Europarecht

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IV. Rechtsfolgen

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Die Rechtsfolge des Art. 340 UAbs. 2 AEUV ist auf Ersatz des verursachten Schadens gerichtet. Dies kann außer durch Geldersatz auch im Wege der Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands (Naturalrestitution) erfolgen. Die einer Amtshaftungsklage stattgebende Entscheidung ergeht, soweit die Union zur Schadensersatzleistung verurteilt wird, in Form eines vollstreckbaren Leistungsurteils. Die Vollstreckung erfolgt gem. Art. 280 i.V.m. Art. 299 UAbs. 2–4 AEUV. Soweit lediglich die Unionshaftung dem Grunde nach festgestellt wird, ergeht das Urteil in Form eines nicht vollstreckbaren Feststellungsurteils. Die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Unionsrechtsmaßnahme wirkt nur zwischen den Parteien.

A › Amtshaftungsklage (Gilbert H. Gornig) › V. Haftung für rechtmäßiges Handeln

V. Haftung für rechtmäßiges Handeln

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Der Wortlaut des Art. 340 UAbs. 2 AEUV lässt auch eine Haftung für rechtmäßiges Verhalten zu. Das EuG hat unter Verweis auf einen möglichen Allgemeinen Rechtsgrundsatz gleichen Inhalts einen aus Art. 340 UAbs. 2 AEUV abzuleitenden Haftungstatbestand für rechtmäßiges Verhalten grundsätzlich anerkannt (EuG, Urt. v. 14.12.2005, T-320/00 – CD Cartondruck/Rat –, Rn. 150). Voraussetzung ist danach ein Schaden, der von einem EU-Organ oder einem Bediensteten verursacht worden ist. Als einschränkendes Kriterium wird aber ein Sonderopfer verlangt. Dieses Sonderopfer ist gegeben, wenn ein „außergewöhnlicher“ und „besonderer“ Schaden verursacht wurde (EuG, Urt. v. 14.12.2005, T-69/00 – FIAMM –, Rn. 160).

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Nachdem der EuGH zunächst das Bestehen eines solchen Anspruchs offengelassen, gleichwohl die etwaigen Haftungsvoraussetzungen (besonderer und außergewöhnlicher Schaden) aber bereits akzeptiert hatte, lehnt der EuGH (Urt. v. 9.12.2008, C-120/06 u.a. – FIAMM –, Rn. 164 ff.; zur vorangegangenen, gegenteiligen Rechtsprechung des EuG s. die Bestandsaufnahme ebd., Rn. 52 ff.) nunmehr eine Haftung aus Art. 340 UAbs. 2 AEUV für rechtmäßiges Handeln der Organe und Bediensteten ab. Nach seiner Ansicht kann eine Haftung für rechtmäßiges Handeln der EU schon deshalb nicht als Allgemeiner Rechtsgrundsatz gelten, weil jedenfalls für normatives Handeln der Mitgliedstaaten (Gesetzgebung) keine diesbezügliche Übereinstimmung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen bestehe. Vor diesem rechtlichen Hintergrund dürfte insbesondere eine Haftung der EU für von ihr verhängte → Restriktive Maßnahmen (Wirtschaftssanktionen) kaum mehr in Betracht zu ziehen sein.

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Erwogen hat der EuGH (ebd., Rn. 184) allerdings, dass ein unionsrechtlicher Rechtsetzungsakt, dessen Anwendung zu Beschränkungen des Eigentumsrechts oder der Berufsfreiheit führt, unverhältnismäßig ist, „weil keine zur Vermeidung oder zum Ausgleich dieser Beeinträchtigung geeignete Entschädigung vorgesehen wurde“, und der Rechtsetzungsakt deshalb eine außervertragliche Haftung gem. Art. 340 UAbs. 2 AEUV auslösen kann. Dies ist dann allerdings ein Anwendungsfall der Haftung für rechtswidriges (normatives) Handeln der Union.

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Die inhaltliche Konkretisierung des Art. 340 UAbs. 2 AEUV durch den EuGH ist, gerade auch im Kontext der (abgelehnten) Haftung für rechtmäßiges Handeln, letztlich nicht Resultat einer mit der inhaltlichen Erkenntnis Allgemeiner Rechtsgrundsätze verbundenen Normpräzisierung, sondern Ausdruck einer v.a. an der praktischen Wirksamkeit (effet utile) des Art. 340 UAbs. 2 AEUV (→ Auslegung des EU-Rechts) orientierten richterlichen Rechtsfortbildung. Die Funktion der Allgemeinen Rechtsgrundsätze beschränkt sich hier in der Regel darauf, den äußeren Rahmen für diese Rechtsfortbildung zu markieren.

