Was Luther angerichtet hat

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Finnland

Noch ein Ausblick nach Finnland: Der erste finnische Lutherschüler war Peder Särkilax, der auch schon heiratete, bevor er sich 1522 in Turku niederließ, der einzigen Bischofsstadt des Landes, deren Bischof er 1554 wurde. Ab Anfang der 1530-er Jahre kamen mehrere finnische Studenten nach Wittenberg. Michael Agricola, der als erster Vater der finnischen Schriftsprache gepriesen wird, weilte 1536 – 1539 in Wittenberg und brachte 1548 eine finnische Übersetzung des Neuen Testaments heraus. Dass es dabei nicht restlos nach lutherischer Orthodoxie zugegangen sein muss, zeigen die Vorlagen: neben der Lutherbibel der griechische Text des Neuen Testaments nach der Edition des Erasmus von Rotterdam, der Text der „Vulgata“, der kirchenamtlichen, auf den hl. Hieronymus zurückgehenden lateinischen Version, auch noch das schwedische Neue Testament von 1526, und die Gustav-Wasa-Bibel von 1541.

Polen

Auch auf der anderen Seite der Ostsee nahm man im Königreich Polen die Wittenberger Lehren auf. Genauer gesagt waren das die deutsch geprägten Teile: in Pommerellen und im Kulmer Land, das die Berliner Hohenzollern, sobald sie es in die Hand bekamen, als „Westpreußen“ bezeichneten und das vorher „Polnisch-Preußen“ geheißen hatte. Ab 1524 begann in Danzig, Elbing und Thorn die evangelische Predigt. Der König von Polen als Landesherr hielt aber am Katholizismus fest, weshalb sich keine neuen kirchlichen Strukturen bilden durften. Sobald die neuen Lehren dazu führten, dass Volkes Wille nach der Einsetzung von Predigern des „reinen“ Evangeliums demokratische Weiterungen auch im weltlichen Bereich anstrebte, wie die Abschaffung der Ratsverfassung, schritt der König mit Waffengewalt ein (1526).

Baltikum

Im Baltikum, das dem Deutschen Orden zugehörte, also etwa in dem heutigen Lettland und Estland, verstand sich Albrecht, der doch aber Ostpreußen zu einem Herzogtum säkularisiert hatte, zu so einem Schritt nicht, da er sich gegen die Ritterschaft der Region und den Erzbischof von Riga nicht durchsetzen konnte. Aber in den Städten Riga, Reval (Tallinn) und Dorpat (Tartu) fasste die neue Richtung Fuß und wurde auch von manchen deutschstämmigen Gutsbesitzern auf dem Lande favorisiert. Man versuchte, die einheimischen Esten und Letten durch Übersetzung von Teilen der Bibel und anderer geistlicher Texte an Wittenberg heranzuführen, jedoch bis ca. 1550 mit geringem Erfolg. Die konfessionelle Zukunft der baltischen Region blieb zunächst offen.

Ungarn

Im Königreich Ungarn, das 1526 durch Erbgang etwa zu einem Drittel an des Kaisers Bruder Ferdinand fiel, in den anderen beiden Dritteln erst den Osmanen und dem mit diesen kollaborierenden Adel entrissen werden musste, erwies sich nicht nur das deutsche (etwa in Oberungarn – Slowakei), sondern auch das magyarische Element dem Protestantismus gegenüber als aufgeschlossen. Die katholische Hierarchie blieb aber bestehen – da konnte später die Gegenreformation ansetzen. König Ferdinand in seiner prekären Frontsituation gegenüber dem großen Feind der gesamten Christenheit blieb nichts anderes übrig, als hinzunehmen, dass sich die deutsch beherrschten Städte in Oberungarn, z. B. Kaschau (Košice), offiziell an der Augsburger Konfession von 1530 orientierten. Das Fürstentum Siebenbürgen bildete zwar einen staatsrechtlichen Bestandteil des Königreichs Ungarn, ging aber ab dem Osmanensturm bis zum Ende des 17. Jahrhunderts seine eigenen Wege. Es bildete sich dort zunächst (bis ab 1690 die siegreichen Habsburger zuschlugen) eine bemerkenswerte Toleranz zwischen Katholiken, Protestanten und Reformierten (den Anhängern von Zwinglis Erben Jean Calvin). Dabei blieben die Rumänen griechisch-orthodox, die einheimischen Ungarn (die „Szekler“) katholisch, und die deutschen Kolonisten, etwa in Hermannstadt (Sibiu) und Kronstadt (Braşov), wurden mit Vorliebe protestantisch. Das war auch eine Demonstration ihrer Autonomie gegenüber der ungarischen Krone und diente ihrer fortbestehenden kulturellen Verbindung mit Deutschland.

