Teuchel Mord

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Lindt machte sich gemeinsam mit Jan Sternberg auf den Weg zur Tübinger Gerichtsmedizin. Nach ungefähr einer Stunde trafen sie ein und fanden dank Jans Onlinerecherche während der Fahrt gleich die richtigen Räumlichkeiten.

Paul Wellmann hatte sich von Karlsruhe aus um die Anmeldung gekümmert, und so wurden sie bereits von der jungen Fachärztin erwartet, die am Vortag die Obduktion durchgeführt hatte.

Lindt warf einen Blick auf das Protokoll und stellte fest, dass allen Formalien Genüge getan worden war. Die Bilder und der Bericht des Tübinger Kommissars waren bereits digital bei der SOKO »Löwe« eingetroffen und auf Jans Ta­bletcomputer abrufbar.

»Ich bin gerade dabei, unsere Ergebnisse zusammenzufassen«, sagte die Ärztin und ging vor bis zu einer Reihe von Kühlfächern. »Möchten Sie ihn selbst rausholen?«

»Das wird wohl die erste Probe, was wir so aushalten können«, grinste Lindt. »Aber wir haben nichts dagegen, wenn Ihr kräftiger Mitarbeiter dort hinten das übernimmt.«

Ein kurzes Handzeichen, der Sektionsgehilfe eilte herbei und öffnete die Tür des Faches. »Kühn, Franz-Otto?«

»Genau den möchten die Herren sich ansehen«, nickte die Rechtsmedizinerin. »Auf Tisch drei. Erst in Bauchlage.«

Routiniert erledigte der Institutsangestellte seine Arbeit und schaltete anschließend eine große Lampe ein, die diffuses, nahezu schattenfreies Licht auf den noch unter einem grünen Tuch verborgenen Körper warf.

»Ein Kollege und ich haben die Obduktion gestern vorgenommen«, begann die Ärztin ihren Bericht. »Bei der äußeren Begutachtung ist uns natürlich das hier zuerst aufgefallen.« Sie streifte sich Latexhandschuhe über, zog das Tuch bis zur Schulter von der Leiche Franz-Otto Kühns und tastete mit zwei Fingern über die längliche Wunde am kahlen Hinterkopf. »War für uns ein Vorteil, dass wir ihn nicht mehr rasieren mussten. Impressionsfraktur der Schädeldecke. Mit den genauen Bezeichnungen der Knochen verschone ich Sie jetzt mal. Man sieht hier deutlich, wie die nach innen gedrückt sind und das Gehirn gequetscht haben. Die Bilder der Computertomografie kann ich Ihnen gerne noch zeigen.«

»War das die Todesursache?«, wollte Lindt wissen.

»Nein, zumindest nicht sofort, doch solch ein massives Schädel-Hirn-Trauma kann durchaus den Exitus nach sich ziehen. Eine sofortige Bewusstlosigkeit halten wir aber bei der Tiefe der Verletzung für höchst wahrscheinlich.«

»Spuren der Tatwaffe? Unser Kollege wurde ja im Wald gefunden, da liegt es nahe, dass ein dicker Holzknüppel benutzt wurde.«

»Nein, weder Rindenstücke noch Holzsplitter konnten wir finden, aber schwarze Farbpartikel und ganz feinen Metallabrieb.«

»Metall?«

»Ja, vielleicht Stahl. Von der Breite der Verletzung her könnte ein Teleskopschlagstock im Einsatz gewesen sein. Recht schmal, so ein Teil. Ergibt viel Tiefenwirkung, wenn mit Wucht und Geschwindigkeit zugeschlagen wird.«

Lindt und Sternberg sahen sich an. »So einer, wie er bei uns im Polizeidienst zum Einsatz kommt?«

Die Ärztin nickte. »Ich habe die Abmessungen Ihres Standard-Schlagstocks bereits mit den Einbuchtungen auf dem Röntgenbild verglichen. Das kann hinkommen. Die Analyse der Farb- und Metallspuren dauert aber noch.«

Lindt pfiff durch die Zähne. »Jan, du weißt, was das heißt. Wir müssen intern weitersuchen.«

»Nicht unbedingt«, widersprach ihm sein Mitarbeiter. »Kann man auch im Handel kaufen.«

»Ja, aber Schlagstöcke gibt es nicht gerade an jeder Straßenecke«, zog Lindt die Stirn in tiefe Falten. »Gefällt mir natürlich gar nicht. Aber was war denn die eigentliche Todesursache?«

»Bitte umdrehen«, wandte sich die Ärztin an ihren Mitarbeiter, der die Aufgabe routiniert erledigte.