A › Antidiskriminierungsmaßnahmen (Jan Martin Hoffmann)

Antidiskriminierungsmaßnahmen (Jan Martin Hoffmann)

I.Rechtsnatur29

II.Verhältnis des Art. 19 AEUV zum sonstigen Primärrecht30 – 32

III.Verfahren33 – 35

1.Art. 19 Abs. 1 AEUV34

2.Art. 19 Abs. 2 AEUV35

IV.Bekämpfung von Diskriminierungen36 – 44

1.Allgemeines37, 38

2.Geschlecht39

3.Rasse und ethnische Herkunft40

4.Religion oder Weltanschauung41

5.Behinderung42

6.Alter43

7.Sexuelle Ausrichtung44

V.Anwendungsbereich der Norm45, 46

VI.Geeignete Vorkehrungen und Grundprinzipien für Fördermaßnahmen47 – 49

1.Geeignete Vorkehrungen, Art. 19 Abs. 1 AEUV48

2.Grundprinzipien für Fördermaßnahmen, Art. 19 Abs. 2 AEUV49

Lit.:

M. Bell, Anti-Discrimination Law and the European Union, 2002; S. Bouchouaf/T. Richter, Reichweite und Grenzen des Art. 13 EGV – unmittelbar anwendbares Diskriminierungsverbot oder lediglich Kompetenznorm?, JURA 28 (2006), 651; S. Huster, Gleichheit im Mehrebenensystem: Die Gleichheitsrechte der Europäischen Union in systematischer und kompetenzrechtlicher Hinsicht, EuR 45 (2010), 325; P. Stalder, Antidiskriminierungsmaßnahmen der Europäischen Gemeinschaft nach Art. 13 EG-Vertrag, 2001; R. Wernsmann, Bindung Privater an Diskriminierungsverbote durch Gemeinschaftsrecht, JZ 60 (2005), 224.

28

Der noch relativ junge Art. 19 Abs. 1 AEUV, dessen Regelungsgehalt erstmals durch den Vertrag von Amsterdam eingeführt wurde, enthält eine umfassende Rechtsgrundlage für die Bekämpfung von Diskriminierungen aus dort im Einzelnen aufgeführten Gründen durch das Treffen „geeigneter Vorkehrungen“ seitens der EU. Als Ausfluss des allgemeinen Gleichheitssatzes (→ Grundrechte: Gleichheitsrechte), der als Allgemeiner Rechtsgrundsatz (→ Rechtsquellen) das EU-Recht durchzieht, ermächtigt Art. 19 Abs. 1 AEUV somit zum Erlass spezieller Gleichheitsbestimmungen, die an die dort genannten unzulässigen Differenzierungsmerkmale anknüpfen. Art. 19 Abs. 2 AEUV ergänzt diesen Ansatz (seit dem Vertrag von Nizza) noch durch die Ermächtigung zum Erlass von „Grundprinzipien für Fördermaßnahmen“, die ebenfalls der Diskriminierung aus den genannten Gründen entgegenwirken sollen, dabei eine Harmonisierung des mitgliedstaatlichen Rechts allerdings gerade nicht zulassen. Insgesamt steht Art. 19 AEUV insbesondere neben den speziellen Gleichheitssätzen aus Art. 18 und Art. 157 AEUV und ergänzt diese um die in Absatz 1 genannten Kriterien.

 

