Teuchel Mord

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»Wer stand noch dabei?«, fragte der Kommissar.

Sie überlegte und trat aufs Neue einige Meter zurück, um ganz sicher außer Hörweite zu sein. »Zehn Personen bestimmt. Rettungsdienst, Kripokollegen, Spusi, uniformierte Beamte, der Leiter des Polizeireviers. Der Polizeipräsident aus Pforzheim kam bald nach mir.« Sie zögerte kurz. »Ja, ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Von denen, die Kühn offenbar bedroht haben, war aber keiner hier. Die zwei hatten dienstplanmäßig frei.«

»Zwei?«

»Ja, ich weiß zwei Namen. Muss ich Ihnen wohl geben. Aber meine Informantin …« Sie stockte wieder und fuhr schnell fort, »… oder meinen Informanten möchte ich Ihnen nicht nennen.«

Lindt runzelte die Stirn. »Wird sich nicht vermeiden lassen. Dieser Person kommt eine entscheidende Bedeutung zu. Wann hat sie Ihnen Bescheid gesagt?«

»Der Anruf kam ungefähr eine Stunde, nachdem klar war, wer der Tote ist. Das ging natürlich polizeiintern rum wie ein Lauffeuer.«

Der Kommissar trat wieder zu den Kriminaltechnikern, die jetzt dabei waren, ihre Utensilien einzupacken.

»Wie hat sich die Tat eurer Meinung nach zugetragen?«

Einer der Kollegen gab seine Einschätzung bekannt: »Der Fundort ist vermutlich nicht der Tatort. Den Schlag auf den Kopf hat er höchstwahrscheinlich woanders erhalten und ist dann hierhertransportiert worden.«

»Wurde er hochgeschleppt? Oder von oben runter? Finden sich irgendwo Schleifspuren?«

»Ein Auto kann auf diesem schmalen Weg ja kaum fahren. Dort vorne gibt es zudem eine Engstelle, an der ein Wasserdurchlass runtergebrochen ist.«

Lindt nickte: »Ist mir auch aufgefallen. Ein ganz schmales Fahrzeug käme vielleicht gerade so durch, aber kein normaler PKW oder Transporter.«

»Wir vermuten auch, dass unser Chef hier am frühen Morgen seine Joggingrunde gedreht hat. Er wohnt ja seit einiger Zeit in einem dieser neuen teuren Häuser gleich dort vorne in der Straßburger Straße.«

Oskar Lindt stutzte: »Wie? In Freudenstadt? Kam er früher nicht immer aus dem Kreis Calw hergefahren?«

Die Techniker sahen sich bedeutungsvoll an. Zögernd fuhr einer fort: »Man sieht es ja auf den Bildern. Neues Outfit. Haare ab, Bart dran, morgens joggen statt frühstücken, abends Fitnessstudio mit Hantelbank und allem Drum und Dran. Der hat mit Mitte 50 noch mal voll aufgedreht.«

Lindt las in den Gesichtern, dass das noch nicht die ganze Wahrheit sein konnte. Seinem Instinkt folgend, fragte er: »Auch eine neue Frau?«

Die Antwort kam nicht gleich. »Ja, also … man soll ja über Tote …«

»... nicht schlecht reden, das weiß ich«, komplettierte Lindt, »aber es geht um Tatsachen, um reine Fakten. Bitte, wir finden es sowieso raus, mit wem er zusammen war.«

Statt des Technikers antwortete die Staatsanwältin: »Kühn hat einem Kollegen die Frau ausgespannt, das habe ich bereits mitbekommen.«

»Oha. War er denn getrennt?«

»Seine eigene Ehefrau soll sich angeblich mit einem polnischen Lastwagenfahrer abgesetzt haben.«

»Das ist jetzt aber nicht wahr, oder?«

»Das Letzte ist ein Gerücht, das Erste weiß ich aus sicherer Quelle«, sagte die »Eiserne«. »Sie können es mir ruhig glauben.«

»Hat ihn was aus dem Gleis geworfen? Das mit dem Polen?«

»Zumindest hat damit alles angefangen. Neustart in Freudenstadt, so hat er mir mal selbst gesagt, allerdings ohne dabei Hintergründe zu nennen.«

»Hmmm …«, brummte Lindt wieder einmal und wiegte seinen Kopf hin und her. »Der Franz, der Franz … und jetzt …«

»Ist er tot«, vervollständigte die Juristin mit deutlich verschärftem Ton. »Und Sie haben den Ermittlungsauftrag. In engster Abstimmung mit mir natürlich. Verstanden?« Sie nahm Lindt ins Visier und schoss einen verbalen Giftpfeil in seine Richtung: »Keine Alleingänge und keine zurückgehaltenen Informationen. Ist das klar?«

Die drei Techniker schauten betreten zu Boden.