»Wenn der rasierte Schädel und dieser graue Vollbart nicht wären …«, murmelte Lindt.

Jan Sternberg verstand: »Du hast ihn anders in Erinnerung?«

»Total anders«, nickte sein Chef, fasste das Tuch mit spitzen Fingern an und zog es bis zum Bauch hinunter. »Und dann das hier.« Er zeigte auf die ausgedehnten Tätowierungen, die sich von beiden Schultern fast bis zu den Ellenbogen erstreckten. »Was war bloß in den Franz gefahren? Ich kann diesem Tattoo-Quatsch echt nichts abgewinnen.«

»Trägt man heute«, grinste Jan, zog den Ärmel seines T-Shirts etwas nach oben und entblößte an der Innenseite des Oberarmes ein Kunstwerk in der Größe eines Fünf-Euro-Scheins.

Lindt riss die Augen auf. »Du auch? Hätte ich echt nicht gedacht.«

»Sieht man ja nur im Schwimmbad oder am Baggersee. Ist echt hip. Meine Frau steht voll drauf. Die hat an jedem Oberschenkel eines, dazu noch ein prächtiges Arschgeweih.«

Der Kommissar schüttelte mit verständnisloser Miene den Kopf und sah die junge Ärztin an. »Tragen Sie auch so was?«

Ohne zu zögern, hob die ihr Poloshirt kurz hoch, präsentierte ihren aufwendig tätowierten und gepiercten Bauchnabel, wandte sich aber sofort wieder dem Leichnam zu.

»War gut in Form«, kommentierte sie mit einem leichten Funkeln in den Augen und drückte auf den gewaltigen linken Bizeps.

»Chef, der hat halt was aus sich gemacht«, sagte Sternberg. »Mords, die Kiste.«

»Was? Welche Kiste?«

»Ja, der Brustkasten. Echt enorm.«

»Sonnenbraun?«, wollte Lindt wissen.

»Ob Sonne oder Solarium, das kann man fast nicht unterscheiden«, meinte die Ärztin. »Auf jeden Fall sieht er sehr attraktiv aus.«

Lindt sah sie an. »Wir wissen bereits, dass er auf die Damenwelt einen recht anziehenden Eindruck gemacht haben muss.«

Sie zuckte die Schultern und hob die Augenbrauen beim Blick auf den ausgeprägten Bauch des Kommissars. »Wer hat, der hat.«

Lindt pflegte solche anzüglichen Bemerkungen einfach zu überhören. »Jedenfalls ist er tot, da nutzt ihm sein toller Körper gar nichts mehr. Was war die wirkliche Todesursache? Ertrinken?«

»Genau. Woher wissen Sie das?«

»Laut Bericht kam aus seinem Mund bei der Bergung einiges an Wasser. Außerdem saß er in einem Brunnen.«

»Habe ich gelesen«, nickte die Ärztin. »Angelehnt in einer Wassertretstelle.«

»Aber ertrinkt man denn sitzend im knietiefen Wasser? Wohl kaum! Gibt es Anhaltspunkte, dass er untergetaucht und erst nach seinem Ableben hingesetzt wurde?«

»Ja, da haben wir was gefunden«, bestätigte die Rechtsmedizinerin, packte den Leichnam an den Schultern und richtete ihn auf. »Hier zwischen den Schulterblättern zeigt die Haut Veränderungen. Wir interpretieren sie so, dass dort Druck ausgeübt worden ist.«

Lindt nickte. »Jetzt, wo Sie es sagen, sehe ich es auch.« Er überlegte kurz. »Könnte das der Abdruck einer Schuhsohle sein?«

