Was Luther angerichtet hat

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Reichstag zu Worms 1521

Der Reichstag zu Worms 1521 war ein Musterbeispiel dafür, wie sich damals im Reich Politik und Religion gegenseitig konditionierten. Karl hatte ein gewisses Interesse daran, die von Luther ausgehende Bewegung, die bereits begonnen hatte, Massencharakter anzunehmen, nicht von vornherein zu verdammen. Nach dem Vorbild kaiserlicher Ketzergesetzgebung, die auf Friedrich II. von Hohenstaufen zurückging, hätte er eigentlich die Wittenberger Neuerer nach erfolgter päpstlicher Exkommunikation dem Scheiterhaufen übergeben oder ihnen ihre blasphemische Zunge herausreißen lassen, zumindest die Reichsacht aussprechen müssen. Es war keine Frage, dass er sich als Verteidiger der Kirche fühlte und das ganze Wittenberger Wesen verabscheute – weniger aus theologischen Gründen, von denen er nichts verstand, als infolge seines herrschaftlichen Auftrages zur Wahrung der Einheit der Glaubensgemeinschaft.

Aber Kurfürst Friedrich stellte ihm vor Augen, dass dieser Luther zuerst einmal angehört werden müsse. Er dürfte ihm gesagt haben, hier sei § 22 seiner Wahlkapitulation von 1519 einschlägig, eines Instruments, mit dem die Kurfürsten versucht hatten, dem von ihnen gewählten Kandidaten die ihnen genehmen Beschränkungen für sein Handeln im Reich aufzuerlegen: „Wir sollen […] keins wegs gestatten, daß nu hinfüro jemants hoch oder nider Stands, Churfürst, Fürst oder ander on Ursach, auch unverhort in Acht und Aberacht gethan […] werde […].“ Karl brauchte aber Friedrich den Weisen, da er ihm als besondere Vertrauensfigur für die Einrichtung eines aus deutschen Autoritäten bestehenden „Reichsregiments“ galt, das gemäß der Wahlkapitulation von 1519 zu bestellen war. Denn Karl musste bald nach Spanien zurückeilen, und das auf zunächst unbestimmte Zeit.

Des Kurfürsten Stellungnahme für Luther akzeptierte Karl auch deshalb, weil er damit den Papst unter Druck zu setzen gedachte. Der nämlich hatte in dem sich abzeichnenden Konflikt Karls mit dem französischen König Franz I. über den Besitz von Mailand und die Vorherrschaft in Italien Sympathien für Frankreich gezeigt. Denn wie Frankreich sich ringsum bedroht fühlte, so auch der Papst in seinem Kirchenstaat in der Mitte Italiens, sobald die Kaiserlichen im Norden Mailand und im Süden Neapel kontrollierten. Zudem war Luther in Deutschland inzwischen so populär geworden, dass die Stimmen nicht fehlten, die dem Kaiser einen Bürgerkrieg an die Wand malten, wenn er gegen Luther scharf vorginge.

Karl versprach Luther also freies Geleit, wenn er nach Worms komme, ausgedehnt auf drei Wochen nach seiner Abreise, und kam auch nicht in die Verlegenheit, es brechen zu müssen oder es fürstlichen Heißspornen aufzuopfern, obwohl er am Ende des Reichstags dann doch die Reichsacht über ihn aussprach. Er hatte eine Menge anderer Sorgen in Italien und Spanien, worunter anschließend der Nachdruck, den er auf die Vollstreckung der Reichsacht legte, sehr litt. Mit der Reichsacht hatte er dem Papst eine Konzession gemacht und ihn auf seine Seite gegen Frankreich geschoben. Das kostete ihn aber bekanntlich nichts, da Kurfürst Friedrich Luther bei dessen Rückreise aus Worms auf die sichere Wartburg entführen ließ.

Es kam für Luther nur zu einer Anhörung. Man fragte ihn, ob er diese und jene Schriften verfasst habe und ob er noch zu den darin enthaltenen Auffassungen stehe. Luther erklärte, er könne nur das widerrufen, was man ihm als im Gegensatz zur Heiligen Schrift behauptet nachweisen würde. Dabei soll er abschließend gesagt haben: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen.“ Es war eine der Charakterleistungen, mit denen er sich als wichtigste Figur des religiösen Umbruchs etablierte, sozusagen eine historisch fruchtbare Sturheit.