England

Im Königreich England fand die Reformation zunächst nicht im Geiste, sondern in der Staatsstruktur statt. Das hing mit dem Bedürfnis des sinnenfrohen Königs Heinrichs VIII. (1509 – 1547) zusammen, sich von seiner Gemahlin Katharina von Aragon zu trennen, die als Schwester Johannas „der Wahnsinnigen“ von Kastilien immerhin eine Tante Kaiser Karls V. war, um seine Mätresse Ann Boleyn zu heiraten. Als mildernder Umstand kam hinzu, dass Katharina erst eine Tochter geboren hatte und männlicher Nachwuchs zur Sicherung der Erbfolge in der Tudor-Dynastie nicht mehr zu erwarten war.

Also sollte Papst Clemens VII. des Königs Ehe nicht etwa „nur“ scheiden, sondern für von Anfang an nichtig erklären. Denn sie widersprach Leviticus (3. Buch Moses) 20,21: „Wenn jemand seines Bruders Weib nimmt, das ist eine schändliche Tat.“ Katharina war nämlich früher mit Heinrichs Bruder Arthur vermählt gewesen. Für Heinrichs Heirat mit ihr hatte Papst Julius II. einen Dispens erteilt, doch der König bestand darauf, dass dieser ungültig sei, weil ihm das klare biblische Verbot entgegen stand.

Clemens VII. konnte sich nicht dazu verstehen, den Dispens zu kassieren, da er, wie die Machtpolitik sich inzwischen entwickelt hatte, auf ein gutes Verhältnis zum Kaiser Wert legte. Er war dazu auch kirchenrechtlich und zum Schutze seiner geistlichen Autorität nicht bereit. Daher besann sich der König auf den auch in England grassierenden Anti-Klerikalismus, der viel mit den tadelwürdigen Angewohnheiten des geistlichen Standes zu tun hatte, und auf den kirchenkritischen Humanismus, für den das edle Vorbild des Erasmus von Rotterdam stand, sowie auf sein Parlament, das ihm zu Gebote stand.

Heinrich gründete mit der Suprematsakte von 1534 seine englische Nationalkirche, deren Oberhaupt er und nicht mehr der Papst war, und seine Kirchenfürsten, auch der Erzbischof von Canterbury als Primas im Lande, waren einverstanden.

Mit der Suprematsakte war keinerlei Änderung in der bischöflichen Hierarchie und in der Weihegewalt der Bischöfe verbunden, auch keine im Dogma oder in der gottesdienstlichen Ordnung. Es gab im Lande auch evangelische Stimmen „von unten“, doch Hierarchie und König verhinderten bis zu seinem Tode (Januar 1547), dass diese in der Öffentlichkeit Gewicht gewannen. Der hohe Klerus war mit Heinrichs Eigenmächtigkeit einverstanden, weil er damit eine Hilfe gewann gegen das Eindringen der neuen Lehren vom Kontinent.

