Die bewusst herbeigeführte Naivität

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Irgendwie spielten da bei Götz anscheinend auch andere, nicht greifbare Motive mit. Ich hatte zudem auch nicht das Gefühl, dass es da eine wirkliche Beziehung mit seiner Freundin gegeben hat, denn alles, was er mir erzählte, klang immer eher nach Bruder und Schwester.

Heute sehe ich allerdings noch etwas ganz anderes, was mir vorher keinesfalls klar gewesen ist: Anscheinend war Götz schon von jeher von der Furcht besessen, in irgendwelchen Fällen regresspflichtig werden zu können. Heute überlege ich mir deshalb, ob er vielleicht bereits damals die Grundlage für ein Szenario gelegt hat, das sich erst jetzt gerade zu realisieren beginnt?

Hat er also bewusst sein Geld bei jemand anderem weggeschlossen, damit dann, wenn er einmal durchdreht, bei ihm nichts zu holen ist? Und weil er sich dadurch völlig ungeniert gehen lassen kann, wenn er in dieser Hinsicht nichts mehr zu verlieren hat?

*

Als ich über Wilhelm Hankels aktuellen Vorschlag zur Eurorettung in Form eines Parallelwährungssystems lese, maile ich meinen alten Studienfreund Hanno an, der Hankel ebenfalls kennt, und frage ihn, was er denn davon hält.

Seine Antwort erstaunt mich nicht nur sehr, sondern tritt bei mir regelrecht eine Lawine los. Sie lautet: „Zu Hankel fällt mir irgendwie nichts ein. Wer will denn den Euro abschaffen?“ Anscheinend hat die Einschlaftaktik der Kanzlerin mittlerweile sogar im akademischen Milieu gefruchtet. Denn Hanno ist ein promovierter Wirtschaftswissenschaftler und kennt sich extrem gut in ökonomischer Theorie aus. Und wenn jetzt sogar solche Leute weder Kritik noch Alternativvorschläge mehr mitbekommen, was soll denn dann werden?

Ich antworte: „Wer den Euro abschaffen will? Liest du keine Zeitung mehr?“ Er entgegnet, Eurokritiker wie die AfD könne doch niemand ernst nehmen, und meint: „Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Hankel sich denen verbunden fühlt, und es gibt aus meiner Sicht kein Mitgliedsland, das ohne Euro einen Vorteil hätte, ich weiß also nicht, was Hankel mit dem Thema will. Altersstarrsinn?“

Altersstarrsinn, dass Hankel gegen den Euro ist? Und für alle Euroländer ein Vorteil? Wenn ich bisher umnachtet war, wie soll ich dann seinen Zustand beschreiben? Ich schreibe zurück: „Ich muss gestehen, dass ich über deine Antwort so baff bin, dass ich gar nichts mehr zu sagen vermag.“ Und dann ist erst einmal Funkstille.

Ich kenne Hanno mittlerweile schon ziemlich lange und denke, ihn ganz gut zu verstehen. Deshalb bekomme ich meine Verblüffung auch bald in den Griff. Denn Hanno pickt sich immer etwas heraus, auf dessen Basis er anschließend eine komplette Theorie zaubert, dabei aber alles Drumherum komplett unbeachtet lässt und ausklammert. Kritisiert man dann jedoch seine Theorie, hat er meistens eine Pointe zur Abwehr bereit. Dieses Mal zitiert er dazu eine englische Kriminalschriftstellerin: „Fakten sind wie Kühe. Wenn man sie nur scharf genug ansieht, laufen sie im Allgemeinen weg.“

*

Erneut trifft eine Mail von dem widerrechtlich eröffneten Mailkonto bei mir ein, die mich dann doch etwas mehr aufschreckt als die anderen vorher. Sie lautet: „du hast mich schon belogen als unsere tochter klein war dafuer nehme ich dir dein wertvollstes.“ Das ist nun in der Tat schon etwas gruselig, finde ich. Ich entscheide mich daher, dass das jetzt der richtige Moment ist, zur Polizei zu gehen.

