn nur ein weltliches Ethos denkbar, dass über dem der Religionen und dem verschiedener Ideologien steht, damit die Kulturtranszendenz und -bindung der Ethik gleichzeitig abgrenz- und legitimierbar wird.19

- Subjektivität | Moral muss den sittlichen Kern der Wende zum Subjekt integrieren, weil dies der Würde des Menschen, sein Leben in Freiheit zu verantworten, einzig entsprechend ist. Dafür ist es notwendig, dass eine moderne Moral diesen Kern in ihren Strukturen deutlich halten und in ihrer normativen Theorie beherzigen kann.

- Verantwortung für die Strukturen | Da moderne Gesellschaften immer weniger auf traditionelle Bestände und Ressourcen zurückgreifen können, werden Institutionen und Strukturen zunehmend von Menschen abhängig. Neben die Verantwortung für das Handeln tritt also in modernen Gesellschaften die Verantwortung für die Normen des Zusammenlebens und dessen gesellschaftliche Institutionen und Strukturen. Gerade die Bereitschaft und Fähigkeit zu dieser Verantwortungsübernahme kann ein Indikator für den Fortschritt der Moral in der Moderne sein.

- Veränderlichkeit | Eine zu einer höchst wandelbaren und innovatorischen Gesellschaft passende Moral muss fähig sein, auf diese gesellschaftlichen Wandlungen, Veränderungen und Entwicklungen einzugehen. Eine moderne Moral sollte also Flexibilität und Korrekturoffenheit aufweisen. Darüber hinaus bilden konkrete Sittlichkeitserfahrungen und -reflexionen einen weiteren wichtigen Faktor für Veränderungen innerhalb eines ethischen Systems.20

- Komplexität | Moderne Gesellschaften bilden hoch komplexe Gebilde aus sich überlagernden Prozessen dar, deren Steuerung wiederum komplexer Systeme bedarf und nur partiell möglich ist. Ein beschränktes Maß an „Sicherheit in Diagnose und Prognose, in der Abschätzung von Ursache und Folgen“21 bilden den Status quo ethischen Urteilens und Handelns. Für die Findung moralischer Normen und Regeln bringt diese Diagnose die Konsequenz mit sich, sich mit einer gewissen Vorläufigkeit und Revdierbarkeit abfinden zu müssen. Von zentraler Bedeutung für eine moderne Ethik wird daher die Fähigkeit zum verantworteten Kompromiss sein.

- Neue Dimensionen | Die gegenwärtige moralische Situation zeichnet sich durch eine dreifache Ausweitung menschlicher Verantwortung auf den Kontext der einen Welt, die Umwelt und die Gestaltung von Zukunft aus. Fortschritt von Moral zeigt sich in diesem erweiterten Rahmen an der Fähigkeit zur Innovation, d. h. an den Fähigkeiten moralische Fragen in mundialem Zusammenhang zu beantworten, eine Anthropozentrik zu durchbrechen und nachhaltige Entscheidungen zu treffen.

- Universalität | Eine Gesellschaft ist in dem Maße moralisch fortschrittlich, in welchem sie es vermag die Grenzen eines Gruppenethos zu überwinden und weniger nach Gruppenbelangen, als nach universal gültigen ethischen Grundsätzen zu suchen. Dies bedeutet auch eine „primäre Anerkennung aller Menschen in ihrem gleichen Recht auf sittliche Selbstbestimmung und eine Lebensgestaltung in einer eigenen kulturellen Identität“22.

- Pluralität | In der Bewegung hin zu einer Welt lässt sich auch eine neue Wertschätzung von Vielfalt erkennen. Moral muss im Rahmen eines gemeinsamen Fundamentalkonsenses in der Lage sein, diese Pluralität und partielle Lebensformen zu integrieren. Auch hier dürfte der Modus des Kompromisses wiederum eine Rolle spielen, um zu einem gesellschaftlichen Fundamentalkonsens zu gelangen, womit nicht die Hinwendung zu einem Postulat der Einheitsvernunft gemeint ist, die auf die heutigen philosophischen und gesellschaftlichen Herausforderungen nicht mehr angemessen reagieren kann.23