»Durchaus denkbar. Die Abmessungen wurden bereits in meinen Bericht aufgenommen. Da kann Ihre Kriminaltechnik ja Vergleiche anstellen.«

»Haben Sie auch Wasserproben aus der Lunge gezogen?«

»Alles gesichert. Werden gerade in unserem Labor mit denen aus dem Kneippbecken verglichen.«

»Sonst noch Spuren? Die berühmten Fasern unter den Fingernägeln etwa?«

»Leider nein. Auch unsere Schnellanalyse möglicher Fremd-DNA hat bis jetzt nichts erbracht.«

Lindt rieb sich den Hinterkopf. »Wenn wir also den Tathergang rekonstruieren, könnte unser Kollege niedergeschlagen, zum Wassertretbecken geschleppt, dort ertränkt und anschließend aufrecht hingesetzt worden sein. Sehen Sie das auch so?«

»Stimme Ihnen zu«, nickte die Ärztin und ließ den Toten auf den Sektionstisch sinken. »Ob die Schuhe Schleifspuren aufweisen, wird Ihnen sicherlich Ihr eigenes Labor sagen können. Die komplette Kleidung können Sie mitnehmen. Wir haben alles in diesem Kunststoffsack dort drüben gesammelt. Shirt, Sporthose, Laufschuhe. Mehr war nicht.«

»Socken, Unterwäsche?«

»Nein, Fehlanzeige. Hat er beim morgendlichen Joggen wohl nicht für notwendig erachtet.«

»Chef, es ist August und heiß«, warf Jan Sternberg ein. »Auch wenn die Temperaturen im Schwarzwald nicht so hoch sind wie bei uns am Rhein, ist das eine völlig normale Bekleidung beim Frühsport. Wann bist du denn das letzte Mal gejoggt?«

»Klappe!«, fuhr Lindt ihn ärgerlich an und wandte sich erneut zur Ärztin. »Bis wann dürfen wir Ihren Bericht erwarten?«

»Zwei Stunden, dann kann ich ihn absenden.«

Der Kommissar warf einen letzten langen Blick auf seinen getöteten Kollegen und zog das grüne Tuch komplett über ihn. »Mach’s gut, Franz. Wir haben viel zusammen erlebt«, murmelte er leise und drehte sich weg.

»Möchten Sie noch die Röntgenbilder sehen?«, wollte die Ärztin wissen, doch Lindt winkte ab. »Es reicht, wenn Sie alles digital in Ihrem Bericht mitsenden«, antwortete er und verabschiedete sich eilig.

»Komm, Jan, wir müssen«, sagte der Kommissar und achtete sehr genau darauf, dass niemand sah, wie seine Augen wässrig glänzten.

Auf der Rückfahrt sagte Lindt längere Zeit kein Wort, und auch Jan Sternberg zog es vor zu schweigen. Schließlich fiel dem Kommissar aber doch noch etwas Wesentliches ein, und er wies seinen Mitarbeiter an, eine Freisprechverbindung mit der Staatsanwältin zu machen.

»Lindt, haben Sie den grausigen Saal heil überstanden?«, meldete sie sich am Telefon.

»Es geht«, antwortete der Karlsruher. »Nicht einfach, einen Kollegen, mit dem einen viele Erinnerungen verbinden, in diesem Zustand zu sehen.«

»Geht Ihnen nahe?«

»Ziemlich. Und deshalb auch meine Frage: Wurde die Todesnachricht schon überbracht?«

»Kann ich Ihnen nicht genau sagen. Ich wüsste auch nicht, an wen«, kam die knappe Antwort der »Eisernen«. »Wenn Sie sich an das Gespräch gestern erinnern, hieß es, Kühns Frau sei abgehauen.«

 

»Ja, ich weiß. Mit irgendeinem Osteuropäer. Aber man wird ja wohl feststellen können, wo diese Frau jetzt lebt. Sie ist für mich die einzige Angehörige, an die wir uns wenden könnten.«