Der Kommissar jedoch war für solche Situationen trainiert und antwortete nach wenigen Sekunden: »Frau Oberstaatsanwalt, ich habe einen neuen Lieblingsspruch. Den kennen Sie noch nicht.«

»Und?«, blaffte sie ihn an.

Lindt bekam kleine Fältchen neben den Augenwinkeln.

»Er heißt: Lächle, du kannst sie nicht alle töten. Also, Sie sehen mich lächeln!«

Die Gesichtsfarbe der »Eisernen« wechselte schlagartig wieder auf dunkel. »An die Arbeit, marsch!«, befahl sie, war offensichtlich kurz davor, Schnappatmung zu bekommen, griff nach ihrem Smartphone und verschwand.

»Wir sind bereits mittendrin«, hob Lindt die Augenbrauen und wandte sich an die belustigt dreinblickenden Kriminaltechniker.

»Gibt es verwertbare Spuren?«

Unisono schüttelten alle drei die Köpfe. »Nachher suchen wir noch entlang der Wege, aber es ist viel zu trocken für Abdrücke von Schuhsohlen.«

»Reifenspuren?«

»Es gab vielleicht welche unten auf dem Fahrweg, aber da ist ja auch das Forstpersonal unterwegs. Wären aber ohnehin durch unsere eigenen Wagen überlagert. Können wir also komplett vergessen. Nach Fingerabdrücken und DNA haben wir selbstverständlich gesucht. An dem Eisengeländer im Becken, auf den Mauersteinen, in der Hütte.«

»Handy, Papiere, Schlüssel?«

»Fehlanzeige, nichts dergleichen«, antwortete einer der Techniker. »Alles, was wir haben, befindet sich eingetütet in unserer Kiste. Ist allerdings nicht viel.«

Dann sah er den Kommissar an: »Entschuldigung, wenn ich frage: Wieso musste extra der Oskar Lindt aus Karlsruhe kommen, um den Fall hier zu übernehmen?«

Diese Frage hatte Lindt erwartet. »Gab die Frau Oberstaatsanwalt dazu keine Erklärung ab?«

»Nein, sie hat einen Anruf bekommen und danach sofort und ohne weitere Kommentare unsere eigenen Ermittler komplett nach Hause geschickt. Nur der Streifendienst durfte bleiben, um Spaziergänger fernzuhalten, und wir natürlich.«

»Dann fragen wir sie doch am besten selbst. Ah, sie telefoniert noch«, meinte Lindt und sandte einen auffordernden Blick in Richtung der Juristin.

»Dauert wohl länger, das Gespräch, also werde ich was dazu sagen. Aber vorweg möchte ich wissen: War der Kollege, mit dessen Frau der Franz was angefangen hat, auch hier vor Ort?«

»Nein, nein, der Horst, der hat sich sofort versetzen lassen, nachdem seine Alte, ääh, also nachdem seine Frau ausgezogen ist. Er fährt jetzt täglich nach Balingen. Außerdem ist das alles längst Schnee von gestern. Der Franz, der war ja kein schlechter Chef, aber seit er nach Freudenstadt gezogen ist, hat er seine Bekanntschaften öfter gewechselt als normale Leute ihre Unterwäsche.«

Lindt zog die Stirn in Falten. »Dann gab es ja allerhand zu tuscheln bei euch im Kommissariat.«

»Aber hallo! Es war sozusagen Tagesgespräch. Doch nachdem er sich körperlich in Form gebracht hatte, sind die Frauen auf ihn geflogen wie die Motten aufs Licht. Dabei hat er angeblich nichts anbrennen lassen.«

Ein anderer Techniker ergänzte: »Die Wohnungen im ›Parkside‹, so heißen die zwei supermodernen vornehmen Häuser, haben dreiseitig Glasbalkone. Und es gibt durchaus Leute, die ihre Spaziergänge extra so gelegt haben, um zu sehen, wer aktuell im dritten Stock im Liegestuhl lag.«