Am Tag nach Luthers Anhörung, dem 19. April 1521, verlas Karl vor den Fürsten eine von ihm selbst verfasste Erklärung. Darin sprach er von der ihn verpflichtenden Kraft der kaiserlichen Tradition. Man müsse der Tradition auch in Sachen des Glaubens folgen „und besonders dem, was angeordnet wurde durch meine besagten Vorfahren, sowohl auf dem Konzil von Konstanz als auch auf anderen“. Karl nahm für sich, für die weltliche Gewalt, in Anspruch, auch in geistlichen Dingen mitzureden, da er diese Materie seinem übergreifenden kaiserlichen Ordnungsauftrag unterwarf. Indem er als Kaiser religiöse Fragen nicht der Kirche überließ, sondern seiner Politik zu unterwerfen versuchte, trug auch er in großem historischem Zusammenhang zu dem Säkularisierungs-Schub der Neuzeit bei, der gerade aus der nun beginnenden Spaltung der Christenheit heraus entstand.

Der erstaunliche Nuntius

Um die Jahreswende 1522/23 fand in Nürnberg ein Reichstag statt. Auf dem sprach Francesco Chieregati, der Nuntius des als Nachfolger Leos X. gewählten Papstes Hadrian VI., vor den Fürsten eindringliche Worte. Weniger erstaunlich war, dass er die Vollziehung der Acht gegen Luther nachdrücklich einforderte, mit der Rhetorik, die dem Entsetzen vor der drohenden Spaltung der Christenheit entsprach. Diese Lutheraner wollten die weltliche Autorität zerstören, nachdem sie die geistliche zerstört hatten.

Aber, und das war aufsehenerregend, und entsprang dem unerhörten Eifer Hadrians VI.: Die aktuelle Verwirrung entspringe hauptsächlich den Sünden der Priester und Prälaten. Beim Heiligen Stuhl seien schlimme Missstände eingerissen, und so sei die Krankheit vom Haupte zu den Gliedern herabgestiegen. Dagegen wolle der Papst mit allen Mitteln ankämpfen, damit der römische Hof sich reformiere, was er desto eher tun würde, als er sehe, dass alle Welt dies so eifrig ersehne.

Die Antwort der Fürsten zeigte, dass zwischen ihnen und der Kurie kein Vertrauen bestand. Hatte der Nuntius gedacht, mit dem Versprechen auf kuriale Besserung dem Kampf gegen die beginnende Reformation Nachdruck verleihen zu können, denn damit würden die verlorenen deutschen Schafe wieder in die päpstliche Herde zurückgeführt, so drehten die Fürsten den Spieß um: Wenn die römische Verderbnis zugegeben werde, dann könne man ja wohl nicht diejenigen verfolgen, die den Finger darauf gelegt hätten. Zu einer Verpflichtung, die Reichsacht nun endlich auszuführen, kam es also nicht.

Der folgende weitere Nürnberger Reichstag von 1524 befand auch nur, die Reichsacht sei zu vollstrecken, „soweit möglich“. Gleichzeitig erhob er die schon länger vorhandene Forderung, ein Konzil einzuberufen, durch den Papst mit kaiserlicher Bewilligung, und zwar in Deutschland.

Ein Konzil, das war für den neuen Papst Clemens VII. (1523 – 1534) geradezu die Pest. Die Deutschen verlangten dabei auch die Teilnahme von Laien, wie es in Konstanz 1414 und in Basel 1431 gewesen war. Dazu noch die Wahrscheinlichkeit, dass sie auf dem Konzil reformatorische Standpunkte geltend machten!

Der Kaiser im fernen Spanien untersagte es aufs Schärfste. Er hatte sich nicht zu einem „Reichsregiment“ für seine Abwesenheit herbeigelassen, damit dieses ihm seine wesentliche Aufgabe entwand, die Einheit der Christenheit zu wahren. Der Vorschlag zeugte aber immerhin von nationalem Selbstbewusstsein, wie es bei den Tschechen im Unterschied dazu erst nach der Einberufung des Konzils von Konstanz an Kraft gewonnen hatte. Karl V. war seinerseits nicht in der Lage, dem Papst ein Konzil aufzuzwingen, da er im Krieg mit Frankreich befangen war. Ob damit eine Chance vertan wurde, die drohende Kirchenspaltung in den Griff zu bekommen, muss der Spekulation überlassen werden.