A › Antidiskriminierungsmaßnahmen (Jan Martin Hoffmann) › I. Rechtsnatur

I. Rechtsnatur

29

Art. 19 AEUV dient als Ermächtigungsgrundlage für den Erlass sekundärrechtlicher Bestimmungen, durch welche die Querschnittsklauseln in Art. 8 und Art. 10 AEUV konkretisiert werden können. Subjektive Rechte sind in Art. 19 AEUV hingegen nicht enthalten. Zudem ist die Norm auch nicht unmittelbar anwendbar. Daher hat die Große Kammer des → Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in der kontrovers diskutierten Mangold-Entscheidung auch nicht auf die Vorgängernorm zurückgegriffen, um das Recht des Einzelnen auf Nichtdiskriminierung wegen des Alters zu begründen, sondern einen (ungeschriebenen) Allgemeinen Rechtsgrundsatz angenommen (EuGH, Urt. v. 22.11.2005, C-144/04 – Mangold –, Rn. 75). Auf diesem Wege werden die speziellen Diskriminierungsverbote unabhängig von Art. 19 AEUV zu primärrechtlich gewährleisteten subjektiven Rechten aufgewertet. Seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon muss allerdings nicht mehr auf ungeschriebenes Recht zurückgegriffen werden, weil insbesondere mit Art. 21 Abs. 1 GRCh auch eine nach Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 EUV dem Primärrecht gleichgestellte Verbürgung existiert.

A › Antidiskriminierungsmaßnahmen (Jan Martin Hoffmann) › II. Verhältnis des Art. 19 AEUV zum sonstigen Primärrecht

II. Verhältnis des Art. 19 AEUV zum sonstigen Primärrecht

30

Die Anwendung des Art. 19 Abs. 1 AEUV wird dadurch begrenzt, dass diese Ermächtigungsgrundlage nur „[u]nbeschadet der sonstigen Bestimmungen der Verträge“ eingreift. Angesichts des Wortlauts drängt sich ein Vergleich mit Art. 18 UAbs. 1 AEUV auf, der allerdings nicht auf die „sonstigen“, sondern auf „besondere“ Bestimmungen der Verträge Bezug nimmt. Gleich bleibt allerdings die Darstellung des Verhältnisses zu den jeweiligen Bestimmungen durch die einleitende Präposition „[u]nbeschadet“, die angesichts der systematischen Nähe beider Normen zueinander identisch auszulegen ist (s. → Diskriminierungsverbot, allgemeines [Rn. 585]). Daher kommt auch Art. 19 Abs. 1 AEUV nur nachrangig zur Anwendung.

31

Er unterliegt zudem einer umfassenden Subsidiarität gegenüber allen sonstigen Ermächtigungsgrundlagen, die den Erlass von Sekundärrecht zulassen, das zumindest auch Maßnahmen gegen Diskriminierungen erfassen kann. Hier wirkt sich der oben dargestellte Unterschied in der tatbestandlichen Formulierung aus, denn anders als bei Art. 18 UAbs. 1 AEUV besteht die Subsidiarität nicht nur gegenüber speziellen Antidiskriminierungsvorschriften. Da es außer Art. 157 AEUV auch keine konkurrierenden, auf die gleichen Merkmale abstellenden Vorschriften gibt, wäre eine so verstandene Subsidiarität ohnehin auch weitgehend gegenstandslos. Somit verbleiben für Art. 19 AEUV die gezielt und ausschließlich auf die Bekämpfung von Ungleichbehandlungen aus den in Absatz 1 genannten Gründen gerichteten Maßnahmen. Angesichts der erheblichen Verfahrensanforderungen (Rn. 33 ff.) ist ein derart restriktives Verständnis angezeigt, um die für „sonstige Bestimmungen“ der Verträge vorgesehenen erleichterten Anforderungen nicht zu konterkarieren. Nur die Kompetenzergänzungsklausel ist ihrerseits angesichts der ausdrücklichen Anordnung in Art. 352 Abs. 1 S. 1 AEUV subsidiär zu Art. 19 AEUV.

32

Aufgrund von Art. 19 Abs. 1 AEUV können Rechte des Einzelnen im Sekundärrecht verankert werden. Art. 21 Abs. 1 GRCh vermittelt in Bezug auf dieselben Merkmale (und weitere, nicht in Art. 19 Abs. 1 AEUV genannte) hingegen unmittelbar einklagbare Rechte, die von den Mitgliedstaaten (nur) bei der Durchführung des EU-Rechts zu gewährleisten sind.

A › Antidiskriminierungsmaßnahmen (Jan Martin Hoffmann) › III. Verfahren

III. Verfahren

33

Art. 19 Abs. 1 und 2 AEUV enthalten unterschiedliche Verfahrensanforderungen, welche die jeweils zulässige Regelungstiefe reflektieren.