»Wie bitte?«

»Mehrere Kolleginnen haben sich sogar darin abgewechselt, den Balkon von weiter oben, vom Rand des Steinbruchs aus, zu beobachten. Da stehen mehrere Parkbänke strategisch günstig mit prima Aussicht. Fernglas aus der Handtasche – am nächsten Tag wusste die ganze Polizei Bescheid.«

Lindt schmunzelte: »Das waren dann die, die der Franz nicht erwählt hatte?«

Schallendes Gelächter breitete sich aus. »Nein, die bekamen bei ihm keine Chance. Von internen Verwicklungen hatte er wohl genug. Aber man hört, dass es in seinem Fitnessstudio genügend Auswahl gab.«

»Ts, ts, ts«, kommentierte der Kommissar. »Schau an, der Franz. Und jetzt ist er leider tot. Schade für ihn, schade für die Freudenstädter Damenwelt und für die Kleinstadt-Gerüchteküche.«

Dann wurde er wieder dienstlich: »Jetzt aber zurück zum Ernst des Lebens. Sämtliche Ergebnisse eurer Arbeit gehen nur an mich. Ausschließlich! Niemand sonst darf darauf zugreifen.«

Lindt sah in drei fragende Gesichter, doch keiner sagte etwas.

»Versteht ihr nicht?«

Kopfschütteln.

»Kripochef tot, da gilt natürlich höchste Diskretionsstufe. Die eigene Mannschaft muss völlig außen vor bleiben. Das hat gar nichts mit Misstrauen zu tun, sondern ist eine eiserne Regel. In solchen Fällen laufen die Ermittlungen komplett extern. Immer. Ich werde auch meine engsten Mitarbeiter holen und irgendwo eine provisorische Ermittlungszentrale einrichten.«

»Gut gesagt, Lindt«, ergänzte Lea Frey, die sich zwischenzeitlich beruhigt hatte und wieder näher gekommen war. »Ist ein Muss. Ich will mir später keine Vorwürfe über unprofessionelle Vorgehensweise anhören.«

»Also alles reine Routine«, beruhigte der Kommissar die verunsicherten Kollegen. »Gibt es schriftliche Aufzeichnungen? Handschriftlich, meine ich?«

»Nein, komplett auf dem Tablet. Und auf der Kamera.«

Lindt streckte die Hand aus. »Dann brauche ich das Gerät und vom Fotoapparat die Speicherkarte. Und natürlich die Beweismitteltüten mit den Spurenträgern. Am besten, wir gehen gemeinsam zum Weg runter und laden dort alles in meinen Dienstwagen.«

»Und wer bearbeitet unsere gesicherten Spuren weiter?«

»Werde ich koordinieren. Vermutlich auch Kollegen aus meinem Bereich.«

Die Techniker waren offensichtlich nicht besonders glücklich über diese Ansage, doch sie hatten keine Wahl und mussten sich fügen.

Wenig motiviert machten sie sich wieder an die Arbeit und begannen, die weitere Umgebung der Kneippanlage abzusuchen. Plötzlich rief einer der Männer vom Fahrweg aus: »Fund!«

 

Der Karlsruher Kommissar und die Juristin eilten hinzu. Der Techniker stand direkt neben Lindts Dienstwagen und zeigte auf mehrere dunkle Flecke im plattgedrückten Gras neben dem Schotter. »Blut, jede Wette. Hier könnte er niedergeschlagen worden sein.«

Süffisant grinsend, drehte sich Oskar Lindt zur »Eisernen«. »Frau Oberstaatsanwalt, auf dieser Seite sind Sie ausgestiegen.«

Sie sandte ihm einen bösen Blick zu. »Bin ich vielleicht ein Spürhund?«

Der Kommissar antwortete nicht und lächelte still in sich hinein. »Ich fahre mal den Wagen weg, dann habt ihr Platz, um alles aufzunehmen.«

2

Es dauerte eine weitere Stunde, bis sämtliche Arbeiten erledigt waren und die Absperrungen aufgehoben werden konnten. Die Polizeifahrzeuge verließen nach und nach das Waldgebiet, so dass schließlich nur Oskar Lindt zurückblieb. Auch die Oberstaatsanwältin war in einem Streifenwagen mitgefahren, nicht ohne den Kommissar nochmals auf äußerste Geheimhaltung zu verpflichten.