Hinter diesen Gefechten in der hohen Politik stand die Dynamik einer anscheinend unaufhaltbaren religiösen Bewegung, die natürlicherweise auf die Politik zurückwirkte. War die Autorität der Kirche infrage gestellt, dann stand auch die weltliche Ordnung, angesichts der herkömmlichen Verzahnung beider, zur Disposition. Nuntius Chieregati hatte recht gehabt. Es dient zur Erklärung der Durchschlagskraft der lutherischen Bewegung, dass ihre Opposition gegen eine der beiden etablierten Mächte, die Kirche, auch das Kaisertum, obwohl Luther denkbar weit davon entfernt war, es infrage zu stellen, neue Herausforderungen stellte. Karl V. hat sich dieser deutschen Thematik zu Beginn der Reformation überhaupt nicht ernsthaft angenommen; doch so fraglos monarchisch waren damals die Zeiten, dass ihn das keinesfalls das Amt kostete.

Hutten und Sickingen

In der deutschen Öffentlichkeit hatte seit dem hohen Mittelalter schon immer ein anti-römischer Affekt gewirkt, der nun auch publizistischen Widerhall fand. Da war der fränkische Adlige und Literat Ulrich von Hutten, der humanistische Studien betrieb, den Kaiser Maximilian I. zum poeta laureatus beförderte und dessen wortgewaltiger und gedruckter Widerwille gegen die römische Kirche sich zu nationaler Eindringlichkeit steigerte.

Hutten war froh, in dem Reichsritter Franz von Sickingen einen Gesinnungsgenossen zu finden. Der war zwar ein Feldhauptmann des Kaisers, hatte Luther aber nach dessen Auftritt in Worms zu sich auf seine Ebernburg (bei Bad Kreuznach) eingeladen, um ihn vor allfälliger Gefangennahme zu bewahren. Luther hatte gut daran getan, diese Einladung abzulehnen und sich stattdessen von den Leuten seines Kurfürsten Friedrich entführen zu lassen. Denn Franz von Sickingen gehörte zu dem vielfach frustrierten Stand der Reichsritter: Herren mit geringem Grundbesitz auf ihren Burgen, die sich der Vereinnahmung durch die Staatsgewalt der nachbarlichen Fürsten schlecht und recht erwehrten.

Der Ritterstand sympathisierte nur wenig mit der Reformation. Sickingen aber nahm sie sehr ernst, weshalb Ulrich von Hutten dessen Ebernburg als „Herberge der Gerechtigkeit“ besang. Leopold von Ranke steigert an dieser Stelle seine auch sonst erlesene Prosa: „In der Tat, es wäre kein schlechter Bund gewesen, wenn der Mönch, den die Nation wie einen Propheten verehrte, seinen Wohnsitz bei dem gewaltigen Rittersmann genommen und ihn mit der Macht seines Wortes unterstützt hätte.“ Doch dann: „Aber Luther hatte den großen Sinn, sich von allen politischen Verbindungen fernzuhalten, keine Gewalt versuchen, einzig der Macht der Lehre vertrauen zu wollen.“

 

Franz von Sickingen scheiterte schnell. Er tat sich mit einem nicht unerheblichen Teil der Reichsritterschaft zusammen und begann, Trier zu belagern, die Residenz des von ihm gehassten „Pfaffen“, des dortigen geistlichen Kurfürsten. Die ritterliche Hilfe kam nicht, Sickingen musste sich auf seine Burg Nanstein zurückziehen, wurde von dem belagernden Fürstenheer zusammengeschossen und kam selbst um (7. Mai 1523).