Gleich im Anschluss an die erste Mail hatten meine Ex und ich bereits versucht, über die Internetwache der Berliner Polizei Anzeige zu erstatten, doch die wollte man dort nicht annehmen und teilte uns vielmehr mit, dass es nicht möglich sei, den Schreiber dieser Mails zurückzuverfolgen, da hier der Datenschutz im Wege stehe. Das alles summierte sich in dem schönen Satz: „Datenschutz ist Täterschutz.“

Als ich jetzt jedoch persönlich auf dem Polizeirevier bei mir um die Ecke vorstellig werde, sieht es auf einmal ganz anders aus. Denn hier findet man es richtig, dass ich gekommen bin und nimmt die Anzeige bereitwillig auf, sogar gleich in doppelter Version, nämlich einmal wegen Bedrohung und ein weiteres Mal wegen Nötigung. Das beruhigt mich erst einmal. Danach fühle ich mich besser.

*

Alles, was ich gegenwärtig aus der Schule höre, grenzt beinahe an Wahnsinn. Wir sind ein wohlhabendes, aber rohstoffarmes Hochlohnland, das zum großen Teil von der Technik lebt und eine schrumpfende Bevölkerung aufweist. Diese Konstellation stellt eine außerordentlich schwierige Melange dar für die Sicherung unserer Zukunft, weshalb wir eigentlich alles daran setzen müssten, um unsere Kinder und Jugendlichen perfekt auszubilden. Keiner darf uns verloren gehen, ansonsten ist der Wohlstand nicht zu halten.

Doch wie sieht die Realität aus? Die Schulgebäude rotten vor sich hin, und die Kinder werden von alten und wenig motivierten Lehrern unterrichtet, die kaum mehr jemanden für etwas begeistern können. Gegenüber der Zeit von vor einem halben Jahrhundert, als ich aufs Gymnasium kam, hat sich nichts, aber auch gar nichts geändert. Und wenn, dann sogar zum Negativen.

Denn heute dreht sich alles noch stärker um Noten als zu meiner Zeit. Das Pensum ist weit größer geworden und muss in kürzerer Zeit bewältigt werden, so dass die Inhalte kaum mehr Bedeutung erlangen. Und immer noch regiert das Prinzip des Nürnberger Trichters aus dem 17. Jahrhundert.

Manchmal habe ich den Eindruck, die Zeit in der Schule gehe weitgehend für Tests und Klassenarbeiten drauf, so dass die Kinder sich den Lehrstoff in der Hauptsache in Form von Hausaufgaben selbst erarbeiten müssen. Für die Leistungskontrollen lernen sie den geforderten Stoff auswendig, hinterher ist dann jedoch alles sofort wieder vergessen. Doch ob man im Internetzeitalter mit dem Auswendiglernen für die Zukunft gerüstet ist?

*

Als ich anlässlich einer weiteren Drohmail ein paar nähere Einblicke in die Details der Polizeiarbeit bekomme, wird mir klar, dass es auch hier nicht zum Besten bestellt ist.

Die neue Mail besteht aus der rätselhaften Mitteilung: „du hast leider nicht kooperiert wir haben dir mitgeteilt das du als IM LEDER geführt wirst das teilen wir jetzt deinen Freunden und geschaeftspartnern mit.“ Doch was kann das bedeuten, „im Leder geführt“?

Leder ist etwas Totes, ist tote Haut. Habe ich vielleicht bisher alles total falsch eingeschätzt und hinter den Drohungen steht nicht Götz, sondern ich bin irgendwie in die Fänge der Mafia geraten? „Im Leder geführt“ also verstanden als „tot zur Schau gestellt“? In diesem Moment wird mir zum ersten Mal richtig mulmig zumute.

Als die Mail mich erreicht, bin ich bereits auf dem Sprung, um meine Tochter von der Schule abzuholen. Doch ich fahre vorher noch schnell bei der Polizei vorbei, zeige dem diensthabenden Beamten dort den Mailausdruck und frage ihn, was das denn wohl mit dem Leder bedeuten könne. „Woher soll ick dat denn wissen?“, antwortet er in breitem Berlinerisch. Ich sage: „Ich dachte, das wäre möglicherweise ein gängiger Ausdruck.“ Er schaut mich gereizt an, und ich merke, dass er sich von mir gestört fühlt. Um dennoch weiterzukommen, frage ich: „Können Sie nicht bitte jemanden fragen?“ Daraufhin er: „Wen soll ick denn da fragen?“

Was für eine Scheißsituation: Es könnte sein, dass mir jemand, den ich nicht kenne, ans Leder will, ich fühle mich bedroht und machtlos, doch nicht einmal bei der Polizei versteht das jemand, geschweige denn, dass man überhaupt geneigt ist, mir in irgendeiner Weise zu helfen.