»Machen Sie sich keine Sorge«, hatte er geantwortet. »Erstens bin ich Profi, und zwar ein alterfahrener. Zweitens, und das wiegt genauso schwer, bin ich es dem Franz ganz einfach schuldig, alles bis ins Kleinste aufzuklären.«

»Genau deshalb habe ich Sie geholt«, hatte ihm die »Eiserne« energisch die Hand gedrückt. »Ich zähle auf Sie.«

Nun war er alleine. Alleine am Tatort. Tatort? Nein, der lag vermutlich dort unten auf dem Waldweg. Hier handelte es sich nur um den Fundort seines getöteten Kollegen. Tatwaffe? Nein, weit und breit keine Spur. Lindt nahm auf der braun gestrichenen Holzbank zwischen Schutzhütte und Wassertretbecken Platz und setzte aufs Neue eine Pfeife in Brand.

Er sah auf die Uhr. Bereits später Nachmittag. Eigentlich Zeit, an Rückkehr zu denken. Zeit, um Carla anzurufen. Zeit, sich bei Paul und Jan zu melden.

Doch er tat nichts dergleichen. Ruhig zog er an seiner Pfeife, blies aromatische Rauchkringel in die Luft und sog die Atomsphäre in sich auf.

Weshalb hatte man Franz-Otto Kühn ausgerechnet hier in knietiefes Wasser gesetzt? Welche Bedeutung kam diesem besonderen Ort zu?

Oskar Lindt lehnte sich zurück und betrachtete die stolzen hohen Tannen und Fichten rings um die Kneippanlage. Ja, das waren sie, echte »Tannenriesen«, riesige alte Bäume. Diesen Ausdruck kannte er von früheren Ausflügen und Wanderungen hier in der Gegend, im Schwarzwald, der ihm und Carla im Laufe der Jahre immer mehr zur zweiten Heimat geworden war.

Einzigartig auch das Klima. Selbst im Hochsommer konnte er es bestens aushalten. Natürlich, bei körperlichen Aktivitäten ginge es auch in den schattigen Wäldern nicht ohne Schweißtropfen ab, doch verglichen mit der brütend schwülen Hitze zwischen den Karlsruher Häuserwänden fühlte er sich an diesem Ort einfach nur wohl. Wenn da nicht der tote Franz gewesen wäre …

Lindt riss sich zusammen, nahm sein Mobiltelefon und suchte nach der gespeicherten Nummer von Ludwig Willms, seinem langjährigen Weggefährten und Chef der Karlsruher Kriminaltechnik.

»Auf diesen Anruf hab ich schon gewartet«, meldete sich Willms. »Wollte dich was fragen, aber du warst nicht an deinem Arbeitsplatz.«

»Heute arbeite ich im Wald«, antwortete der Kommissar. »Freudenstadt, Teuchelwald. Kannst ja mal googeln, dann weißt du, was das bedeutet.«

»Paul hat mir natürlich berichtet, dass du dich wieder im Schwarzwald rumdrückst.«

»Und wenn du anständig bist, darfst du auch noch kommen. Wir müssen hier unsere Zelte aufschlagen.«

»Die ›Eiserne Lea‹ hat dich engagiert. Ausgerechnet dich. Wie kommt denn das? Ihr seid euch doch in inniger Abneigung verbunden.«

»Heute war sie zeitweise sogar ganz manierlich. Schließlich will sie ja was von mir. Ich nehme an, du hast gehört, dass Franz-Otto Kühn getötet wurde?«

»Auch das hat mir Paul gesteckt. Ich kannte den Kühn zwar nicht persönlich, aber ein toter Kripochef ist natürlich der Hammer.«

»Ob ein Hammer auf seinem Kopf gelandet ist, finden die Gerichtsmediziner in Tübingen gerade heraus, und du bekommst heute noch eine Kiste voller Beweismitteltüten von mir. Alle weiteren Untersuchungen laufen bei dir im Labor. In unserem Labor.«

»Hoppla!«

»Ist doch klar. Die eigenen Kollegen dürfen da gar nicht ran. Du kennst doch unsere internen Verfügungen.«

»Ja, dunkel erinnere ich mich, aber mit totgeschlagenen Polizisten hatte ich es bisher noch nicht zu tun.«

»Wo finde ich dich, wenn ich wieder in Karlsruhe bin?«

»Auch im Wald«, antwortete Willms. »Ich mache heute Abend eine Radtour durch den Hardtwald. Auf dem Bike kann man die Hitze am besten aushalten. Fahrtwind kühlt.«

»Dann pass bloß auf. Der Franz war auch in Sportklamotten unterwegs, als er eine übergebraten bekam.«

»Keine Sorge, du weißt ja, ich bin flott. Mich kriegt so schnell keiner. Und deine Schwarzwaldsouvenirs kannst du bei unserer Bereitschaft abgeben. Ich sag denen Bescheid, dass du noch vorbeikommst.«

Lindt legte auf und drückte gleich danach die Kurzwahl für den Anschluss seines Büros in der Beiertheimer Allee.