Thomas Cromwell, Heinrichs Sekretär, schritt aber im protestantischen Sinne fort, indem er weitum die Klöster auflöste, deren Besitz an die Krone und an die regionalen Adligen fiel, wodurch die Zustimmung zu Heinrichs Religionspolitik zweifelsohne wuchs. Ebenso verfuhr man in Irland. Da die Großen der Insel am freigewordenen Kirchenbesitz beteiligt wurden, stellten sie ihr nationales Interesse hintan, das ansonsten eng verbunden war mit der Treue zur römischen Kirche. Dem König von Schottland, seinem Neffen, schlug Heinrich vor, ihm in seinem Emanzipationskurs zu folgen. Doch wegen der unüberwindbaren Gegnerschaft dies- und jenseits des Grenzflusses Tweed, die ein gutes schottisches Verhältnis zu Frankreich bedingte, wurde daraus nichts.

Die Ablehnung der königlichen Suprematie wurde dem Hochverrat gleichgesetzt. Heinrichs Lordkanzler Thomas Morus verweigerte, zusammen mit Bischof John Fisher von Rochester, 1534 die Eidesleistung auf die neue Sukzessionsakte, die die Kinder der Ann Boleyn für erbfolgeberechtigt erklärte, denn für den strikt katholischen Morus, der auch die Absage an den Papst missbilligte, war das Sakrament der Ehe (mit Katharina von Aragon) unverletzlich. Daher wurden er und Bischof Fisher 1535 hingerichtet; 1935 wurde er zusammen mit Fisher heilig gesprochen und zusammen mit diesem von Papst Johannes Paul II. im Jahre 2000 zum „Patron der Regierenden und Politiker“ erklärt. Im Amte hatte er an der Verurteilung und Verbrennung von Evangelischen mitgewirkt.

Das große Problem nach dem Tode Heinrichs VIII. war, dass die rein staats- und kirchenrechtliche Trennung von Rom eine künstliche Angelegenheit blieb, solange ihr nicht auch eine glaubensmäßige Trennung entsprach, für die auch im hohen Klerus schon Sympathien bestanden.

Frankreich

In Frankreich sah die Königsmacht keinen Anlass, in Glaubensstreitigkeiten mit Rom einzutreten, da das Konkordat von 1516 weitestgehenden Einfluss auf die Besetzung der nationalen Bischofsstühle einräumte und da Franz I. stolz darauf war, den Titel des „Allerchristlichsten“ führen zu dürfen, der den Königen von Frankreich ab Karl VII. (1422 – 1461) amtlich zustand. 1521 hatte die Pariser Sorbonne Luthers Schriften verurteilt. 1534/35 ließ Franz I. gegen die Un-Katholischen im Lande grausam wüten, eine Verfolgung, der auch die Reste der Waldenser in der Provence zum Opfer fielen.

Es gab also Anhänger Luthers oder zumindest Kritiker der aktuellen kirchlichen Zustände, ohne dass man zu jener Zeit in dogmatischen Festlegungen allzu präzise verfahren dürfte. Glaube an die Rechtfertigung sola fide, ein Standpunkt übrigens, den auch Leute verfochten, die sich nie und nimmer von der römischen Kirche trennen wollten, und die Lobpreisung der Bibel als der obersten Glaubensquelle genügten, um auf den Scheiterhaufen geschickt zu werden. Einer flächendeckenden Organisation der Kritiker stand entgegen, dass Frankreich schon damals ein recht zentralisiertes Staatswesen war, in dem weitgehend selbständige Landesfürsten wie der Kurfürst von Sachsen nicht existierten.

Aber dass in Frankreich ein neuer religiöser Geist im Entstehen war, der dem Königreich später in fataler Zuspitzung die verheerenden Hugenottenkriege einbrachte, das mag man beispielhaft an des François Rabelais phantasievollen und an lustiger Groteske überfließenden Romanen über die beiden Riesen Gargantua und Pantagruel ablesen, erschienen in den 1530-er Jahren, von der Sorbonne würdevoll verurteilt, aber die gerierte sich ja sowieso päpstlicher als der Papst. Nach Victor Hugo war Rabelais ein Arzt (das war er wirklich von Profession), der dem Papsttum den Puls fühlte. „Während Luther reformiert, höhnt Rabelais“, in seinem Werk wird „die Maske der Theokratie scharf von der Maske der Komödie betrachtet“. Rabelais hatte Kontakte zu Humanisten, die dem Kritizismus des Erasmus von Rotterdam nahestanden. Er macht sich lustig über Heiligenverehrung, Weihwasser, Reliquien, Wallfahrten, das Mönchswesen, das serienhafte Abhalten von Messen („gute Werke“!). Das Lesen in der Bibel wird ausdrücklich gelobt.