1. Art. 19 Abs. 1 AEUV

34

Für den Erlass der geeigneten Vorkehrungen gilt nicht das ordentliche Gesetzgebungsverfahren nach Art. 289 Abs. 1, 294 AEUV, sondern ein besonderes Gesetzgebungsverfahren gem. Art. 289 Abs. 2 AEUV (sofern es in eine der Handlungsformen des Art. 288 Abs. 2 bis 4 AEUV mündet). Dieser Unterschied soll vermutlich den Einfluss der Mitgliedstaaten in den häufig von kontroversen Diskussionen begleiteten Regelungsbereichen sicherstellen, auf die sich Art. 19 Abs. 1 AEUV bezieht. So erfordert das besondere Gesetzgebungsverfahren zum einen die Zustimmung des → Europäischen Parlaments. Zum anderen wirkt sich in diesem Verfahren das Erfordernis der Einstimmigkeit im → Rat (Ministerrat) als souveränitätsschonend aus, da hierdurch jedem Mitgliedstaat ein Vetorecht für jegliche Maßnahme aufgrund von Art. 19 Abs. 1 AEUV zukommt.

2. Art. 19 Abs. 2 AEUV

35

Obwohl auf die gleichen Ziele ausgerichtet, wirken die auf Basis von Art. 19 Abs. 2 AEUV zu erlassenden Grundprinzipien für Fördermaßnahmen weniger einschneidend hinsichtlich der möglichen Verbindlichkeit und Regelungstiefe. Insbesondere wird jegliche Harmonisierung mitgliedstaatlicher Vorschriften ausgeschlossen. Daher greift hier ein erleichtertes Verfahren ein, namentlich das ordentliche Gesetzgebungsverfahren (Art. 289 Abs. 1, 294 AEUV) einschließlich der Beschlussfassung im Rat mit qualifizierter Mehrheit.

A › Antidiskriminierungsmaßnahmen (Jan Martin Hoffmann) › IV. Bekämpfung von Diskriminierungen

IV. Bekämpfung von Diskriminierungen

36

Der Begriff „Diskriminierung“ wird vom EuGH für alle Diskriminierungsverbote gleich definiert; eine vertragsunmittelbare Definition gibt es nicht. Eine Diskriminierung besteht dann, wenn ein Betroffener benachteiligt wird, indem unterschiedliche Vorschriften auf vergleichbare Situationen angewandt werden oder dieselbe Vorschrift auf unterschiedliche Situationen angewandt wird (vgl. EuGH, Urt. v. 14.2.1995, C-279/93, Rn. 30). Zudem muss sie aus menschlichem Verhalten resultieren und kann – neben der rechtlich unmittelbaren Konsequenz – ebenfalls lediglich faktisch mittelbar wirken (s. auch → Diskriminierungsverbot, allgemeines [Rn. 587 ff.]; hinsichtlich der Möglichkeit der Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung gilt das dort Dargelegte [Rn. 595]).

1. Allgemeines

37

Die Maßnahmen, die aufgrund von Art. 19 AEUV erlassen werden, sollen der Bekämpfung von derartigen Diskriminierungen dienen. Hiermit ist zunächst gemeint, dass erkannte, bereits bestehende Diskriminierungen beseitigt werden sollen. Auch wenn das Hauptaugenmerk auf dieser Dimension liegt, so lässt die Ermächtigung darüber hinaus noch eine präventive Orientierung zu: das potentielle Auftreten künftiger Diskriminierungen zu verhindern darf das verfolgte Ziel sein.

38

Beschränkt wird der Kreis möglicher Ziele allerdings durch die Auflistung der unzulässigen Differenzierungskriterien in Art. 19 Abs. 1 AEUV. Dieser Artikel ist die Konkretisierung eines allgemeinen Diskriminierungsverbots, enthält er selbst doch nur eine enumerative Aufzählung (vgl. EuGH, Urt. v. 11.6.2006, C-13/05, Rn. 55 f.). Eine allgemeine, umfassende Maßnahme zur Bekämpfung jeglicher Ungleichbehandlungen kann nicht hierauf gestützt werden. Innerhalb der Aufzählung ist keine Hierarchie vorgesehen, die genannten Kriterien sind also alle gleichrangig und daran anknüpfende Ungleichbehandlungen in gleicher Weise zu bekämpfen. Die speziellen Gleichheitssätze sind zwar ebenfalls in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zu finden, jedoch müssen die Begriffe unionsrechtlich autonom ausgelegt werden, um ein einheitliches Verständnis der auf Art. 19 AEUV gestützten Maßnahmen sicherzustellen (→ Auslegung des EU-Rechts).