Paul Wellmann meldete sich sofort. »Na endlich. Wir sind schon ganz nervös.«

»Ihr braucht euch keine Sorgen um mich zu machen«, beruhigte ihn Lindt. »Ich bin zwar immer noch im tiefen, dunklen Wald, aber ein toter Kommissar pro Tag reicht ja.«

»Einer ist einer zu viel.«

»Stimmt, und deshalb sind jetzt wir am Start. SOKO ›Löwe‹. Alle Mann, die wir kriegen können. Du solltest gleich mal sehen, wen du loseisen kannst. Zehn brauchen wir mindestens. Dann vielleicht noch Freudenstädter Kollegen vom Streifendienst.«

»Niemanden von der dortigen Kripo?«

»Nein, die sind raus. Näheres morgen früh. Mach einen Besprechungsraum klar.«

»Acht Uhr?«

»Passt.«

Mehr Kommunikation war zwischen den beiden erfahrenen Ermittlern nicht nötig. Seit langem waren sie bestens aufeinander eingespielt und verstanden sich blind.

Zu Hause rief Lindt erst an, als er sich bereits auf der Heimfahrt befand und mit weit offenem Schiebedach an der Ampel mitten auf dem Freudenstädter Marktplatz warten musste.

»Jetzt möchte ich doch wissen, was wir heute Abend essen«, begrüßte er Carla. »Wird aber mindestens noch zwei Stunden dauern. Muss unserer KTU eine Ladung Spurenträger vorbeibringen.«

»Ist gut«, antwortete seine Frau. »Ich mache uns was sommerlich Leichtes. Tomate-Mozzarella, was hältst du davon?«

»Vielleicht ein saftiges Hüftsteak dazu? Zeit zum Essen war bisher nicht.«

»Ist aufgetaut, bis du kommst.«

»Schön, dass du noch da bist und auf mich wartest«, sagte Lindt nach kurzer Pause. »Ist nicht selbstverständlich. Manche Polizistenfrauen brennen auch mit dem Erstbesten durch, wenn sie zu lange alleingelassen werden.«

»War das so bei deinem Kühn?«

»Erzähle ich dir später. Ach, was hast du heute so gemacht?«

»Zum Beispiel gearbeitet«, kam es etwas spitz zurück. »Oder was denkst du denn?«

Der nächste Morgen begann mit einer großen Lagebesprechung im Konferenzraum. Oberstaatsanwältin Lea Frey war per Videoschaltung dabei. Überlebensgroß, ihr markantes Konterfei auf dem riesigen Flachbildschirm an der Wand. Eine Kamera war in den Raum gerichtet, damit die »Eiserne« in ihrem Rottweiler Büro alle Beteiligten gut sehen konnte. Auf den Tischen verteilte Mikrofone sorgten für klare Verständigung.

Tatsächlich hatte es Paul Wellmann am gestrigen Abend noch geschafft, die von Lindt geforderte Personenzahl für die Arbeit der Sonderkommission »Löwe« zusammenzubekommen.

Oskar Lindt hielt sich nicht lange mit Vorreden auf, brachte alle Beteiligten auf den aktuellen Stand und verteilte die Aufgaben.

»Paul, wir brauchen Räume in Freudenstadt. Kannst du dich mal auf die Suche machen?«

»Nicht mehr nötig«, schallte die Stimme der »Eisernen« durch den Raum. »Habe ich schon für Sie erledigt.«

»Sie werden mir ja noch richtig sympathisch«, antwortete Lindt. »Da muss ich ja schon wieder lächeln.«

»Nicht frech werden. Ich habe einen kurzen Draht zum Oberbürgermeister. Kenne ich persönlich.«

»Gut, was kann er uns anbieten?«

»Die Stadt hat vor einiger Zeit ein Haus gekauft, in dem eine Wohnung und mehrere Büroräume leer stehen. Zukünftig soll das Gebäude für die Gartenschau im Forbachtal verwendet werden. Da können Sie sofort rein. Telefon, Internet, alles kein Problem.«