 

Jean Calvin

Zu einem Problem, das Frankreich in einen langen Zustand der Schwäche versetzte, wurde die Expansion des Calvinismus.

Jean Calvin, geboren 1509 in Noyon (Picardie), war Lizentiat der Rechtswissenschaften und hatte sich Theologie im Selbststudium angeeignet. Die Schule der Juristerei merkte man seiner Denkweise dann auch an, womit seine theologische Lehre aber keinesfalls disqualifiziert werden soll. Jedenfalls war sein Genius im Unterschied zu dem Luthers nicht eruptiv, sondern suchte nach Ordnung, System und durchsichtiger Klarheit.

Zuerst wandte er sich dem Bibelverständnis des Humanismus zu, bis er in seiner religiösen Unbedingtheit dies als „Nikodemitentum“ verwarf (Nikodemus war nach Johannes 3,1 – 2 ein Pharisäer, der sich nur des Nachts zu Jesus zu kommen getraute). Er begann, die Schriften Luthers zu lesen, berief sich dabei auf ein plötzliches Konversionserlebnis und gab, angeregt durch Luthers Katechismus, schon 1536 eine Institutio religionis christianae heraus. Mit den Reformatoren Martin Bucerius und Wolfgang Capito (Straßburg) sowie Heinrich Bullinger (dem Erben Zwinglis in Zürich) stand er in fruchtbarem Kontakt.

1536 kam er nach Genf, das gerade seinen Bischof vertrieben hatte, weil der sich als ein Statthalter des Herzogs von Savoyen verstand, und versuchte dort, zusammen mit Guillaume Farel, eine Gemeindeordnung in christlich-reformatorischem Sinne zu schaffen. Die Bürger wollten das aber nicht, sondern nur die Unabhängigkeit vom Herzog von Savoyen, und so musste er im April 1538 die Stadt wieder verlassen. Erst nach seiner Rückkehr im September 1541 (vorher hatte er als Gesandter Straßburgs am Religionsgespräch von Regensburg teilgenommen) bekam er die Stadt in die Hand, und zwar in seinem theokratischen Sinne.

Er fühlte sich bis zu seinem Tode 1564 ganz als Prophet und als Vollstrecker der Eingebungen Gottes zur „Wiederaufrichtung der zerfallenen Religion“, dabei definitiv nicht als der Begründer einer neuen konfessionellen Richtung. Wesentlich unterschied ihn von Luther, dass er bewusst in den politischen Raum eingriff. Jedermann, auch die Obrigkeit, war zum Gehorsam gegenüber Gottes Geboten verpflichtet, weshalb – wiederum im Unterschied zu Luther – gegen eine ungerechte Obrigkeit grundsätzlich ein Widerstandsrecht bestehe.

Das Gesetz, das wichtigste Mittel der Herrschaft im Frieden, „zeigt uns das Ziel, nach dem wir streben sollen, damit jeder gemäß der Gnade, die Gott ihm gegeben hat, sich unablässig bemüht, danach zu trachten und Tag für Tag weiter vorwärts zu kommen“, so im „Genfer Katechismus“ von 1542. Kirche und Obrigkeit haben zur Formung des Gottesstaates zusammenzuwirken. Gott war nicht nur der Herr des Glaubens und der religiösen Erhebung, sondern auch des Alltags und der Sitten der Menschen. Hier hatten Maß, Nüchternheit, Bescheidenheit zu herrschen – bis hin zu Regelungen, die unserer aktuellen Spaß- und Konsumgesellschaft als kleinliche Splitterrichterei vorkommen dürften.