Der leidige Bauernkrieg

Es war bedrohlich für die reformatorische Bewegung, dass sich politische und soziale Strömungen auf sie beriefen und damit Luthers Wort von der inneren Freiheit eines Christenmenschen auf die öffentliche Sphäre übertrugen, damit reine Lehre und politische Ordnung zur Übereinstimmung gelangten. Viel elementarer als bei Sickingen machte sich diese Tendenz im großen deutschen Bauernkrieg (1524/25) geltend, der den „gemeinen Mann“, worunter überwiegend die zu den Waffen greifenden Bauern zu verstehen waren, besonders in Schwaben, im Elsass, in Franken und in Thüringen zur Bildung von großen Heerhaufen hinriss.

Im März 1525 kamen in der kleinen Reichsstadt Memmingen, derer sich die Bauern bemächtigt hatten, die „Zwölf Artikel“ heraus, die die bäuerlichen Forderungen übersichtlich bündelten. Der antiklerikale Effekt trat auch hier hervor, da die Bauern neben ihren weltlichen fast noch mehr ihre geistlichen Herren aufforderten, ihnen ihre „alten Rechte“ zurückzugeben, die durch feudale Bedrückung beschnitten worden waren (was schon unter Kaiser Maximilian I. zu regional begrenzten Unruhen geführt hatte). Da hieß es zum Beispiel, dass es „unbrüderlich“ sei „und dem Wort Gottes nicht gemäß, dass der arme Mann nicht Gewalt hat, Wildbret, Geflügel und Fische zu fangen“. Auch: Rückgabe der Wälder an die ursprünglichen Besitzer, die Gemeinden, zur Versorgung mit Bau- und Brennholz, die Frondienste reduzieren „allein nach dem Laut des Wortes Gottes“, die Pachtgebühren verringern, und was an Beschwerden im bäuerlichen Alltag noch sein mochten.

Neu war, dass man sich zur Schaffung neuer Gerechtigkeit ausdrücklich auf das Wort Gottes berief, als auf das ewige Gesetz, das auch in den irdischen Angelegenheiten gelten sollte. Die Anrufung dieser Autorität wäre wohl ohne das Bestehen Luthers auf der Heiligen Schrift als oberster Verbindlichkeit nicht möglich gewesen. So wurde die Abschaffung der Leibeigenschaft gefordert, die „zu Erbarmen“ sei, „angesehen dass uns Christus alle mit seinem kostbarlichen Blutvergießen erlöst und erkauft hat, den Hirten gleich wie den Höchsten, keinen ausgenommen. Darum erfindet sich mit der Schrift, dass wir frei sind und sein wollen.“ Die Gemeinden sollen das Recht haben, ihren Pfarrer frei zu wählen. „Der Pfarrer soll das Evangelium lauter und klar ohne allen menschlichen Zusatz predigen, da in der Schrift steht, dass wir allein durch den wahren Glauben zu Gott kommen können.“

Die oben auszugsweise wiedergegebenen Forderungen waren revolutionär nicht ihres Inhaltes wegen, sondern wegen ihrer Legitimierung durch die Heilige Schrift, wie die Bauern sie eben verstanden. Den Rekurs auf das göttliche Recht hatten schon Wiclif und die Hussiten vertreten. Das verletzte „alte Recht“ war nicht etwa wiederherzustellen, sondern eine neue, die „göttliche“ Gerechtigkeit sollte etabliert werden. Brüderliche Liebe und der „gemeine christliche Nutzen“ waren der Leitstern einer besseren Gesellschaftsordnung, die die Vordenker der bäuerlichen Bewegung anstrebten und die man in ihren Einzelheiten nicht mehr recht aus dem Evangelium herleiten konnte.

Mit der Forderung nach gewählten, redlichen Predigern ging die nach Abschaffung der Klöster und Stifte einher, der Adel sollte seine Privilegien verlieren, wenn auch Grundeigentümer bleiben. In Tirol und Salzburg, wo ebenfalls Unruhen ausgebrochen waren, sollten die Herrschaftsrechte des Adels auf den Erzbischof übergehen, doch war gleichzeitig den Gemeinden und auch den Städten eine kräftige kommunale Autonomie zu gewähren. Es machten auch Vorstellungen die Runde, dass in größeren Territorien ein landständisches Regiment an die Seite des Fürsten treten oder diesen sogar einsetzen sollte, wie im Bistum Bamberg und im Herzogtum Württemberg – eine verfassungsmäßige Aufwertung und Absicherung des „gemeinen Mannes“ also.

