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Thränhardt, du Tier!

Der Rolls-Royce stand im absoluten Halteverbot, keine zwanzig Meter vom Eingang des Nijinsky entfernt. Metalliclackierung, getönte Scheiben und blitzendes Chrom, ein Klischee auf vier Rädern. Wir waren zu viert, der Besitzer des Rolls-Royce, ein Unternehmer aus Düsseldorf, den ich nur flüchtig kannte, saß auf dem Fahrersitz, neben ihm Dieter, ein erfolgreicher Schauspieler; der breite Paul, ein Zuhälter, und ich saßen auf dem Rücksitz. Ich hatte nur eine vage Vorstellung davon, was mich erwartete.

Im Laufe des Abends hatte ich beobachtet, wie Dieter und die beiden anderen immer wieder für einige Minuten die Diskothek verließen und ziemlich aufgekratzt zurückkamen. Ich hatte geahnt, dass irgendetwas im Gange war, das ich keinesfalls verpassen durfte. Also hatte ich mich ihnen dieses Mal wie selbstverständlich angeschlossen. Keiner schien sich darüber zu wundern.

Der Rolls-Royce-Besitzer zog ein Tütchen mit weißem Pulver aus dem Handschuhfach, streute etwas davon auf einen Spiegel, hackte es mit seiner Kreditkarte klein und formte zwei Linien daraus. Dann rollte er einen Fünfzigmarkschein zu einem Röhrchen, steckte sich das eine Ende in sein rechtes Nasenloch, verschloss das linke mit seinem Finger und zog mit einem energischen Schnaufen eine Pulverlinie in seine Nase. Dann wiederholte er die Prozedur mit seinem linken Nasenloch und reichte sämtliche Utensilien an Dieter weiter. Ich sah gebannt zu, prägte mir jede seiner Bewegungen ganz genau ein. Schließlich wollte ich später keinen Fehler machen. Kokain kannte ich bisher nur aus Filmen und Büchern, dass es Koks auch in meiner unmittelbaren Umgebung geben musste, war mehr als naheliegend, aber bisher hatte ich nichts davon bemerkt.

Der Spiegel und das Tütchen wurden nach hinten gereicht. Wie ein gelehriges Zirkusäffchen hackte ich das Pulver, rollte den Geldschein und schnupfte die weiße feinkörnige Linie; so, wie ich es Minuten zuvor gesehen hatte. Die Härchen auf meinem Arm hatten sich vor Aufregung aufgestellt, aber ich gab mich abgeklärt und routiniert. Niemand sollte meine innerliche Anspannung spüren und mich als Novize enttarnen.

Schon dieses Ritual nahm mich gefangen. Ein magischer Moment – wir waren ein Geheimbund, wagemutige Verschwörer, die die Grenzen der Spießergesellschaft weit hinter sich ließen und sich über die ahnungslosen Trinker im Inneren des Clubs erhoben. Jetzt war ich endgültig in der Welt von Hemingway, Miller, Kerouac und Burroughs angekommen.

Dann knallte das Kokain in mein alkoholisiertes Hirn. Wärme durchflutete mich, breitete sich in meinem gesamten Körper aus. Gleichzeitig erfüllten mich eine große Ruhe und Klarheit. Ich fühlte mich nicht benebelt, wie ich es vom Haschisch und auch vom Alkohol kannte. Im Gegenteil, es war, als hätte ich alle Fesseln abgeworfen.

Mein Denken und Fühlen waren von kristalliner Reinheit und Schärfe, alle Hemmungen waren verschwunden, ich war unantastbar, entgrenzt, auf magische Weise eng mit allem verbunden, mit meinen Mitverschwörern im Auto, meinen Freunden an der Bar, das Koks hatte mich in das Zentrum meines Universums katapultiert. Nach diesem Moment, so schien es, hatte ich mich mein gesamtes Leben gesehnt.

Der Club vibrierte vor Energie. Eine dunkle, warme Höhle, in der nichts Bedrohliches existieren konnte. So ähnlich musste sich der Fötus im Mutterleib fühlen. Meine Füße schienen den Boden kaum zu berühren, die Frauen leuchteten, ich selbst leuchtete, war ein Magnet, der die Menschen anzog, in meinen Bann schlug. Alles war von nie gekannter Intensität. Die Luft flirrte vor sexueller Spannung. Ich flirtete mit jeder Frau in meiner Nähe, alles war purer Sex, jedes Wort, jeder Blick, jede Berührung. Verheißung und Verführung, Kopfpornokino, überwältigend und rauschhaft. Ich war nach Hause gekommen. Angekommen in dem Leben, von dem ich als Teenager gelesen und geträumt hatte.