Damit dem auch tatsächlich nachgelebt wurde, entstand eine denunzierende „Sittenpolizei“, die Bestrafungen aussprach, deren Vollzug der unermüdlich tätige Calvin persönlich überwachte. Er schaffte es, dass der Rat der Stadt seine geistlichen Verurteilungen brav exekutierte. Dabei schreckte Calvin auch nicht vor dem Scheiterhaufen zurück. Berühmt wurde die Verbrennung des Michel Servet am 27. Oktober 1553. Dieser hatte bestritten, dass die Dreifaltigkeit in Vater, Sohn und Heiligem Geist aus drei Personen bestehe. Es handele sich nur um drei Kräfte bzw. Wirkweisen der einen Person Gottes.

In der Lehre über das Abendmahl kam Calvin mit den Nachfolgern Zwinglis zu einem Einvernehmen („Consensus Tigurinus“ von 1549), nicht aber mit den Lutheranern. Denn Calvin verneinte die Realpräsenz Christi in Brot und Wein und sah in diesen nur ein äußeres Zeichen für das Wirken des Heiligen Geistes. Der Gläubige nahm Christus im Abendmahl auf übertragene, spirituelle Weise zu sich.

Am bekanntesten wurde der Calvinismus durch die Lehre von der Prädestination, „der ewigen Erwählung, kraft derer Gott die einen zum Heil, die anderen zum Verderben vorherbestimmt hat“. Auch: „Unter Vorherbestimmung verstehen wir Gottes ewige Anordnung, vermöge derer er bei sich beschloss, was nach seinem Willen aus jedem einzelnen Menschen werden sollte. Denn die Menschen werden nicht alle mit der gleichen Bestimmung erschaffen, sondern den einen wird das ewige Leben, den anderen die ewige Verdammnis zugeordnet.“ Gute Werke können einen Rückschluss zulassen. „Ist das Gewissen also gegründet, aufgerichtet und gestärkt, so dient ihm auch die Betrachtung der Werke zur Stärkung, weil sie nämlich Zeugnisse dafür sind, dass Gott in uns wohnt und regiert.“ Aber eine Garantie ist das niemals, und auch das Gewicht und die Anzahl der guten Werke geben keine Sicherheit der Erwähltheit, denn damit würden wir uns anmaßen, Gottes Willen zu kennen. Also wissen wir auch nicht, warum Gott seine Prädestination über die Menschen verhängt hat. „Der Apostel (Paulus, Anm. d. Verf.) bekennt, dass Gottes Gerichte so tief sind, dass aller Verstand der Menschen davon verschlungen wird, wenn er da hinein zu dringen versucht.“

Woher weiß Calvin aber beim Prinzip der Prädestination so genau Bescheid? Hier müssten wir bis auf die Auffassung des heiligen Augustinus von dem durch die Erbsünde aufs Schwerste geschädigten Menschen zurückgehen, mit unendlichen Differenzierungen hierzu in den Diskussionen bis zur Zeit Calvins. Beschränken wir uns besser auf den aktuellen Stand, der durch die reformiert (calvinistisch)-lutherische Leuenberger Konkordie von 1973 gegeben ist: „Im Evangelium wird die bedingungslose Annahme des sündigen Menschen durch Gott verheißen […]. Der Glaube macht zwar die Erfahrung, dass die Heilsbotschaft zwar nicht von allen angenommen wird, er achtet jedoch das Geheimnis von Gottes Wirken. Er bezeugt zugleich den Ernst menschlicher Entscheidung wie die Realität des universalen Heilswillens Gottes. Das Christuszeugnis der Schrift verwehrt uns, einen ewigen Ratschluss Gottes zur definitiven Verwerfung gewisser Personen oder eines Volkes anzunehmen.“