2. Geschlecht

39

Der Begriff „Geschlecht“ in Art. 19 Abs. 1 AEUV zielt zunächst auf die Gleichbehandlung von Mann und Frau ab, ist hierauf jedoch nicht beschränkt. Bereits ein Vergleich mit Art. 157 Abs. 1 AEUV deutet dies an, indem dort ausdrücklich nur auf Männer und Frauen als gleich zu bezahlende Kategorien von Erwerbstätigen Bezug genommen wird (obschon in der Rechtsprechung anerkannt ist, dass sich bspw. auch Transsexuelle nach erfolgter Geschlechtsumwandlung auf diesen Artikel berufen können, vgl. EuGH, Urt. v. 30.6.1996, C-13/94, Rn. 20 f.). Neben Transsexuellen sollen auch Transvestiten und Hermaphroditen erfasst sein, Homosexuelle allerdings nicht (für diese Gruppe gilt der Anknüpfungspunkt „sexuelle Ausrichtung“, vgl. EuGH, Urt. v. 17.2.1998, C-249/96, Rn. 47 f.).

3. Rasse und ethnische Herkunft

40

Bezüglich der Merkmale „Rasse“ und „ethnische Herkunft“ fehlt es an einer unionsrechtlichen Definition. Die Idee der Existenz verschiedener menschlicher Rassen wird vielmehr vom Unionsgesetzgeber im sechsten Erwägungsgrund der sog. Antidiskriminierungsrichtlinie 2000/43/EG (die auf Art. 13 EGV, mithin die Vorläufernorm zu Art. 19 Abs. 1 AEUV, gestützt wurde) zurückgewiesen. Gleichwohl wird der Begriff Rasse verwendet und als unzulässiges Differenzierungskriterium benannt. Verstanden werden kann er als Zugehörigkeit zu einer Gruppe mit bestimmten vererblichen Merkmalen wie Hautfarbe oder sonstigen genetischen Merkmalen. Die ethnische Herkunft ihrerseits bezieht sich auf die einheitliche Sprache und Kultur einer Gruppe oder die im Wesentlichen einheitliche Abstammung (vgl. EuGH, Urt. v. 16.7.2015, C-83/14, Rn. 46). Eine Gleichsetzung mit der Staatsangehörigkeit dürfte bereits grundsätzlich an der multiethnischen Zusammensetzung mitgliedstaatlicher Bevölkerungen scheitern, ist ohnehin aber aufgrund der insoweit spezielleren Regelung in Art. 18 UAbs. 1 AEUV systematisch nicht vertretbar.

 

4. Religion oder Weltanschauung

41

Ebenso wie Rasse und ethnische Herkunft sind auch die Begriffe „Religion“ und „Weltanschauung“ nicht im Unionsrecht definiert. Weiterhin lassen sich beide Merkmale nicht in allen Konstellationen trennscharf voneinander abgrenzen, wobei der Vertragstext bereits andeutet, dass dies für die Ausübung der durch Art. 19 AEUV eingeräumten Kompetenzen gar nicht vonnöten ist: Während die anderen Merkmale in einer Aufzählung durch Kommata abgetrennt sind, steht der Ausdruck „Religion oder Weltanschauung“ zusammen. Religion nimmt in erster Linie auf eine transzendente Glaubensüberzeugung Bezug, wovon nicht nur gemeinhin anerkannte Konfessionen oder institutionell zusammengeschlossene Gruppierungen erfasst sind. Weltanschauung zielt hingegen stärker auf die persönliche Werteordnung und den Sinn menschlichen Daseins ab. Im Ergebnis dürfte aber jede Religion zumindest auch weltanschauliche Gehalte haben und daher die Weltanschauung der weitergehende Begriff sein. Neben der inneren Überzeugung und Haltung – dem forum internum – betrifft das Merkmal auch das forum externum, also die Freiheit, die Religion oder Weltanschauung mit anderen öffentlich oder privat z.B. durch Gottesdienst oder sonstige Bräuche oder Riten zu bekennen (vgl. EuGH, Urt. v. 14.3.2017, C-157/15, Rn. 28).