Begonnen hatte alles mit meinem Umzug nach Köln rund zwei Jahre zuvor. Gegen das studentisch geprägte, aber eher provinzielle Aachen mit seinen Maschinenbaustudenten und seinem chronischen Männerüberschuss war Köln ein Eldorado, in jeder Hinsicht. 1985 zog ich in eine Wohnung in der Breiten Straße im Zentrum der Stadt. Die Straße, gesäumt von Restaurants, Cafés, Kneipen und Geschäften, war für Autos gesperrt. Hier flanierten hauptsächlich Einheimische oder die Köln-Kenner unter den Besuchern, der Großteil der Touristen bevölkerte eher die Hohe Straße und die Schildergasse.

Meine Wohnung war siebzig Quadratmeter groß und lag über einem Café, auf den ersten Blick machte sie nicht sehr viel her: angestoßener Sechziger-Jahre-Chic, zwei Zimmer, ein kleines, aber ordentliches Bad mit hässlich gemusterten Kacheln. Auch die Küche war winzig, aber ich hatte ja nicht vor, darin viel Zeit zu verbringen. Mein Frühstück, ein Croissant und einen Kaffee zur Zigarette, bekam ich im Café im Erdgeschoss, an dessen Hintereingang mein Hausflur anschloss. Schon nach wenigen Wochen stapelten sich die Kuchenteller in meiner Küche. Mittags aß ich meist in den umliegenden Restaurants. Und beobachtete unter meiner Sonnenbrille die Frauen, die vorüberflanierten. Vor allem im Sommer ein Anblick, von dem ich nie genug bekam.

Mein Wohnzimmer bot genügend Raum für ein großes Bücherregal, mein Schlafzimmer ging auf den Innenhof, mit Blick auf ein Flachdach und die Lüftungsschächte des Cafés. In warmen Sommernächten kletterte ich aus dem Fenster, das Flachdach wurde mein persönlicher innerstädtischer Dachgarten. Zugegeben, statt Wiesen, Blumen und Bäumen gab es Dachpappe, Ziegelmauern, Ventilatoren und Metallrohre, aber unter dem Sternenhimmel spielte das keine große Rolle. Urbane Romantik, mit der ich auch bei den Frauen, die ich nachts mit zu mir nahm, punkten konnte. Die Wohnung war ein Hauptgewinn für mich.

In gewisser Weise hatte der Umzug meine Welt verengt: Beinahe alle Wege waren kurz – das WDR-Gebäude, das Büro der Produktionsgesellschaft, mit der ich kooperierte, Studios und Schnitträume, alles war nur wenige Gehminuten von meiner Wohnung entfernt. Da in den Redaktionen meist nicht vor zehn Uhr gearbeitet wurde, kam ich sogar dann noch pünktlich zu meinen Terminen, wenn ich bis neun oder halb zehn schlief. Frühes Aufstehen hasste ich seit meiner Schulzeit. Zum anderen hatte der Umzug meine Welt wunderbar erweitert. Nach kurzer Zeit wusste ich, in welchen Lokalitäten die sogenannte Szene verkehrte. Ich war neugierig und kontaktfreudig, kam schnell mit Menschen ins Gespräch. Was in Köln zugegebenermaßen nicht besonders schwierig ist – wer hier keine Kontakte knüpft, leidet wahrscheinlich an einer schweren Sozialstörung. Beinahe täglich traf ich interessante und aufregende Menschen, den Schauspieler Jo Bolling, den ich aus der »Lindenstraße« kannte, lernte ich in einem Café kennen, den Sänger und Ex­tremsportler Joey Kelly oder die Entertainerin Hella von Sinnen an der Bar eines Clubs.

Einer meiner engsten Freunde war Tom Gerhardt, ein Lokaljournalist, der Philosophie und Germanistik studiert hatte und von einer Karriere als Comedian träumte. Als ich ihn kennenlernte, spielte er vor dreißig Besuchern, einige Jahre später war er der Star einer eigenen Comedy-Serie im Privatfernsehen. In Köln öffnete sich eine Tür in eine neue, schillernde Welt. Eine, die schier grenzenlose Aufregung und Spaß verhieß, in der alles möglich zu sein schien. In den ersten Wochen und Monaten stand ich noch staunend am Rand, dann tauchte ich immer tiefer in diese Welt ein, kopfüber und mit leuchtenden Augen.