»Das überlasse ich Ihnen. Suchen Sie sie, fahren Sie hin, sagen Sie es ihr. Aber berichten Sie mir, wie sie es aufgenommen hat.«

»In Ordnung, wir sind dran«, antwortete Lindt und legte auf. »Jan, ruf doch mal bei Paul an. Das können unsere Kollegen von Karlsruhe aus recherchieren.«

»Ich bin bereits unterwegs nach Freudenstadt mit dem ganzen Krempel für unsere neue Zentrale«, kam die Mitteilung von Paul Wellmann, nachdem Sternberg dessen Handynummer gewählt hatte. »Aber den Auftrag, nach der Frau zu suchen, habe ich schon heute Vormittag gegeben. Soviel ich weiß, wird beim Einwohnermeldeamt nachgefragt. Ach, Moment, ich sehe gerade, da ist eine Nachricht dazugekommen.« Wellmann zögerte kurz, dann las er vor: »Lisa Kühn ist damals von Nagold weggezogen, allerdings nicht nach Polen übergesiedelt. Hier habe ich ihre neue Adresse. Wurmlingen bei Rottenburg. Liegt das nicht auf eurem Weg zurück in den Schwarzwald?«

»Schick uns die Mitteilung«, sagte Lindt. »Wir sind zwar schon fast auf der Autobahn, aber wir drehen wieder um. Ich möchte mit der Frau selbst sprechen. Es gibt doch einiges im Leben von Franz, was wir aufhellen müssen.«

Der Kommissar erwischte auf dem Zubringer zur A 81 die letzte Abzweigung vor der Auffahrt und bog Richtung Seebronn ab. »Ich glaube, dort vorne müssen wir wieder rechts, dann führt uns eine Nebenstrecke nach Wurmlingen.«

»Mein Chef kennt sich halt aus. Nicht bloß im Badischen, sondern auch im Schwabenländle«, stellte Jan Sternberg fest und gab im Navigationsprogramm seines Tablets die Anschrift ein.

Es dauerte noch gute zehn Minuten, bis sie im »Brunnring« des Rottenburger Stadtteils eingetroffen waren. »Da drüben«, zeigte Sternberg auf die angegebene Hausnummer. »Soll ich mitkommen?«

»Natürlich. Eine Todesnachricht zu überbringen ist nicht einfach, das weiß ich. Aber es wird endlich Zeit, dass du mal dabei bist. Außerdem kann uns die Frau vielleicht wichtige Hinweise zum völlig veränderten Franz geben.«

Die zwei Karlsruher Ermittler fanden den Namen Kühn auf der untersten Klingel des Mehrfamilienhauses. Jan drückte darauf. Erst tat sich nichts, doch nach dem zweiten Läuten meldete sich eine Stimme aus der Videosprechanlage. »Was wollen Sie?«

Lindt hielt seinen Dienstausweis in die Kamera. »Kriminalpolizei. Wir hätten gerne Frau Kühn gesprochen.«

Nach einigen Sekunden des Schweigens kam: »Wieso? Ich habe mit der Polizei nichts zu tun.«

»Nicht mehr«, antwortete Lindt. »Das wissen wir. Dürfen wir trotzdem kurz reinkommen?«

»Muss das wirklich sein?«

»Es muss, tut mir leid.«

Nach weiteren langen Sekunden summte der Türöffner. Oskar Lindt und Jan Sternberg traten ins Treppenhaus. Eine halbe Etage tiefer wurde eine Tür geöffnet. »Hier unten.«

Die Ermittler gingen die Treppe hinunter, registrierten einen Schwall unangenehm muffig-rauchig-ranzigen Geruchs und erschraken beide gleichermaßen über das, was sie sahen.

»Mein Kollege Sternberg, und ich heiße Lindt, Oskar Lindt, Kripo Karlsruhe«, stellte sie der Kommissar vor. »Vielleicht haben Sie den Namen schon einmal gehört. Hier bitte, mein Ausweis.«

Die Frau mit wirrem grauem Haar, geröteten Augen und fleckiger Schlabberkleidung machte schon auf den ersten Blick einen reichlich ungepflegten Eindruck. Sie warf einen flüchtigen Blick auf das Dokument, dann einen längeren auf den Kommissar und fragte: »Also, was gibt’s?« Dabei entblößte sie ihren Mund, in dem deutlich sichtbar zwei Zähne fehlten.