Die „Christliche Vereinigung“ in Oberschwaben gab sich eine Bundesordnung, eine Eidesformel und eine Predigt- und Landesverordnung – Staatsaufbau von unten anstatt, wie herkömmlich, von oben, und die geistlichen Fürsten hätten in diesem keinen Platz mehr haben dürfen. Sonstige Obrigkeiten wurden durchaus respektiert. Denn die Obrigkeit war nach dem Römerbrief des Paulus (13,1) durchaus hinzunehmen, sofern sie sich – dies die aktuelle Auffassung anno 1525 – zur göttlichen Gerechtigkeit gemäß der Heiligen Schrift bekannte. Tat sie das nicht, konnte eine Pflicht zum Widerstand gegen sie entstehen, gemäß dem üblichen biblischen Gegenzitat zu dem Römerbrief, das aus Apostelgeschichte 5,29 zu entnehmen war: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ Damit wurden die Pforten zu einer veritablen Revolution sichtbar. Der Kaiser sollte der Oberherr bleiben, aber im dergestalt fortbestehenden Heiligen Römischen Reich waren dem „gemeinen Mann“ feste konstitutionelle Rechte einzuräumen. Solche Überlegungen, die ebenso wenig wie die Memminger Zwölf Artikel zum allgemein verbindlichen Gut der gesamten Bewegung wurden, waren nicht schlechthin utopisch. Aber sie gingen unter im kurzen Krieg der miserabel ausgerüsteten Bauernhaufen gegen die professionellen Landsknechtstruppen der Status-quo-Mächte, der Fürsten, Bischöfe und der Reichsstädte. Zu Aberzehntausenden wurden die Bauern abgeschlachtet, im September 1525 war Schluss. In den Bistümern Würzburg und Bamberg nutzten die Sieger die Gelegenheit, um auch Anhänger Luthers hinzurichten, die mit dem Bauernaufstand nachweisbar nichts zu tun gehabt hatten. In Schwaben und Franken wurden vierzig evangelische Prediger aufgehängt.

Luther hatte die Zwölf Artikel abgelehnt, weil da soziale Forderungen, wie legitim auch immer an sich, als Glaubensartikel daherkamen. Das Gericht über frevelhafte Obrigkeiten sei Sache Gottes, nicht der Menschen. Darin war sich Luther mit der Mehrheit der evangelischen Theologen einig. Von altgläubiger und Status-quo-Seite wurde der Vorwurf erhoben, Luther und die Seinen hätten die Bauern aufgehetzt. Der große Humanist Erasmus von Rotterdam war subtiler, aber ebenso verdammend: Der Bauernkrieg sei die logische Folge von Luthers Bewegung. Erzherzog Ferdinand, des Kaisers Bruder und späterer Nachfolger, der dessen Geschäfte in Deutschland besorgte, sprach vom Bauernkrieg schlicht als von der „lutherischen Sache“.

Das veranlasste Luther zur Selbstverteidigung in der Form des Angriffs, zu seiner scharfen Schrift vom Mai 1525: „Auch Widder die reubrischen und mördischen rotten der andern bawren.“ Er ließ seinem starken polemischen Temperament die Zügel schießen: „Steche, schlage, würge hier, wer kann!“ Hinter solcher Ausfälligkeit stand jedoch seine Absicht der geistigen Erneuerung der Religion, die durch politische Radikalisierung nur verlieren konnte.

Sein klassischer Gegenspieler in dieser Auffassung war der Prediger Thomas Müntzer aus Stolberg im Harz, weshalb beide sich in gegenseitigen Schmähreden nichts schuldig blieben. Müntzer ging vom nahenden Ende der Welt aus. Das tat auch Luther, nach Paulus, 1. Thessalonicherbrief 5,2 – 3: „Denn ihr selbst wisset gewiss, dass der Tag des Herrn wird kommen wie ein Dieb in der Nacht.“ Aber er reagierte auf diese Ungewissheit mit Ergebung: „Wenn ich wüsste, dass morgen der Jüngste Tag wäre, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen“, soll er gesagt haben. Er hat ja auch im Juni 1525 geheiratet, als die Massakrierung der Bauern, deren Krieg man nach damaliger Mentalität als Vorboten des Jüngsten Gerichts auffassen konnte, immer noch andauerte, und damit ein Zeichen gesetzt, auch in apokalyptisch sozusagen verdächtiger Zeit menschliche Demut angesichts des Unerforschlichen zu üben.