Meine Begeisterung für den Sport hatte ich mir bewahrt. Ich spielte regelmäßig Handball in einer Journalisten-Mannschaft, und am Wochenende traf ich mich mit Carlo oder Dietmar Mögenburg zu einem Tennis-Match, oder wir spielten Basketball mit Sportstudenten und dem späteren Bundestrainer Dirk Bauermann. Danach ließen wir im Wellnessbereich des Interconti die Woche ausklingen und läuteten gleichzeitig das Partywochenende ein.

Das Hotel lag nur wenige Gehminuten von meiner Wohnung entfernt, der Wellnessbereich inklusive Sauna war im obersten Stockwerk untergebracht und, was vielen Kölnern nicht bekannt war, öffentlich zugänglich. Ende der Achtziger hatte, neben zahlreichen Sportlern, die Medienszene die Sauna für sich entdeckt. Ob Verleger, Journalist, Filmemacher oder Sportmanager, hier traf man die interessantesten Menschen. Zusätzlich zur Sauna, den Ruheräumen und der Bar gab es einen Billardtisch, man konnte Backgammon spielen oder sich massieren lassen. Wir spielten um Geld, das erhöhte die Spannung. Ein paradiesischer Ort, in dem Carlo, Dietmar und ich viele Stunden verbrachten. Mein Bruder feierte dort sogar seinen dreißigsten Geburtstag.

Die Hotelsauna fungierte auch als eine Art kollektives Außenbüro, hier wurden Projekte entwickelt und Verträge ausgehandelt, die jeweiligen Mitarbeiter riefen bei wichtigen Belangen an der Bar der Sauna an. Bald hinterließ auch ich die Telefonnummer der Bar des Wellnessbereichs im Büro und bei meinen Geschäftsfreunden. An den Wochenenden war die Interconti-Sauna das Basislager, von dem aus wir in die Restaurants, die Clubs und Diskotheken ausschwärmten.

Mit Dieter, dem Schauspieler, war ich auf der Toilette des Palm Beach ins Gespräch gekommen, einer Diskothek, in der sich allabendlich einige Hundert Jahre Knast versammelten. Uns verband neben der starken Affinität zum Sport vor allem unser Lebensstil – also die Affinität zu hochprozentigem Alkohol, schönen, in der Regel jüngeren Frauen und rauschhaften Nächten. »Es krachen lassen«, wie Dieter unser nächtliches Unterhaltungsprogramm beschrieb, das in der Regel mit einem doppelten Wodka-Tonic am Tresen des Nijinsky begann und, wenn die Diskotheken schlossen, in der nahegelegenen Currywurstbude und schließlich im Klein Köln endete, einer berüchtigten Milieu-Kneipe, angefüllt mit Boxern, Zuhältern und Nachtgespenstern aller Art. Dieter hatte sich schnell angewöhnt, mich mit »Thränhardt, du Tier!« oder »Thränhardt, du Verbrecher!« willkommen zu heißen, natürlich dröhnend laut. Zur Begrüßung klatschten wir uns ab, klopften uns mit großer Geste gegenseitig auf die Schultern und umarmten uns. Mir gefielen diese Rituale, auch wenn diese Körperlichkeit unter Männern neu für mich war.

 

Ich war fasziniert von dem Biotop, in dem ich mich bewegte, umgeben von erfolgreichen Schauspielern und Musikern, von Journalisten und Schriftstellern, Plattenproduzenten und Sportlern, von Intellektuellen und Pseudointellektuellen, Unternehmern und Ganoven. In unserem Kreis gab es einen Schriftsteller, der Krimis schrieb, und den Chefredakteur einer Tageszeitung. Oder Bentley-Boris, der ein großes Vermögen verwaltete, besagte Autos sammelte und gerne und viel trank. Ein sehr zurückhaltender, liebenswürdiger Mann, immer geschmackvoll gekleidet, der meist abseits stand, das Geschehen aufmerksam beobachtete und treffsicher kommentierte. Frauen gegenüber war er sehr zuvorkommend, ein wirklicher Kavalier. Im Suff verlor er allerdings schon mal den Überblick. Einmal brachte er es fertig, im Vollrausch einen seiner Bentleys zu verlegen: An einem Wochenende hatte er sich in Monte Carlo so besoffen, dass er vergaß, dass er mit seinem Wagen dorthin gefahren war, den Bentley in einer Tiefgarage stehen ließ und nach Köln zurückflog. Dort suchte er tagelang seinen Wagen und meldete ihn schließlich als gestohlen. Seinen Irrtum bemerkte er erst Wochen später, als er eine saftige Rechnung des Tiefgaragenbetreibers aus Monte Carlo bekam.