Ich bin total sauer. In mir fällt in diesem Moment eine Schranke. Ich drehe mich auf dem Absatz um, gehe hinaus, schmeiße die Tür, rufe „Arschloch!“ und laufe zu meinem Auto und fahre davon. Bisher habe ich mich so gut bei der Polizei behandelt gefühlt, da war das ein Halt, doch solche Leute wie eben sollte man wirklich nicht auf Publikum loslassen.

Unterwegs googele ich den Begriff „im Leder“ auf meinem Smartphone, erziele dabei allerdings nicht einen einzigen Treffer und bin dadurch sehr erleichtert. Meine Angst, dass es sich hierbei um einen gängigen Ausdruck wie beispielsweise „die Haut abziehen“ handelt, ist damit weg.

Doch was kann das ansonsten bedeuten? Alte Bücher sind in Leder gebunden, wenn also jemand im Leder steht, kann das heißen, dass er in den Büchern vermerkt ist. Ein Schuldschein? Kaufmännische Bücher? Ich frage in meinem Bekanntenkreis herum, ob jemand sich darauf einen Reim machen kann oder ob einer einen Draht zu einem alten Kaufmann besitzt, der hierzu vielleicht etwas sagen könnte. Doch das bleibt erfolglos.

Am nächsten Tag gehe ich noch einmal zur Polizei. Ich habe mir überlegt, wenn ich mich jetzt mit denen überwerfe, dann macht das die Situation für mich nur noch schlimmer. Und ich habe Glück, denn ich gerate an einen sehr netten Polizisten mit viel Verständnis, der überdies seinerseits das Bedürfnis zu besitzen scheint, einmal ein paar Dinge über die Frustrationen des Polizistendaseins loszuwerden.

Er erzählt mir, dass sie kaum noch Sachbearbeiter auf der Wache hätten, da die meisten heute irgendwo zum Schutz von Politikern eingesetzt werden würden. Auch bräuchte die Polizei mittlerweile für jede Kleinigkeit einen richterlichen Beschluss und der wäre beispielsweise bei einer Trunkenfahrt in der Nacht gar nicht so leicht zu bekommen. Es sei alles extrem schwierig geworden. Facebook zum Beispiel dürfe die Polizei gar nicht benutzen, selbst wenn es darum ginge, einem konkret Verdächtigen nachzuspüren.

Dass es im Computerbereich bei der Polizei nicht zum Besten steht, ist mir schon beim Aufgeben der Anzeige klargeworden, als der Beamte sich damals laut selbst fragte, wie er das denn überhaupt machen solle, die Drohmails, die bei mir angekommen sind, nachzuverfolgen. Mit großer Mühe war es ihm dann jedoch im Verlauf der nächsten Tage gelungen, herauszubekommen, dass es dafür ein Spezialteam gibt. Es besteht aus zwei Mann – für ganz Berlin.

 

Die Situation ist wirklich beklemmend. Das Verbrechen rüstet weltweit massiv auf, die Ausstattung der Polizei ist hingegen vollkommen unzureichend. Und die Rechte der Polizisten werden immer weiter beschnitten. Es kommt mir vor, als würde die Ordnungsmacht versuchen, auf der Autobahn mit einer Postkutsche einen Rennwagen zu stellen.

*

Ich konnte ihn eigentlich niemals leiden, Old MacSchnapsnase, besonders zu seiner Zeit als Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. Doch als ich jetzt noch einmal in die Welt der Bierkeller gerate, entwickele ich zum ersten Mal so etwas wie Sympathie für ihn.

Auf YouTube finde ich das Video eines Vortrages von Hans-Olaf Henkel im Rahmen einer Wahlveranstaltung der AfD im Münchner Augustiner Keller. Ich bin sehr angetan. Besonders gefallen mir die Passagen, in denen Henkel eigene Fehler zugibt. Er sagt: „Ich habe meine Meinung geändert. Es gibt eine Menge von Punkten, die ich hätte wissen müssen und auf die andere Ökonomen auch aufmerksam gemacht haben.“ Und: „Ich muss heute selbstkritisch sagen, dass ich einige Dinge hätte wissen müssen.“

Wo gibt es denn heute so etwas sonst noch? Ich finde das überragend, öffentlich eigene Fehler und Versäumnisse zuzugeben. Und ich denke, mir gefällt das vor allem deswegen, weil es genau das widerspiegelt, was sich derzeit auch in mir selbst abspielt. Denn auch ich hätte es doch eigentlich viel früher viel besser wissen müssen.