5. Behinderung

42

„Behinderungen“ sind Einschränkungen, die insbesondere auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen sind (EuGH, Urt. v. 11.6.2006, C-13/05, Rn. 43) und die eine gemeinhin als normal empfundene Tätigkeit unmöglich machen oder zumindest wesentlich erschweren. Maßgebliche Voraussetzung ist, dass die Einschränkung nicht nur eine vorübergehende ist, sondern von Dauer (EuGH, Urt. v. 22.5.2014, C-356/12, Rn. 45); chronisch Kranke können also auch als behindert i.S.d. Art. 19 Abs. 1 AEUV gelten.

6. Alter

43

Mit dem Begriff „Alter“ ist nicht lediglich der Schutz lebensälterer Personen gemeint, sondern es kann eine allgemeine, altersunabhängige Gleichbehandlung angestrebt werden. Somit können auf Art. 19 AEUV gestützte Maßnahmen durchaus zugunsten jüngerer Menschen ergehen, auch wenn hauptsächlich der Schutz älterer im Fokus steht. Demnach sind die in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen häufig zu findenden Höchstaltersgrenzen rechtfertigungsbedürftig, können aber bspw. aufgrund beschäftigungspolitischer Ziele zulässig sein, vgl. Art. 6 Abs. 1 der sog. Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG (hierzu EuGH, Urt. v. 16.10.2007, C-411/05, Rn. 52 ff.).

7. Sexuelle Ausrichtung

44

Die „sexuelle Ausrichtung“ ist abzugrenzen vom Geschlecht, das ausweislich Art. 19 Abs. 1 AEUV einen selbständigen unzulässigen Differenzierungsgrund darstellt und einen eigenständigen Regelungsbereich erfasst. Gemeint ist die Orientierung im Hinblick auf das von einer Person bei der (Sexual-)Partnerwahl bevorzugte Geschlecht, wobei durchaus auch die Bisexualität eingeschlossen ist. Denkbar, wenngleich noch nicht vom EuGH entschieden, ist auch, das Sexualleben im Hinblick auf Präferenzen unabhängig vom Geschlecht einzubeziehen, also den Schutz nicht an die Beteiligten, sondern an deren Verhalten zu knüpfen.

A › Antidiskriminierungsmaßnahmen (Jan Martin Hoffmann) › V. Anwendungsbereich der Norm

V. Anwendungsbereich der Norm

45

Ausweislich Art. 19 Abs. 1 AEUV kann der Rat nur „im Rahmen der durch die Verträge auf die Union übertragenen Zuständigkeiten“ tätig werden. Gegenüber der Formulierung in Art. 18 UAbs. 1 AEUV, der sich auf den Anwendungsbereich der Verträge bezieht, bedeutet dies eine Einschränkung. Während der Anwendungsbereich der Verträge in Art. 18 UAbs. 1 AEUV tendenziell eher weit ausgelegt wird, sind mit den „Zuständigkeiten“ i.S.d. Art. 19 Abs. 1 AEUV lediglich die legislativen Kompetenzen der EU gemeint. Nur dort, wo die EU gesetzgeberisch zu handeln ermächtigt ist, kann sie aufgrund von Art. 19 AEUV (die Einschränkung gilt auch für Art. 19 Abs. 2 AEUV) Vorkehrungen treffen bzw. Grundprinzipien für Fördermaßnahmen festlegen.

46

Dies bedeutet gleichwohl nicht, dass von der Kompetenzübertragung auch die ausdrückliche Ermächtigung zum Erlass von Anti-Diskriminierungsmaßnahmen umfasst sein muss; hierzu dient gerade der Art. 19 AEUV. Weiterhin ist nicht erforderlich, dass die Union von ihrer Kompetenz bereits Gebrauch gemacht haben muss; ihr bloßes Bestehen reicht aus. Ggf. enthaltene Harmonisierungsverbote sind allerdings zu berücksichtigen. Zwar lässt Art. 19 AEUV die Wahl der Handlungsform offen, aber dadurch dürfen die Vorbehalte zugunsten der Mitgliedstaaten nicht unterlaufen werden. Wo also die Harmonisierung mitgliedstaatlicher Rechts- und Verwaltungsvorschriften ausgeschlossen ist (z.B. in Art. 166 Abs. 4 AEUV bezüglich der Maßnahmen zur beruflichen Bildung), sind verbindliche Rechtsakte zur Diskriminierungsbekämpfung nicht statthaft.

A › Antidiskriminierungsmaßnahmen (Jan Martin Hoffmann) › VI. Geeignete Vorkehrungen und Grundprinzipien für Fördermaßnahmen