»Das möchten wir Ihnen gerne dort sagen, wo niemand mithören kann«, erwiderte Lindt. »Dürfen wir?«

»Wenn es unbedingt sein muss. Kommen Sie rein, aber erschrecken Sie nicht. Ich bin gerade am Aufräumen.«

Dass in der Souterrainwohnung schon seit Monaten niemand mehr aufgeräumt, geschweige denn geputzt hatte, wäre auch einem Blinden aufgefallen.

Ohne weiter zu fragen, nahm Lindt einen Packen Werbeprospekte und Anzeigenblätter von einem Stuhl, machte den zweiten für Sternberg frei und setzte sich. Den Esstisch vor ihm zierten mehrere angebrochene, offen stehende Marmeladegläser und ebensolche Brotpackungen, vor allem aber Flaschen. Bier, Wein, Wodka, bunt durcheinander. Auch auf dem Boden klirrte es, als sich der Kommissar Platz verschaffte. Die Frau nahm schnell zwei gefüllte Aschenbecher vom Tisch und stellte sie auf die Spüle der offensichtlich sehr kleinen Behausung. Kalter Rauch hing wie Nebel in der Luft, ein geöffnetes Fenster suchte der Kommissar vergeblich.

»Frau Kühn«, begann Lindt und nahm sein Gegenüber fest ins Visier. »Wir sind gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass der Franz verstorben ist.«

Nahezu teilnahmslos nahm Lisa Kühn das zur Kenntnis und zuckte die Schultern: »Habe nichts mehr mit ihm zu tun.«

»Trotz aller Bemühungen ist es uns nicht gelungen, weitere Angehörige herauszufinden.«

»Ich bin keine Angehörige. Seit drei Jahren interessiert mich der Kerl nicht mehr.«

»Gibt es sonst noch wen? Kinder? Eltern? Andere Verwandte?«

»Kinder? Nein, haben wir nicht. Haben wir noch nie gehabt.« Sie fuhr sich schnell über ihre Augen. »Ich konnte keine …«

»Tut mir leid«, sagte Lindt. »Einige Male habe ich mit Franz zusammen ermittelt, aber über Privates hat er dabei nie gesprochen.«

»Braucht Ihnen nicht leidzutun. Hat ja nur uns betroffen.«

»Er wurde getötet«, fuhr Lindt fort und stellte sein kleines Aufnahmegerät in die Mitte des Tisches. »In Freudenstadt, im Wald.«

Lisa Kühn zuckte mit den Schultern. »Polizistenrisiko. Wie gesagt, ich hab nichts mehr mit ihm …«

»Weitere Verwandte?«

»Seine Eltern sind schon tot. Einige Jahre her. Erst die Mutter, ein knappes Jahr später sein Vater. Seither war alles noch viel schlimmer.«

»Schlimmer?«, wiederholte der Kommissar.

»Vorher war er nie zu Hause, immer nur bei der Arbeit, aber dann, als er plötzlich das ganze Geld hatte, wurde er richtig eklig zu mir.«

»Eklig?«

»Psychoterror!« Das Wort spie Lisa Kühn regelrecht aus. »Der wollte mich loswerden. Schnellstmöglich. Erst hat er mich aus dem Haus geworfen. Sein Haus! Dann Scheidung in Rekordzeit. Ich konnte sehen, wo ich bleibe. Was aus mir geworden ist, sehen Sie hier.« Mit einer fahrigen Handbewegung deutete sie auf den ganzen Unrat um sie her.

»Unterhalt wird er ja wohl gezahlt haben.«

»Der und zahlen? Nur das absolute Minimum. Am langen Arm hat er mich verhungern lassen. ›Mehr gibt es nicht. Verklag mich doch‹, war das Letzte, was ich von ihm gehört habe.«

Lisa Kühn steckte sich mit zitternden Fingern eine Zigarette an und sog den Rauch tief in ihre Lungen.