Ich schäme mich jetzt fast, mir selbst gegenüber zugeben zu müssen, nicht einmal mitbekommen zu haben, was Henkel jetzt sagt, nämlich dass die Kalamitäten mit dem Euro nicht erst vor Kurzem, sondern bereits lange vor der Finanzkrise begonnen haben und ihre Ursache in den Überinvestitionen in den Südstaaten finden.

In der Hauptsache führt er dazu den Immobilienboom in Spanien an, von dem er behauptet, er habe sich als extremer herausgestellt als derjenige in den USA. Und ich denke: Meine Güte, bezüglich der Immobilien in den USA bin ich so kritisch und sensibel gewesen, da habe ich tatsächlich zum ersten Mal in meinem Leben alle meine Aktien verkauft. Bei Spanien hingegen habe ich nur auf die tollen Wachstumszahlen geschaut und mich gefreut. Da habe ich nicht einmal an die Möglichkeit gedacht, dass sich dahinter etwas ganz anderes verbergen könnte.

Jetzt jedoch begreife ich das alles sehr klar: Durch die Euroeinführung herrschten in Spanien plötzlich so niedrige Zinsen, wie das zu Zeiten der Peseta niemals möglich gewesen wäre. Dadurch stiegen die Investitionen sprunghaft an, und es ergab sich ein Wachstum, mit dem das der Länder des Nordens nicht mithalten konnte. Aus diesem Grunde haben die Anleger aus den wachstumsschwächeren Ländern des Nordens viel Kapital in den Süden transferiert, um ebenfalls von der Entwicklung in Spanien profitieren zu können.

Dadurch wurde der Boom richtig angeheizt oder überhaupt erst möglich gemacht. Hätte es jedoch weiterhin in jedem Land eine autonome Notenbank gegeben, dann hätte die Spanische Notenbank sofort die Zinsen angehoben, um den inflationären Boom zu brechen. Damit wäre im Endeffekt nichts passiert. Doch mittlerweile gab es ja den Euro, und das bedeutete, dass die EZB ihre Geldpolitik an den Belangen aller Länder ausrichten musste. Hier machte allerdings die Wachstumsschwäche in den großen Ländern Deutschland und Frankreich mehr Sorgen als das Wachstum im Süden. Und das sprach für niedrige Zinsen.

Damit geriet der Boom im Süden völlig außer Kontrolle. Als schließlich im Jahr 2008, verursacht durch die Finanzkrise, die Kapitalzuflüsse stoppten, passierte, was immer und überall in solchen Fällen passiert: die Gewinne verwandeln sich urplötzlich in Verluste und das Ganze bricht in sich zusammen. Eigentlich war das glasklar zu sehen, denke ich. Ich hätte nur hinschauen müssen.

Im Anschluss daran geht es in Henkels Vortrag um die wiederholten Verstöße gegen die Richtlinien des Maastricht-Vertrages, auch und gerade durch Deutschland, ohne dass das jemals die im Vertrag genannten Sanktionen ausgelöst hätte. Was für ein fatales Zeichen das gewesen ist, jetzt sehe ich das. Vorher habe ich auch hier die Augen geschlossen gehabt.

Henkel erklärt, seine Geduld endgültig in dem Moment verloren zu haben, als unsere Kanzlerin im Mai 2010 auf französischen Druck hin einer Abschaffung der No-Bailout-Klausel zugestimmt hat, die verbot, dass man einem in Not geratenen Land finanziell hilft.

Auch das habe ich damals nicht wirklich mitbekommen, denn anscheinend war ich zu dieser Zeit ganz auf die Griechenland-Rettung fokussiert, und dafür schien mir jedes Mittel recht zu sein. Doch dass es sich bei diesen Maßnahmen um einen gravierenden Verstoß gegen den Maastricht-Vertrag gehandelt haben soll, das war mir nicht klar und ist es das auch jetzt noch nicht.

Henkel vergleicht dieses Beistands-Verbot mit einer Brandmauer, die errichtet worden sei, um die deutschen Steuerzahler vor den Ansprüchen ausländischer Politikern zu schützen, von denen man schon damals glaubte, dass sie vielleicht etwas großzügiger mit dem Geld umgehen als das bei uns der Fall wäre. Dann jedoch wurde diese Brandmauer plötzlich eingerissen, und von da an war der Zugriff frei.