Paul Wellmann notierte mit. »Adresse?«

»Talstraße 83, muss unten im Christophstal sein. Direkt am Bach. Ich schicke Ihnen die Kontaktdaten der Ansprechpartner in der Stadtverwaltung. Läuft garantiert völlig unbürokratisch. Der OB hat bereits Weisung gegeben. Die sind da sehr entgegenkommend.«

»Prima«, freute sich Wellmann. »Ich mache mich umgehend dran und sorge für Schreibtische, Computer und was wir sonst noch alles benötigen.«

»Du solltest auch Hotelzimmer buchen«, ergänzte Oskar Lindt. »Fürs Erste brauche ich dich und Jan dauerhaft dort. Alle anderen wechseln sich auf Anforderung tageweise im Schwarzwald ab und unterstützen uns sonst von hier aus. Wenn wir uns in Freudenstadt eingerichtet haben, sehen wir weiter.«

Ein zustimmendes Raunen ging durch den Raum. Die meisten Mitglieder der neu gebildeten SOKO hatten keine große Lust, ihre Familien mehrere Tage lang nicht zu Gesicht zu bekommen, und waren froh, im Moment von Karlsruhe aus mitarbeiten zu können.

»Vieles wird sich digital erledigen lassen. Wir treiben keinen unnötigen Aufwand. Außerdem werde ich versuchen, Kollegen des Freudenstädter Reviers zur Unterstützung zu bekommen. Einen habe ich bereits im Auge.«

»Okay, was machen wir heute konkret?«, wollte Jan Sternberg wissen.

»Wir beide, mein lieber Jan, werden eine Oldtimerausfahrt unternehmen. Erst nach Tübingen in die Gerichtsmedizin und dann in die Hauptstadt des Schwarzwaldes, um dort mehr über das interessante Leben unseres toten Kollegen herauszufinden. Sein Zuhause ist anscheinend von der sehr gehobenen Sorte. Wir dürfen gespannt sein.«

Er sah zu KTU-Chef Ludwig Willms: »Kannst du zwei oder drei aus deiner Truppe mitschicken, die sich gleich intensiv mit der Wohnung beschäftigen?«

»Klar, ein Team steht bereit. Auch für Computer, Handy und Co. Die nehmen wir dann schnellstens komplett auseinander.«

»Gut«, entschied Lindt. »Wenn ihr schon so weit seid, stellen wir um und sehen uns zuerst die Wohnung an. Muss die Rechtsmedizin eben warten.«

Lindt ließ sich das Vergnügen nicht nehmen, den betagten Mercedes selbst zu steuern, und erreichte zusammen mit Jan Sternberg und zwei Transportern der Karlsruher Kriminaltechnik im Schlepptau gegen halb elf Uhr die Straßburger Straße 52 und 54 in Freudenstadt. Zwei imposante, schräg zur Straße stehende Gebäude mit jeweils sieben Etagen.

»Wollen wir kurz drum herum gehen?«, schlug Lindt vor. »So eine interessante Architektur sollten wir erst mal auf uns wirken lassen.«

Die fünf Karlsruher Ermittler gingen den Fußweg zwischen den Häusern und dem anschließenden Abhang entlang. Hoch und schmal ragten die futuristischen, in Grau und Weiß gehaltenen Bauten empor. Die Stockwerke hatten offensichtlich verschieden große Ausdehnungen. Manche ragten vor, andere sprangen zurück.

»Viel Glas, sieht echt schick aus«, kommentierte Jan Sternberg. »Ich würde die oberste Wohnung nehmen. Muss ja eine fantastische Aussicht sein. Deswegen bestimmt auch die verglasten Balkone. Nichts soll den Fernblick versperren.«

»Eine Etage ist gestern gerade frei geworden«, meinte sein Chef. »Da kannst du dein übriges Kleingeld investieren.«

»Nicht im dritten Stock«, grinste Jan. »Wenn schon, dann on Top. Aber ich sehe gerade, Paul hat mir einen Immobilienlink aufs Tablet geschickt. Bei den Preisen wird es mir doch ziemlich schwindlig.«

»Zeig her«, forderte ihn Lindt auf. »Aha, 183 Quadratmeter, auf drei Zimmer verteilt, kosten schlappe 1,15 Millionen, plus Nebenkosten, noch mal 130.000 Euro. Also, greif zu, vielleicht wirst du ja bald Hauptkommissar.« Beide bogen sich vor Lachen. Völlig absurd, sich mit einem Gehalt des öffentlichen Dienstes darüber Gedanken zu machen.