Lindt zögerte etwas, dann entschloss er sich, direkt zu fragen: »Bei einem Tötungsdelikt müssen wir leider so viele Informationen wie möglich sammeln. Und wir müssen auch wissen, ob Gerüchte stimmen. Man hat uns zugetragen, Sie hätten Ihren Mann verlassen. Das passt nicht so ganz zu dem, was wir gerade gehört haben.«

Plötzlich kam Leben in die lethargische Frau. Ihre Augen blitzten wütend. »Was? Ich soll ihn …? Das ist ja eine glatte Lüge. Wer sagt denn so was? Vielleicht die Kollegen in seinem Kommissariat in Freudenstadt?«

»Kannten Sie die?«

Sie schüttelte energisch den Kopf. »Nein, keinen Einzigen. Er hat mich niemals mitgenommen, wenn es irgendwelche Feste gab. Nicht vorzeigbar, das hat er mir mehr als einmal an den Kopf geworfen. Ich bin halt nur eine einfache Frau, nichts gelernt, Helferin im Pflegeheim. Zu mehr hat es nicht gereicht. Damit konnte der Herr Hauptkommissar natürlich schlecht angeben.«

»Das war aber bestimmt nicht immer so«, bohrte Lindt nach.

Lisa Kühns dünne gelbe Finger klammerten sich krampfartig an der Tischplatte fest. Die Knöchel wurden weiß. »Wenn Sie es ganz genau wissen wollen, nach der dritten Fehlgeburt hat er mich fallenlassen. Da war ich 25. Hat sich ganz auf seine Karriere konzentriert und Stellen angenommen, die möglichst weit weg waren. Stuttgart, Biberach, Heilbronn. Oftmals kam er erst am Wochenende heim, und dann gab es nur Theater. Nichts konnte ich ihm recht machen. Die Hemden waren nicht akkurat genug gebügelt, die Fenster nicht sauber genug geputzt, und in den letzten Jahren hat er sogar mein Essen nicht mehr angerührt. Lieber ließ er sich was kommen.«

»Puuh«, fuhr sich Lindt über die Stirn. »Dann gehen wir davon aus, dass die Behauptung, Sie seien mit einem polnischen Lastwagenfahrer durchgebrannt, pure Erfindung ist.«

Das war zu viel. »Wer, ich? Mit einem Polen? So eine Unverschämt…« Weiter kam die Frau nicht und brach in hemmungsloses Schluchzen aus. »Das … das … das ist die größte Frechheit, die ich je gehört habe. Hat er so was rumerzählt?«

Der Kommissar schüttelte den Kopf. »Tut mir sehr leid, aber ich musste Sie das fragen. Tut mir wirklich leid.«

Erst konnte Lisa Kühn nicht antworten. Ein heftiger Weinkrampf hatte sie voll im Griff. Schließlich fing sie sich wieder und sagte leise: »Braucht es nicht. Sie können ja nichts dafür. Sie sind sowieso anders. Wahrscheinlich haben Sie auch Kinder.« Sie sah ihn herausfordernd an. »Ja? Haben Sie?«

Lindt nickte.

»Und Ihre Frau haben Sie auch noch nicht rausgeschmissen?«

Lindt schüttelte den Kopf und hakte nach, obwohl die Situation eindeutig war: »Darf ich fragen, wo Sie jetzt arbeiten?«

»Ich? Arbeiten? Sieht es hier danach aus? In der Klinik war ich, in Hirsau, in der Psychiatrie. Mehrmals. Immer ein paar Monate, weil ich das alles nicht verkraftet und ein paarmal versucht habe, mich …«

Der Kommissar hob die Hand. »Müssen Sie uns nicht erzählen. Müssen Sie echt nicht.«

»Ist doch eh egal. Mir hat schon lange niemand mehr zugehört. Aber jetzt sind Sie da und fragen. Also sollen Sie es auch wissen.«