Diese Ausführungen mögen zwar durchaus etwa populistisch sein, doch ich spüre eine Menge Aufrichtigkeit. Es sei ja auch wirklich eine schreckliche Situation, so Henkel weiter, in der wir uns durch die Währungsunion heute befinden, denn kein Land könne heute mehr unabhängig agieren. Da der Wechselkursmechanismus zum Ausgleich der Ungleichgewichte nicht mehr existiert, fänden wir uns in einer Situation wieder, in der jedes Land den anderen Ratschlägen erteilt, was sie zu tun hätten.

Das stimmt natürlich: Denn heute bestehen beispielsweise die Deutschen auf extreme Sparbemühungen seitens der Griechen, wohingegen die Franzosen von Deutschland fordern, die Löhne anzuheben und die Nachfrage zu stimulieren. Kurzum: Jeder mischt sich bei jedem ein.

Obwohl das so ist, zieht Henkels Argument dennoch nur bedingt, überlege ich mir, denn wenn Europa tatsächlich immer enger zusammenwachsen will, sind nationale Alleingänge ohnehin nicht mehr möglich. Das ist eben der Preis einer Union.

Und was jetzt? Mehr noch als die Situation um den Euro bedrückt mich, dass ich anscheinend wirklich nahezu alles, worum es jetzt geht, nicht zeitnah mitbekommen habe, so dass mich das jetzt wie eine Bombe trifft.

Habe ich damals alle Meldungen, die auf die heutigen Kalamitäten hindeuteten, verharmlost und vielleicht ganz aus meiner Wahrnehmung gestrichen? Oder hat vielleicht unsere Presse darüber gar nicht berichtet?

Auf jeden Fall verstehe ich langsam, warum das gesamte politische Establishment derzeit den Euro so entschieden aus dem Wahlkampf heraushält. Wahrscheinlich ahnt man dort, dass es vielen anderen Menschen anderweitig genauso ergehen könnte wie mir gerade.

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Ich forsche der von Henkel genannten No-Bailout-Klausel, auf Deutsch Nichtbeistands-Klausel, noch einmal genauer nach: Wie konnte so ein eklatanter Verstoß gegen herrschendes Recht überhaupt geschehen? Und warum gab es da keinen Aufschrei, der auch mich geweckt hat?

In Artikel 122 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union, der neben dem Maastricht-Vertrag einen der Gründungsverträge der EU darstellt, findet sich der Passus, dass unter bestimmten Bedingungen einem Mitgliedsland finanzieller Beistand gewährt werden kann, nämlich wenn es „aufgrund von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen, die sich seiner Kontrolle entziehen, von Schwierigkeiten betroffen oder von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedroht ist.“

Nun stellt sich jedoch die Frage, ob die durch Spekulationen am Markt verschlechterten Kreditkonditionen Griechenlands ein derartiges außergewöhnliches Ereignis darstellen und ob dieses sich tatsächlich der Kontrolle Griechenlands entzogen hat. Um dieser Interpretation wohl aus dem Weg zu gehen, so lese ich, habe man sich schließlich bei den Rettungsmaßnahmen nicht auf diese Klausel berufen, sondern vielmehr die folgende und erstaunlich einfache Argumentation gewählt: Die Nichtbeistands-Klausel schließe nur eine automatische Haftung aus, aber keine freiwillige. Oh!

Damit war der Euro-Rettungsschirm geboren, gegen den auch sofort wieder die Professoren, die schon gegen die Einführung des Euros Verfassungsbeschwerde erhoben hatten, dieses Mal zusammen mit Peter Gauweiler von der CSU vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt haben. Wilhelm Hankel sprach in diesem Zusammenhang laut FAZ von einer „Zerrüttung der Staatsfinanzen durch die Hilfe für Griechenland“ und einem „kriminellen Umgang mit unserer Verfassung und den europäischen Verträgen.“

Ganz anders sind dagegen die Regelungen hinsichtlich des Erwerbs der griechischen Staatspapiere durch die EZB zu bewerten: Hier verbietet Artikel 123 desselben Vertrages den unmittelbaren direkten Aufkauf von Schuldtiteln der Mitgliedstaaten durch die Europäische Zentralbank, allerdings nicht den mittelbaren Erwerb über den freien Markt.