»Da kommen wir doch direkt zu der Frage, wie sich der Kollege das leisten konnte«, fasste Jan zusammen. »Und dann wahrscheinlich noch kostspielige Wagen und Bekanntschaften.«

 

»Los, rein. Mal sehen, was wir finden.«

Der Name Kühn fand sich auf einem Klingelschild der Hausnummer Straßburger Straße 52.

Lindt zeigte dem von Paul Wellmann bestellten Hausverwalter und dessen Mitarbeiter seinen Dienstausweis und ließ die Haustür öffnen.

»Der Aufzug in die Wohnungen ist zugangsgesteuert«, kam die weitere Auskunft des Verwalters. »Damit kommen die Eigentümer direkt in ihre Wohnungen. Der Generalschlüssel liegt bei uns im Tresor und darf nur in absoluten Notfällen genutzt werden. Wir gehen immer zu zweit und müssen über jeden Gebrauch peinlich genau Rechenschaft ablegen.«

»In diesem Fall gibt es keinen mehr, der das wissen will«, antwortete Lindt. »Das müsste Ihnen bereits bekannt sein.«

Der Mann nickte. »Der Herr Kühn ist tot. Ich weiß. Zur Sicherheit hat Ihr Kollege aus Karlsruhe mir das per E-Mail bestätigt. Wir müssen uns halt absichern.«

»Das sind Sie den Eigentümern schuldig. Ist vollkommen klar«, sagte Lindt. »Die Wohnung wird von uns durchsucht und dann versiegelt. Auch Sie dürfen vorerst nicht hinein. Bitte halten Sie sich trotzdem zu unserer Verfügung. Falls wir drin keinen Türschlüssel finden, sind wir weiterhin auf Ihre Hilfe angewiesen.«

»Wow«, kam es wie aus einem Munde, als die Karlsruher Mannschaft in die lichtdurchfluteten Räume trat. Weitläufig, großzügig, hell und hypermodern eingerichtet, präsentierte sich Franz-Otto Kühns Etage.

»Pro Stockwerk nur eine Wohnung«, flüsterte Jan Sternberg fast ehrfürchtig. »So sieht wahrer Luxus aus.«

»In Stuttgart, Hamburg oder München würde etwas Vergleichbares bestimmt das Dreifache kosten«, meinte Oskar Lindt nüchtern. »Wenn’s überhaupt reicht …«

»Und dann noch dieser Blick.« Jan stand an der großen Glaswand und schaute auf das Wäldermeer rings um Freudenstadt.

»Dort unten, tief im Tal, werden wir unser Büro einrichten«, erwiderte sein Chef und musste bei allen Vorbehalten, die er gegen diese Art von moderner Architektur hatte – »Sieht aus wie aufeinandergestapelte Zigarrenkisten« – »Passt überhaupt nicht in die Schwarzwaldnatur« – doch zugeben, dass er sehr beeindruckt war. »Hier bist du echt dem Himmel nahe. Wenn ich das Carla erzähle, wird sie umgehend nach reichen Erbtanten forschen.«

»Ich fühle mich als Adler«, jubelte Jan. »Muss nur noch losfliegen.«

»Komm runter und werde wieder zur emsigen Ameise«, forderte ihn Lindt auf. »Los, wir schauen uns um.«

Gemeinsam mit dem Technikerteam machten sie sich ans Werk.

»Hier, der Schreibtisch, aber nirgends ein Computer, nicht mal ein Netzteil«, meldete Sternberg. »Also war schon jemand hier.« Und kurze Zeit später: »In der Steckdose steckt das Ladegerät für ein iPhone, aber auch von dem ist weit und breit nichts zu sehen.«

Einer der Techniker war im Bad, um DNA-Spurenträger zu sichern. »Zwei Zahnbürsten hier. In der Schublade liegen allerdings noch zehn verpackte.«

Lindt trat zu ihm: »Irgendwas spezifisch Weibliches zu sehen?«

»Du meinst Kosmetik und so? Auf den ersten Blick nicht. Ich checke jetzt die Schränke.«

Im Schlafzimmer war ein anderer Kollege am Werk. »Nur Herrengarderobe. Keine Anhaltspunkte, dass sich eine Frau schon fest eingenistet hatte.« Dann rief er erstaunt aus: »Oskar, das hier solltest du dir mal ansehen.«