Thomas Müntzer lebte jedoch in dem Glauben, die Menschheit auf das kurz bevorstehende Jüngste Gericht besonders vorbereiten zu müssen. Der Antichrist herrschte, die im Pfuhl der Sünde versunkene Obrigkeit, so Müntzer. Die Herrschaft des Antichristen war nach mittelalterlichen Vorstellungen, die Müntzer teilte, der Vorbote des Jüngsten Tages. Also mussten die Auserwählten Gottes sich vereinigen, um dem Weltenrichter geordnet gegenüberzutreten. Der nur äußerliche Kult der Altgläubigen war dazu ebenso untauglich wie die lutherische Bewegung, denn die klammerte sich an die Worthülsen von Bibel und Predigt.

Wenn die Obrigkeit, was sie Müntzer gegenüber in der Gestalt des Herzogs Georg von Sachsen ablehnte, am Ziele der Sammlung der Auserwählten, der die Ausrottung der Gottlosen parallel zu laufen hatte, nicht mitwirken wollte, war sie ihrerseits auszurotten. Für Müntzer waren die Thüringer Bauernhaufen die berufenen Werkzeuge Gottes, um die uneinsichtige Obrigkeit rechtzeitig vor dem Weltenende über die Klinge springen zu lassen. Eine schärfere weltliche Instrumentalisierung von Religion zur Gewinnung des apokalyptisch verstandenen Heils lässt sich nicht denken. Müntzer hetzte die militärisch unbedarften Bauern geradezu in den Tod gegen das Heer der Fürsten (Schlacht von Frankenhausen, 15. Mai 1525), weil er in seinem spiritualistisch hochgepeitschten Predigen die Beziehung zur Realität verloren hatte. Das war ein schlimmeres Vergehen als Luthers Invektive gegen die aufrührerischen Bauern.

Luther und die Obrigkeit

Das Schauerdrama des Bauernkriegs gibt Anlass, Luthers Verhältnis zur Obrigkeit vor dem Hintergrund seiner religiösen Überzeugungen, aber auch des Bedürfnisses, seiner Bewegung einen dauerhaften Halt zu geben, eingehender zu erörtern. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Es blieb ihm, politisch gesehen, nichts anderes übrig, als sich auf die reale Fürstenmacht im Reich zu stützen, nachdem ausschließlich der sächsische Kurfürst ihn vor dem Ketzertod bewahrt hatte. Um die Territorialfürsten kam in Deutschland noch bis 1918 niemand herum. Den Kaiser konnte Luther nicht als Schutzherrn nehmen, denn der musste in seiner Altgläubigkeit verharren.

Die Problematik dabei ist, dass Luther wegen seiner Haltung als „Fürstenknecht“ abgestempelt wurde, als ein bleierner Konservativer, wenn nicht gar Reaktionär – als ob er um 1525 schon an die Französische Revolution und an die moderne Demokratie hätte denken können! Hätte Luther sich verschwärmt wie Thomas Müntzer oder andere Anarchoide aus seiner Gefolgschaft, die er im März 1522 in Wittenberg dämpfen musste, z. B. seinen Anhänger Andreas Karlstadt, dann wäre seine Bewegung eine Episode geblieben wie einst diejenige der aggressiven Hussiten.