Und das ist auch sehr schlüssig so, denn wäre der Kauf am freien Markt untersagt, könnte die EZB ihre Notenbankfunktion überhaupt nicht ausführen, da dann ja keinerlei Offenmarktpolitik gestattet wäre. Die Entscheidungen über Käufe von Staatstitel am Markt liegen also im Ermessen jeder unabhängigen Notenbank, und sie müssen auch dort liegen. Das ist gut und richtig so. So agieren Zentralbanken seit Jahrhunderten.

Zu diskutieren bleibt allerdings, ob die EZB anlässlich der Notlage, in der sich sowohl die Schuldner- als auch die Gläubigerländer in Europa seit dem Ausbruch der Krise befinden, tatsächlich noch in einer Weise unabhängig von der Politik ist, wie ihre Statuten das verlangen.

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Mittlerweile ist die Enttäuschung über das Verhalten von Götz bei mir vom Kopf in mein Gefühlsleben hineingewandert. Jetzt wird mir bewusst, wie oft ich schon bitter betrogen worden bin und dass es sich hier um die Fortsetzung einer langen Reihe handelt. Ob ich mich vielleicht in ganz besonderer Weise zu so etwas eigne? Bin ich ein ideales Opfer für solche Betrugsgeschichten?

Als ich einem Bekannten erzähle, wie mich früher einmal mein bester Freund, mit dem ich zusammen aufgewachsen bin und den ich seit frühester Kindheit kenne, finanziell erpresst hat, sagt der: „Hast du damals Wahrnehmungsstörungen gehabt? Hast du nicht gemerkt, dass er anscheinend gar nicht mehr dein bester Freund war?“

In diesem Moment bin ich völlig baff. So habe ich das noch nicht gesehen. Das trifft mich wie ein Schlag.

Doch ich gehe in mich und rappele mich wieder: Ja, natürlich habe ich das gemerkt! Wir haben uns damals schlichtweg auseinandergelebt. Wir kannten uns, seitdem wir laufen konnten, nun jedoch waren wir Mitte dreißig. Da kann es doch so etwas geben, da ist es doch beinahe normal, dass man sich unterschiedlich entwickelt. Ja, er war nicht mehr mein bester Freund. Doch hätte ich deshalb mit so etwas rechnen müssen?

Bei Götz liegt der Fall ganz ähnlich. Bei ihm habe ich durchaus gesehen, dass da etwas in ihm steckt, was er nicht an die Oberfläche kommen lässt. Auch dass er sicherlich seine Probleme hatte mit den Freiheiten, die ich mir genommen habe. Doch hätte ich deshalb vorsorglich den Kontakt zu ihm abbrechen sollen?

Das kann es doch nicht sein. Nein, mit so etwas hätte ich weder rechnen können noch rechnen müssen, in beiden Fällen. Da bin ich mir ganz sicher. Ich denke eher, dass das, was passiert ist, in irgendeiner Weise einfach der Preis für ein unabhängiges Leben ist. Wenn jemand sagt, was er denkt, und tut, was er will, macht er sich halt nicht immer nur Freunde.

Zuerst bin ich betrübt über diesen Befund, doch dann ergibt sich plötzlich eine große Wandlung: Denn ich sehe darin auf einmal einen trefflichen Hinweis darauf, dass mein Leben, das sich im Inneren so wunderbar anfühlt, anscheinend auch nach außen hin eine Verlockung ausübt, die durchaus Neid erzeugen kann.

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Als ich noch einmal mit der Polizei telefoniere, weist mich der nette und anscheinend sehr erfahrene Polizist vom letzten Mal darauf hin, dass die Im-Leder-Passage aus der Drohmail mit Sicherheit auf die Leder-Szene abstellt, also auf etwas Sexuelles, auf Lederkleidung und Sadomaso. Das erleichtert mich noch ein Stück weiter, denn mit diesem Thema habe ich nichts zu tun, das kann mir folglich auch nichts anhaben. Vielleicht hat Götz ja meinen Kopf auf ein paar schmutzige Fotos kopiert und will das Ergebnis davon jetzt an meine Freunde verschicken. Darüber würde ich mich höchstens totlachen. Doch nein, das macht Götz nicht, denn dann würde man ja vielleicht seine Spuren nachverfolgen können.