Da wir für Stimmung und Umsatz sorgten, waren wir in den Clubs und Diskotheken hofierte Stammgäste. Nie musste ich in einer Schlange stehen, die Türsteher begrüßten uns mit Handschlag und lotsten uns am wartenden Fußvolk vorbei. Die Getränke gingen sogar hin und wieder aufs Haus. Das Koks, das ich zunächst nur sporadisch an den Wochenenden nahm, leider nicht. Kokain war in den Clubs und Diskotheken, in denen ich die Nächte verbrachte, allgegenwärtig. Im Nijinsky gab es eine Art lebenden Kokskiosk, Stefan, der Dealer, eine Institution im Kölner Nachtleben. Graumeliert und mit adrettem Sakko stand er Abend für Abend am Tresen, immer an derselben Stelle. Er sah aus wie ein Versicherungsvertreter oder Geschäftsmann. Seine Geschäfte tätigte er zu meiner Überraschung wie selbstverständlich am Tresen. Nur Anfänger, lernte ich bald, wickelten ihre Drogenkäufe in dunklen Ecken vor der Tür der Diskothek ab.

Im Alten Wartesaal trank ich mit Tom, dem zukünftigen Fernsehkomiker, Joey Kelly und einem erfolgreichen Gastronom Whisky an der Bar, wir stellten den Frauen nach, und der eine oder andere verschwand zwischendurch auf ein Näschen Koks auf die Toilette. Joey, der Ausdauersportler, nahm keine Drogen, hielt sich auch mit Alkohol eher zurück und verschwand in der Regel nicht weit nach Mitternacht. Wenn die Diskothek in den frühen Morgenstunden schloss, feierten wir anderen in der nahegelegenen Wohnung des Gastronomen weiter, lümmelten auf dem Sofa oder im Pool und redeten uns die Köpfe heiß. Wenn ich nach Hause ging, stach die Morgensonne in meine Augen. Was für ein Leben! Die anderen, die Langweiler, gingen zur Arbeit. Ich, die extrem coole Sau, kam nach Hause, aufgedreht und beseelt.

So ein Leben hatte ich mir immer gewünscht. »Lieber den Jahren mehr Leben geben als dem Leben mehr Jahre«, wusste schon Curd Jürgens. So sah ich das auch – ich wollte so viel Aufregung, so viel Genuss und Stimulation in die Tage und Nächte pressen wie eben möglich. Grenzen überschreiten, in jeder Hinsicht, umgeben von schillernden, aufregenden Menschen. Ich war im Epizentrum des prallen Lebens angekommen, es waren meine »Stillen Tage in Clichy«.

In dem Film »From Dusk Till Dawn« gibt es eine Szene, in der die beiden Hauptdarsteller eine Bar betreten, das »Titty Twister«. Dort tanzen halbnackte Frauen lasziv auf den Tischen, und verwegene Kerle in Lederjacken schütten grölend den Alkohol in sich hinein oder lecken ihn von den Frauenbäuchen. »Das könnte meine Stammkneipe werden«, sagt eine der beiden Hauptfiguren bei diesem Anblick. Als ich den Film sah, verstand ich genau, was er meinte. Jetzt fühlte es sich an, als lebte ich im »Titty Twister«. Zur Ruhe kam ich kaum, wieso auch?

In meinem Leben spielten Sex und Erotik eine große Rolle. Genau genommen war ich ja sexuell eher ein Spätentwickler, mit Anfang dreißig hatte ich einiges nachzuholen. Obwohl ich mich meist in einer festen Beziehung befand, hatte ich zusätzlich regelmäßig Affären und One-Night-Stands. Ich war Filmemacher mit illustrem Freundeskreis und einer gehörigen Portion Selbstbewusstsein, bei den Frauen kam ich gut an.

Wie ein Spätpubertierender führte ich eine gedankliche Strichliste mit meinen Eroberungen, war stolz auf jede neue Kerbe in meinem imaginären Colt. An dem Tag, an dem ich zum ersten Mal mit zwei verschiedenen Frauen hintereinander Sex hatte, war die Kerbe besonders tief. Ich träumte von einer perfekten Woche – das bedeutete, an sieben aufeinanderfolgenden Tagen Sex mit sieben verschiedenen Frauen zu haben. An manchen Wochen kam ich diesem Ziel sehr nahe, ganz erreicht habe ich es nie.