1523 brachte Luther die Schrift „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“ heraus. Die Fürsten kommen, unter dem Zeichen der Gerechtigkeit betrachtet, dabei denkbar schlecht weg. Dann entwickelt der Autor das, was seine Zwei-Reiche-Lehre genannt wird und was aus der „Freiheit eines Christenmenschen“ heraus entwickelt ist, sowie aus des heiligen Augustinus, des Ordenspatrons Luthers, Schema von civitas terrena, civitas Dei und der Schnittmenge beider auf Erden, der civitas permixta. Die wahrhaft Gläubigen gehören zum Reich Gottes, die des weltlichen „Schwertes“ als einer disziplinierenden Zwangsgewalt nicht bedürfen, weil sie ohnehin das Gute tun. Das Reich Gottes besteht aber auf Erden nicht, sondern es besteht aus Menschen, die zum Bösen geneigt sind, die daher „unter das Schwert geworfen“ sind. Das Reich Gottes und das der Welt sind einander zugeordnet, wobei die Welt nicht nach dem Evangelium regiert werden kann, dieses aber den Auftrag des weltlichen Reiches (oder Regiments) bestimmt und auch begrenzt. Indem das weltliche Regiment für Ruhe und Ordnung sorgt, schafft es auch die Bedingungen zur Verkündigung des Evangeliums. Das gemahnt an den alten Gedanken, Gott habe die Bildung des weltumspannenden Römischen Reiches gefördert, damit in diesem Einheitsraum die christliche Botschaft für alle Erdenbewohner desto besser Fuß fassen konnte.

Luther geht von einer Trennung des weltlichen und des religiösen Bereichs aus, bei Inpflichtnahme des weltlichen. Daher hat Luther sich die Freiheit genommen, seinen zeitgenössischen Fürsten auch mal ins Gewissen zu reden, und die evangelische Amtskirche tut das der aktuellen „Obrigkeit“ gegenüber mitunter noch heute.

 

Der Vorwurf, die Zwei-Reiche-Lehre diene der Abkoppelung der Politik von der Moral, tut also den Intentionen ihres Urhebers Unrecht an. Sofern aber die evangelischen Amtskirchen sich nach Luther in der Praxis als obrigkeitshörig gezeigt haben, wird behauptet, dieser habe schließlich den Weg dazu gewiesen. Denn auf der einen Seite stand die sich immer mehr konsolidierende Macht des neuzeitlichen Staates, der seine Zwecke autonom setzte, und zwar recht weit über das quasi nur defensive „Schwert“ gegen die der Erbsünde entsprossene Bosheit seiner Untertanen hinaus – und auf der anderen Seite nur der wohlmeinende Pastor auf der Kanzel. So mussten Luthers Vermahnungen an die Obrigkeit der unvorhersehbaren Machtsteigerung dieser Obrigkeit gegenüber einen schweren Stand haben. Wer daraus herauskonstruiert, dass Luther am Beginn der typisch deutschen Untertanen-Mentalität stehe, die schließlich im „Dritten Reich“ ihre schlimmste Konsequenz gefunden habe (willkürliche historische Zwischenglieder: Friedrich II. und Bismarck), der ideologisiert. Er vergewaltigt schlicht und einfach die Wirklichkeit, treibt Agitation. Denn der Kausalitäten in der deutschen Geschichte, die sich zwischen Luther und Hitler zusätzlich einschieben, sind so viele und so gewichtige, dass deren bruchlose Verknüpfung auf nichts als auf einen Denkfehler hinausläuft.

Luther hat keine Soziallehre ins Auge gefasst, sonst hätte ihn die Thematik des Bauernkrieges nach 1525 zu weiteren Reflexionen angeregt; er lebte eben in einer Ständegesellschaft, die noch Jahrhunderte von der Idee des Sozialstaates entfernt war. Es ist sinnlos, ihm das Fehlen eines Bewusstseins vorzuwerfen, das er unmöglich haben konnte. Die Vergangenheit ist nicht bloß der Misthaufen, der zur Düngung zeitgenössischer Vortrefflichkeit aufgeschüttet worden ist.

Luther ist auch vorgeworfen worden, er glaube, dass seine subjektive Auffassung von religiösen Dingen zutreffender sei als all die Weisheit, die die Kirche in mehr als einem Jahrtausend angesammelt hatte. Außerdem: War es nicht eine Illusion, zu glauben, das Wort Gottes in der Bibel bedürfe keiner weiteren Interpretation, eine Vorstellung, die hinter den zeitgenössischen Forderungen zu stehen scheint, wenn dort von der „lauteren“ und „klaren“ Verkündigung „ohne menschlichen Zusatz“ die Rede ist? Die Juristen wussten damals schon lange, dass so gut wie jeder Gesetzestext eines Kommentars bedarf. Die Evangelischen würden nicht lange ohne das Element auskommen, das sie bei den Altgläubigen als „Tradition“ ablehnten.