 

Dadurch wird das Bild dieses Falles allerdings noch stimmiger, finde ich, denn das Schlüpfrige passt ebenfalls bestens zu Götz. Plötzlich verstehe ich auch, was damit gemeint ist, mir mein Wertvollstes zu nehmen. Das zielt also auf das beste Stück des Mannes ab, und das ist Götz in Reinkultur. Eine versteckte Kastrationsdrohung also? Möglicherweise deshalb, um sich selbst auf diese Weise im Nachhinein den eigenen sexuellen Misserfolg erträglich zu machen?! Diese Geschichte ist wirklich hochspannend.

Mittlerweile habe ich tatsächlich keinerlei Angst mehr. Denn Götz ist ein Feigling und würde sich nie körperlich und Auge-in-Auge an mich herantrauen. Denn da würde ich ihm dermaßen eine verplätten. Die Mafia-Gedanken vorher waren hingegen wirklich beunruhigend. Doch da habe ich wohl zum Glück viel zu weit spekuliert und mir viel zu viel zusammengereimt.

Im Leder stehend. In der Vergangenheit hat mir Götz ab und zu Links auf Pornoseiten im Internet geschickt. Besonders war daran, dass es sich dabei stets um Bilder von Frauen mit männlichen Schwänzen handelte. Das hat ihn anscheinend total angemacht. Wir haben auch einmal kurz über dieses Thema gesprochen, was mir sehr unangenehm war. Gewundert hat mich, dass Götz mit seiner sexuellen Orientierung überhaupt nicht hinter dem Berg gehalten hat. Ihm kamen seine Präferenzen anscheinend auch keineswegs seltsam vor, er schien sie vielmehr für das Normalste auf der Welt zu halten.

Als ich mich jedoch mit Ekel abwendete, hat er das mit Verwunderung zur Kenntnis genommen. Ob sich dadurch bei ihm noch eine weitere Verletzung ergeben hat? So schlimm, dass er mir jetzt androht, mir mein Wertvollstes zu nehmen? Es ist wirklich spannend wie ein Kriminalroman.

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Hans-Werner Sinn habe ich genauso wie Hans-Olaf Henkel nie gemocht, freilich aus völlig anderen Gründen. Dieser Mann verkörperte immer das Paradebeispiel dessen, was ich am meisten hasste, nämlich einen extrem formal orientierten Neoklassiker. Für uns als Studenten und Mitarbeiter an der FU Berlin, für die das Geld eine wichtige Rolle im wirtschaftlichen Prozess spielt, war er damit das Feindbild schlechthin.

Heute jedoch stelle ich auch hier bei mir einen Wandel fest. Oh je, was ist denn jetzt überhaupt noch sicher? Ich teile Sinns Positionen zwar weiterhin nicht durchweg, doch sie öffnen mir plötzlich ein ganz neues Verständnis. Und ich bewundere diesen Mann durchaus, wie entschieden er für seine eigenen Auffassungen eintritt, egal, wie sehr er sich dabei gegen die herrschende Meinung in Politik und Öffentlichkeit stellt.

Sinn hat im Jahr 2012 das Thema der Target-Kredite und Target-Salden bei der EZB an die Öffentlichkeit gebracht, dem vorher keinerlei Beachtung geschenkt worden war. Target ist das Clearingsystem für Überweisungen zwischen den europäischen Zentralbanken, Target-Salden sind daher Forderungen und Verbindlichkeiten der einzelnen Notenbanken innerhalb des Euro-Raumes untereinander, die bei der EZB als Kredite oder Guthaben verbucht sind.

Ich habe dieses Thema anfangs ebenfalls für nicht relevant gehalten, doch als ich nun darin einsteige, schrecke ich auf. Sinns Position ist es nämlich, dass es sich bei den Target-Salden um zusätzliche Kredite an die Länder im Süden des Euroraumes handelt. Er sagt, es gehe dabei nicht um harmlose Ausgleichsposten, sondern gleichsam um einen zweiten Rettungsschirm, der in Gänze an den Parlamenten vorbei und ohne deren Kenntnis und Zustimmung aufgespannt worden ist.

Konkret: Als der private Kapitalstrom in die südlichen Euroländer während der Finanzkrise versiegte, habe die EZB den Notenbanken im Süden gestattet, die Leistungsbilanzdefizite ihrer jeweiligen Länder, die diese vorher durch Bankkredite am Markt finanzieren mussten, nunmehr als Kredite aus dem EZB-System zu ziehen.