»Arbeit?«

»Seit die mich aus der Klapse entlassen haben, nicht mehr. Wer sollte mich auch nehmen? Mein Leben bezahlt das Sozialamt. Im Jobcenter gelte ich als nicht vermittelbar. Hartz IV, dann wissen Sie, wie es mir geht. Ganz unten bin ich angekommen.«

Lindt schaute zu Sternberg, der bisher vollkommen geschwiegen hatte. Danach wandte er sich wieder an die Frau. »Muss noch mal fragen, ob es weitere Verwandte gibt. Hatte Franz Geschwister?«

Lisa Kühn schüttelte den Kopf. »Einzelkind. Seine Eltern haben ihm schon immer alle Wünsche erfüllt. Die führten ein Hotel, drüben in Herrenberg. Lief echt gut, aber mit mir war er fast nie dort. Nicht vorzeigbar, ich hab’s ja schon gesagt. Nach meinem dritten Versagen wollten auch die Eltern nichts mehr von mir wissen.«

»Sonstige …?«

»Zwei Cousinen in Stuttgart, anscheinend zwei richtig giftige Weiber. Aber zu denen hatte er keinen Kontakt.« Lisa Kühn vergrub ihr Gesicht in den Händen. »Fragen Sie doch dort, wer sich um die Beerdigung kümmert. Ich kann es nicht. Ich kann nichts mehr.«

»Ob Sie uns vielleicht Namen und Adressen …?«

Die Frau zog die Tischschublade auf und kramte ein altes, total vergilbtes Adressbuch heraus. Sie blätterte etwas darin herum und deutete dann mit ihrem nikotingelben Zeigefinger auf zwei Einträge. »Hier, die sind es. Hat der Franz mal aufgeschrieben, aber ob die Anschriften noch stimmen, kann ich nicht sagen.« Sie versuchte, das Blatt herauszureißen, schaffte es aber nicht.

»Moment, wir machen ein Foto. Jan, bist du so nett?«

Sternberg stand auf, nahm sein Smartphone in die Hand und trat neben Lisa Kühn. Die sagte: »Nett, ja Sie beide sind nett. Zu mir war schon lange niemand mehr nett.«

»Können wir Ihnen irgendwie helfen?«, wollte Lindt wissen.

»Helfen? Mir ist nicht mehr zu helfen. Aber machen Sie sich keine Sorgen um mich. Ich bekomme regelmäßig Besuch vom Amt. Eine Sozialarbeiterin schaut nach mir. Die unterstützt mich, wo sie kann. Aber jetzt möchte ich Sie bitten …«

Lindt sah die Frau an: »Rufen Sie mich an, wenn Ihnen noch etwas Wichtiges einfällt? Ich lasse Ihnen meine Karte da.«

Das städtische Gebäude im Freudenstädter Christophstal erwies sich als höchst interessant. An einer der engsten Stellen des Tals quetschte sich das aus mehreren aneinandergefügten Bauten bestehende Haus direkt zwischen den Forbach und die Talstraße. Einer Tafel an der Hauswand war zu entnehmen, dass der Herzog von Württemberg vor dem Dreißigjährigen Krieg an dieser Stelle Münzen aus Christophstaler Silber prägen ließ.

 

Als Lindt und Sternberg am Nachmittag eintrafen, war die Einrichtung der SOKO-Zentrale noch voll im Gang. Aus einem Lastwagen wurden Büromöbel entladen und in verschiedenen leer stehenden Räumen des Wohnhauses aufgestellt. Ein großes und ein kleines Büro konnten im Erdgeschoss geschaffen werden. Drei gegeneinandergestellte Schreibtische bildeten im Wohnzimmer des ersten Stocks die Arbeitsplätze für Lindt, Wellmann und Sternberg und das nebenliegende ehemalige Schlafzimmer wurde zum Besprechungsraum mit einem langen Tisch und zehn Stühlen.

»Sieh mal, Chef. Sogar eine komplette Küche haben wir hier zur Verfügung«, stellte Jan Sternberg fest.