Zudem hatte ich jetzt endlich die Gelegenheit, all die aufregenden Sexszenen, die mich in den Büchern von Anäis Nin oder Harold Robbins so fasziniert und erregt hatten, einem Realitätstest zu unterziehen. Ich hatte zum Beispiel gelesen, es sei die ultimative Stimulation, sich vor der Penetration Kokain auf die Eichel zu streuen. Das erwies sich als maßlos übertrieben. In meiner Nase, erkannte ich schnell, war das Kokain definitiv besser aufgehoben. Aber von solchen Rückschlägen ließ ich mich nicht entmutigen, es gab noch so viel zu entdecken, so viele Körper und Praktiken zu erforschen!

Das Kokain stachelte meine sexuelle Gier zusätzlich an. Nicht immer schaffte ich es mit meiner jeweiligen Eroberung bis in meine Wohnung. Es kam vor, dass wir auf dem Nachhauseweg auf einer Motorhaube oder in einer Baustelle übereinander herfielen. Ich war ein Getriebener in Sachen Sex.

Bald begannen meine rauschenden Wochenenden, sich immer wieder auch in die Woche auszudehnen. Hin und wieder gab es Momente, in denen ich mich fragte, ob dieses Leben nicht auch Nachteile hatte: wenn ich nach durchgemachter Nacht bei hellem Sonnenschein in dem Café unter meiner Wohnung saß, halbkomatös, sensorisch überfordert vom geschäftigen Treiben auf der Straße und gequält vom Sonnenlicht, das trotz meiner Ray Ban schmerzhaft in mein Hirn stach, während die anderen wach und vergnügt zu Mittag aßen, sich unterhielten oder Hand in Hand an den Schaufenstern vorüberschlenderten.

Aber diese Zweifel verflogen schnell. Nach wenigen Stunden Schlaf und einem langen Spaziergang war ich wieder einsatzfähig und in der Lage, mich voller Elan meinen Filmprojekten zu widmen oder Sport zu treiben. Lange Regenerationsphasen benötigte ich nicht, ich war jung und sportlich, außerdem fleißig und erfolgreich. Sicher, ich trank viel und nahm Drogen, aber ich war kein Versager und Verlierer, meine Karriere nahm im Gleichschritt mit meinem Alkohol- und Drogenkonsum Fahrt auf. Das Gleiche galt für die meisten meiner Freunde und Saufkumpane. Wir waren Gewinner; erfolgreich, lebendig, umschwärmt und hatten einfach eine Unmenge Spaß.

Mit Dieter teilte ich neben der Begeisterung für Frauen und Alkohol ein Faible für die Kölner Halbwelt. Seit meiner Jugend war mein Kopf angefüllt mit den romantisierten Bildern von aufrichtigen Gaunern, die es mit dem Gesetz nicht so genau nahmen, sich über hohle gesellschaftliche Konventionen erhoben und sich einem eigenen Ehrenkodex, eigenen moralischen Grundsätzen verpflichtet fühlten. Ganze Kerle, die der stumpfsinnigen Spießerexistenz den Rücken gekehrt hatten und in ihrer eigenen, schillernden und aufregenden Welt lebten. Ihnen fühlte ich mich verbunden, auch wenn ich mein Geld auf legale Weise verdiente. Vor allem das Rotlichtmilieu, die Welt der Zuhälter und Huren, zog mich an. Ein Gegenuniversum, geprägt von allgegenwärtigem Sex, klaren Regeln und lässigen Sprüchen, bevölkert von allzeit verfügbaren Frauen und dem, was ich unter echten Männern verstand.

Ich traf Typen wie den Automaten-Franz, dessen Name eigentlich schon alles sagte, was man über ihn wissen musste; oder den breiten Paul, ein Freund von Dieter, Türsteher und Gelegenheitszuhälter, dessen Nachnamen ich nie erfuhr. Ein glatzköpfiger Hüne, der brutal und gnadenlos zuschlug, wenn es nötig war, auf mich aber immer einen eher gutmütigen Eindruck machte und meistens gute Laune verbreitete. Einer, auf den man sich verlassen konnte, wenn es Ärger gab. Aber eben auch jemand, der selbst den Ärger anzog.