Und die Auswirkungen dieser Maßnahme sind massiv, denn besaß die Deutsche Bundesbank vor der Finanzkrise noch Target-Forderungen in Höhe von 5 Milliarden Euro, so sind diese bis zum Jahr 2012 auf schier unglaubliche 700 Milliarden angewachsen. Spiegelbildlich dazu haben Spanien und Italien im selben Zeitraum jeweils etwa 270 Milliarden Euro Target-Verbindlichkeiten angehäuft, Griechenland und Irland jeder 100 und Portugal den Rest.

Doch wie ist das genau abgelaufen? Vor der Euroeinführung bestanden die Schuldverhältnisse zwischen den späteren Beitrittsländern in der Hauptsache aus besicherten Forderungen und Verbindlichkeiten der privaten Geschäftsbanken, die die jeweiligen Import-Export-Geschäfte finanziert haben. Als durch die Finanzkrise die Neigung der Banken jedoch abnahm, dies auch weiterhin zu tun, haben die Notenbanken der südlichen Länder mit diesen EZB-Krediten nicht nur deren neue Importe finanziert, sondern damit auch die hochverzinslichen Altverbindlichkeiten dieser Länder in quasi Nullzins-Kredite umgeschuldet.

Das heißt: Es wurde im gleichem Umfang neue Liquidität geschaffen. Und diese Liquidität ist anschließend unseren deutschen Geschäftsbanken zugeflossen, die diese wiederum über die Deutsche Bundesbank bei der EZB angelegt haben. Die gesamte Geldschöpfung in der EU erfolgt aus diesem Grund derzeit ausschließlich im Süden und wird im Norden wieder sterilisiert. Und die Notenbanken der Exportüberschussländer bauen spiegelbildlich zu den EZB-Krediten der Defizitländer Forderungspositionen gegen die EZB in Form von Target-Salden auf.

Die möglichen Auswirkungen dieser Entwicklung könnten durchaus einmal brisant werden. Sinn macht das in einem Vortrag mit markigen Worten klar. Da sagt er zuerst noch erklärend: „Unsere Ersparnisse, die früher aus marktfähigen Forderungstiteln gegenüber den anderen Ländern bestanden, die auch eine Fälligkeit hatten, auf deren Rückfluss man bauen konnte, um seine Altersversorgung darauf aufzubauen, sind umgewandelt worden in bloße Forderungstitel der Deutschen Bundesbank gegen das EZB-System.“

Und dann kommt es: „Doch wenn wir dann alt sind und von der EZB das ihr geliehene Geld wiederhaben wollen, sagt die: Kann ich aber nicht. Wo soll ich es denn hernehmen? Die Griechen zahlen es mir ja nicht zurück.“ In diesem Moment wird Sinns Gesicht todernst und wirkt wie versteinert. Er hält einen Moment inne. Dann kommt zuerst ein Kopfschütteln und anschließend der Satz: „Das Geld ist weg!“

Das Geld ist weg! 700 Milliarden! Im Internet kursieren mittlerweile beinahe unzählige Video, die diese Sequenz zeigen. Darauf fahren die Skeptiker ab, wenn ein renommierter Mann wie Hans-Werner Sinn so etwas sagt. Und ich muss mir eingestehen, ebenfalls geschockt zu sein. Ein weiterer dicker Punktgewinn für die Eurokritiker also.

Doch was haben unsere Exportüberschüsse eigentlich mit unseren Ersparnissen zu tun? Das fragt keiner. Und Sinn erklärt es in seinem Vortrag auch nicht. Aber so ist das ja immer. Da werden kernige Thesen aufgestellt, doch auf eine Erklärung und Einordnung wartet man in der Presse und den Medien in der Regel vergebens. Ob die das vielleicht auch nicht verstehen, oder schweigen sie es vielmehr aus anderen Gründen?

Ich muss mich also wieder einmal selbst daran machen, das herauszuarbeiten. Wie immer. Der Zusammenhang der Ersparnisse mit unseren Exportüberschüssen erschließt sich am besten aus der Bilanz der Deutschen Bundesbank, die im Endeffekt in der Bilanz der EZB konsolidiert wird. Die Ersparnisse der Bundesbürger liegen zum überwiegenden Teil auf Konten bei unseren Geschäftsbanken, die das entsprechende Sparvolumen bei der Deutschen Bundesbank anlegt haben, welches dort also auf der Passivseite verbucht ist. Eine der wichtigsten Gegenpositionen dieser Verbindlichkeiten der Deutschen Bundesbank gegenüber den Geschäftsbanken besteht nun in den Target-Forderungen gegenüber dem EZB-System als Ganzem.