Lindt nickte: »Dann befördere ich dich gleich zum Chefkoch. Kannst du kochen?«

»Klar doch, aber ob dir alles schmeckt, weiß ich natürlich nicht.«

»Macht nichts«, antwortete der Kommissar und zeigte durch die milchig gewordenen Scheiben des Panoramafensters auf ein imposantes historisches Gebäude, das talaufwärts zu sehen war. »In dem Gasthof dort können wir uns bestimmt gut verpflegen. Lass uns das bald mal testen.«

Paul Wellmann kam die Treppe hoch. »Na, seid ihr einverstanden, wie alles eingerichtet ist?«

»Optimal«, lobte Lindt. »Scheint ein geschichtlich bedeutender Ort zu sein. Der bringt die nötige Inspiration für unsere Ermittlungen.«

»So richtig interessant wird es erst rechts vom Eingang«, meinte Paul. »Musst einfach die Stahltür aufmachen, und schon stehst du in einer echt altertümlichen Werkstatt. Mehr als hundert Jahre wurden hier Feilen zur Metallbearbeitung fabriziert. Leider sind die Maschinen abgebaut und in ein Museum fortgebracht worden. Hat mir alles ein netter junger Mann von der Stadtverwaltung erzählt. Der ist wohl für Bauunterhaltung zuständig.«

»Feilenhauerei, ja, das habe ich bereits irgendwo gelesen«, bestätigte Lindt.

Wellmann wusste noch mehr: »Ein großes Wasserrad und eine Turbine gibt es auch noch. Bis vor einigen Jahren haben die früheren Besitzer da eigenen Wasserkraftstrom gewonnen.«

»Tolle Sache, ich spüre die besondere Atmosphäre. Hätte ich gerne unter anderen Umständen kennengelernt.«

Wellmann zuckte die Schultern. »Ja, die Umstände. Ist halt unsere Arbeit, im Dreck des Verbrechens zu wühlen.«

»Dreck, das stimmt genau. Wir haben heute schon einiges davon mitbekommen. Berichten wir dir nachher.«

Paul nickte. »Die Computer und die restlichen Bürozutaten werden gleich noch eingerichtet, dann können wir loslegen. Telefon und Internet wurden bereits aktiviert. Wir haben dann getunnelte Zugänge in unser eigenes Netzwerk und können arbeiten wie in Karlsruhe.«

Lindt hörte nur mit halbem Ohr hin. Er interessierte sich mehr für das zukünftige Quartier: »Wo werden wir unterkommen?«

»Zimmer habe ich für uns bereits gebucht. Das Hotel heißt ›Langenwaldsee‹, ein Stück talaufwärts. Ich war vorher mal dort. Richtig lauschig, mit einem kleinen See und ein paar Schwänen.«

»Und einem Waldfreibad, das es nicht mehr gibt«, ergänzte Oskar Lindt. »Schade drum. Da habe ich schon als Kind drin gebadet.«

»Dann ist das hier sozusagen ein Heimspiel für dich«, schmunzelte Wellmann.

»Kindheitserinnerungen. Familie Lindt war ein paarmal in Ferien in Freudenstadt.«

»Also werden wir deine Jugend wieder auffrischen. Sommerfrische in frischer Waldluft. Du kannst ja mal in den Kurgastmodus wechseln.«

»Ich Liegestuhl – du arbeiten? Hört sich gut an«, lachte Lindt und begann, die Geheimnisse der Feilenhauerei zu erkunden.

Abends um 18 Uhr zogen die Techniker wieder ab nach Karlsruhe. Die Kommandozentrale der SOKO »Löwe« war nun voll funktionsfähig, und die drei vom »Inner-Circle« machten es sich in ihrem Gemeinschaftsbüro gemütlich. Lindt und Sternberg brachten ihren Kollegen Wellmann auf den neuesten Stand, was Rechtsmedizin und die Exfrau des ermordeten Kollegen anbelangte. Dann jedoch entschied Oskar Lindt: »Genug für heute. In mir nagt der Hunger. Hatte seit dem Frühstück keinen Bissen mehr. Es wird Zeit, unsere neue Nachbarschaft zu erkunden.« Er zeigte aus dem Fenster nach Süden. »Die nächsten Ermittlungen finden dort drüben im ›Gasthof zum Bad‹ statt.«

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