Noch ein Unterschied zu Luther: Für Calvin war der Genfer Gottesstaat nur Ausgangspunkt zu möglichst umfassender Missionierung – das war eine Parallele zum Dynamismus der Jesuiten (siehe folgendes Kapitel). Die französischen Hugenotten beriefen sich auf ihren Lehrmeister, wenn sie kämpferisch die Autorität ihres Königs infrage stellten, woraus alle Gräuel des einheimischen Bürgerkriegs folgten, von beiden Seiten: Schauerliche Berühmtheit hat der Massenmord an den Hugenotten vom 24. August 1572 („Bartholomäusnacht“) gefunden. Erst der Übertritt des calvinistischen Königs Heinrich IV. zum Katholizismus (1593) sowie das Toleranzedikt von Nantes (1598) haben Frankreich wieder zur Ruhe gebracht – bis Ludwig XIV. durch das Edikt von Fontainebleau (1685) das von Nantes widerrief und dadurch eine Menge seiner qualifizierten Untertanen in die Verbannung trieb.

Die Bezeichnung „Hugenotten“ übrigens mag aus der französischen Verballhornung „eygenot“ von dem Wort „Eidgenossen“ herkommen, nach den Genfer Bürgern, den späteren Gottesstaatlern Calvins, die sich gegen die Pressionen des Herzogs von Savoyen an die Eidgenossen um Hilfe wandten.

In den habsburgischen Niederlanden verdrängte der besser organisierte Calvinismus das Luthertum und wurde zum Panier der nördlichen Provinzen in ihrem Unabhängigkeitskampf gegen Spanien, von Erfolg gekrönt im unmittelbaren Vorfeld des deutschen Westfälischen Friedens (1648). Calvin, der mehr Politiker war als Luther, korrespondierte zielbewusst mit religiösen Dissidenten in Polen, Ungarn und Siebenbürgen.

In Schottland hatte John Knox, mehr Agitator als reflektierender Theologe, ein Anhänger Calvins, ab den späten 1550-er Jahren den für ihn legitimen Widerstand gegen die katholische Obrigkeit angefacht, u. a. gegen die entschieden katholische Königin Maria aus dem Hause Stuart, an deren Absetzung (1567) er mitwirkte. Sein Nachfolger Andrew Melville, der 1574 aus Genf zurückkam, etablierte die presbyterianische Kirchenordnung: die Leitung der Kirche durch Gremien von „Ältesten“ (griechisch: Presbytern) und Pastoren, die Selbstverwaltung mit Hierarchien, die aus der Gemeinde heraus entstanden.

In England hatten die Calvinisten gegen das von Heinrich VIII. eingerichtete Staatskirchentum zu kämpfen, das für sie nichts anderes als eine abgewandelte Form von Papismus war. „Puritaner“ hießen sie ab den frühen Jahren von Königin Elisabeth I. (1558 – 1603), weil sie eine „reine“ Kirche forderten, mit dem Akzent auf der Befolgung des Ursprungs der Bibel, ganz nach ihrem Lehrmeister Calvin. Sie wurden ab 1603 von den katholischen Stuart-Königen erst recht drangsaliert, hießen dann „Dissenters“, und eine Gruppe von ihnen segelte, um ihren Glauben leben zu können, auf der legendären „Mayflower“ in die britischen Kolonien Nordamerikas (1620). So eröffnete sich dem Puritanismus-Calvinismus eine Weite, die ihn zur effizientesten aller reformatorischen Bewegungen machte.

Doch zurück auf den Kontinent. Weder Franz I. noch Heinrich VIII. ließen sich durch ihre katholischen Qualitäten davon abhalten, mit den deutschen Protestanten des Schmalkaldischen Bundes Verhandlungen zu führen, und auch deren lutherische Glaubensfestigkeit stand dem nicht entgegen. Solche außenpolitischen Querverbindungen waren ein Anzeichen für den historischen Prozess, dass das Auseinanderbrechen der lateinischen Christenheit insgesamt die Säkularisierung des öffentlichen Lebens begünstigte. Es zählte die Machtpolitik, und das dieser nahe neuzeitliche Monster, die Staatsräson.

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