Eines Morgens rief er mich voller Panik im Kokswahn an. »Du musst mich hier rausholen«, sagte er mit aufgeregter, aber gedämpfter Stimme. »Paul, was ist los?«, fragte ich. Er behauptete, seine Wohnung – die im zehnten Stock eines Hochhauses lag – sei von einem Sondereinsatzkommando der Polizei umstellt, seit 24 Stunden bewege er sich nur auf dem Bauch kriechend durch die Räume. Wenn die Beamten ihn durch das Fenster sähen, würden sie ihm den Kopf wegschießen. Keine Ahnung, welche Art Hilfe er sich da von mir erwartete. Da ich mich gerade in einem wichtigen Meeting befand, konnte ich die Angelegenheit leider nicht weiterverfolgen. Wenige Tage später traf ich ihn im Nachtleben wieder, einige Stunden Schlaf hatten die Bedrohung durch das SEK anscheinend beseitigt.

Bei aller Faszination für die Halbwelt und meiner Nähe zu Luden, Dealern und Gaunern war ich nie ganz Teil ihres Universums, blieb stets eine Art freundlich geduldeter Zaungast. Was uns verband, war eher Kameraderie denn Freundschaft, wir waren eine Interessengemeinschaft in Sachen Drogen, Alkohol, Sex und rauschhaften Nächten. Wie die meisten meiner Nichtganovenfreunde betrachtete ich diese Welt, ihre Regeln und Rituale mitunter auch mit ironischer Distanz. Manchmal fühlte ich mich wie ein Besucher im Zoo. Zum Beispiel begrüßten uns die Türsteher und unsere Zuhälterkumpane statt mit »Wie geht’s?« in der Regel mit der eher rhetorischen Frage: »Fotzentechnisch alles klar?« Eine Frage, die nur eine Antwort zuließ und später Einzug in Toms Bühnenprogramm fand.

Eine Art besondere Freundschaft verband mich dagegen mit Manni Gatzke, einem ehemaligen Autoschieber, der lange im Gefängnis gesessen hatte und als Türsteher arbeitete. Die Resozialisation, eine Integration in ein sogenanntes geregeltes Leben, war dem Ex-Knacki nicht gelungen, aber in der Kölner Halbwelt genoss er großes Ansehen. Seine Lebensgeschichte faszinierte mich. Manni war ein anständiger Kerl, zuverlässig, hilfsbereit und loyal zu seinen Freunden, »ein Korrekter«, wie es in Halbweltkreisen hieß. Außerdem war er sehr belesen und ein hervorragender Schachspieler. Er erschien mir wie ein Mann, der im Leben einfach nur einige Male falsch abgebogen war. Nächtelang saßen wir zusammen, spielten Schach, diskutierten über Nietzsche und Schopenhauer und philosophierten über das Leben und den ganzen Rest, meist angetrieben vom Kokain. Manni wusste immer, wo es das beste Koks gab. Auch sonst verfügte er über exzellente Unterweltkontakte, was mir bei dem einen oder anderen Filmprojekt von Nutzen war.

Natürlich hatte auch er eine andere, dunklere Seite. Manni hatte die Gesetze der Straße verinnerlicht. Zudem war er groß und ein beeindruckendes Kraftpaket. Er ging keiner Schlägerei aus dem Weg, im Gegenteil. Einmal rempelte ihn ein harmloser Betrunkener im Vorübergehen an, Manni schlug ihm mit der flachen Hand so heftig aufs Ohr, dass es den Kerl, der nicht wusste, wie ihm geschah, von den Füßen hob. Ein anderes Mal stürzte sich Manni, ohne eine Sekunde zu zögern, auf drei Männer, von denen er sich provoziert fühlte. Er schlug zu, schnell, gnadenlos und mit kühler Präzision. Die drei waren groß und breit, aber so überrumpelt von der Geschwindigkeit und Brutalität des Angriffs, dass sie sich bald in Sicherheit brachten.

Anfangs sah ich in diesen Gewaltexzessen Kollateralschäden, die eben dazugehörten. Zumal ich selbst nie Ziel der brutalen Ausbrüche war. In den folgenden Jahren lernte ich zunehmend die unromantischen und ernüchternden Seiten von Halbwelt und Milieu kennen. Ich sah, wie überdrehte Türsteher aufsässige Gäste niederknüppelten oder Dealer ihre Konkurrenten und säumige Kunden zu einem blutigen Klumpen Fleisch prügelten. Und 2000 wurde Aaron, ein Dealer, der mich eine Zeitlang mit Kokain versorgt hatte, auf offener Straße vor meinen Augen erschossen. Da war meine Faszination für dieses Milieu längst gestorben, meine Nähe zu Dealern und Zuhältern nur noch schale Gewohnheit oder bloße Notwendigkeit.

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