Er hatte den hintersten der Kleiderschränke geöffnet und stand vor einer massiven Stahltür. »Tresor, raumhoch, Fingerabdrucksensor«, meldete er kurz. »Sieht aus wie ein Waffenschrank. War der tote Kollege denn Jäger?«

Lindt zuckte mit den Schultern. »Nicht, dass ich wüsste. Aber was da drin ist, müssen wir natürlich genau unter die Lupe nehmen. Wie kriegen wir den auf?«

Der Techniker zählte auf: »Schweißen, Flexen, Bohren? Auf jeden Fall ist er fest an der Wand verschraubt, lässt sich keinen Millimeter bewegen.«

»Zur Not müsst ihr die Herstellerfirma fragen. Ich kümmere mich um einen richterlichen Beschluss.«

Der Kommissar trat zurück in den sonnendurchfluteten Wohnraum und wählte die Nummer der Oberstaatsanwältin. »Frau Frey, wir sind in der Wohnung von Kühn. Tolle Atmosphäre hier, sollten Sie sich anschauen.«

»Lindt, erzählen Sie mir nichts. Ich bin an diesen scheußlichen Häusern schon x-Mal vorbeigefahren, aber ich kann denen nichts abgewinnen. Stehe mehr auf Altbau mit Atmosphäre.«

»Na ja, jedem das Seine«, antwortete der Ermittler. »Trotzdem brauchen wir Ihre Hilfe. Bitte besorgen Sie uns einen Durchsuchungsbeschluss. Wir sind zwar bereits in der Wohnung, aber beim Tresor im Schlafzimmer werden wir ohne Panzerknackerfirma nicht zum Ziel kommen, und die wollen garantiert was vom Richter lesen.«

»Schaffen das unsere Techniker nicht?«

»Nur mit Spezialgerät, und so was passt nicht in unser knappes Budget. Außerdem muss man ganz genau wissen, wo die Bohrungen zu setzen sind. Nichts zu machen, hier müssen Fachleute ran.«

Die »Eiserne Lea« überlegte kurz, dann gab sie sich geschlagen. »Also, überzeugt. Ich veranlasse das umgehend. Sie können schon mal die Firma anrücken lassen.«

»Danke, die KTU ist mit vor Ort. Wir beide, Kollege Sternberg und ich, warten dann nicht, bis die Spezialisten kommen, sondern fahren gleich zur Rechtsmedizin nach Tübingen. Treffen wir uns dort?«

Ein deutliches Schnaufen war zu hören. »Lindt, gehen Sie mir nicht auf die Nerven! Sie wissen sicherlich noch von früher, dass ich so etwas nicht … ach, lassen wir das … Sie sind schließlich eine Ermittlungsperson der Staatsanwaltschaft, und die Tübinger Rechtsmedizin hat von mir schon die amtliche Mitteilung bekommen, dass Sie mich vertreten. Außerdem ist das Aufschneiden selbst bereits passiert. Die Obduktion mit äußerer und innerer Leichenschau war gestern, in Anwesenheit eines Beamten der Tübinger Polizei. Hatte ich Ihnen das denn nicht gesagt?«

»Kann ich mich gar nicht erinnern«, schwindelte der Kommissar. »Außerdem dachte ich, so ein persönlicher Augenschein wäre für Sie wichtig.«

»Schluss jetzt!«, befahl die »Eiserne«. »Ich kann hier nicht weg. Basta!«

»Hat sie schon mal in den Sektionssaal gekotzt?«, wollte Jan wissen, als Lindt aufgelegt hatte.

Der Kommissar schmunzelte. »Die Gerüche kann sie überhaupt nicht vertragen. Einmal war ich dabei, als sie ganz schnell einen Eimer gebraucht hat. Seitdem macht sie um Leichenöffnungen und alles, was dazugehört, einen großen Bogen. Da sind wir schon deutlich abgehärteter.«

»Bevor wir hinfahren, sollten wir noch kurz in die Tiefgarage schauen«, überlegte Sternberg und klimperte mit einem Schüsselbund. »Lag in einer der Schreibtischschubladen. Mehrere Türschlüssel und zwei Öffner für Autos. Übrigens steht ›Jaguar‹ drauf.«

Lindt hob die Augenbrauen. »Nobel, nobel. Also, lass uns nachschauen. Autos sagen meistens eine ganze Menge über die Besitzer aus.«

Sie verließen den Aufzug im Untergeschoss und traten in die Garage. Jan drückte den ersten Funköffner. Ein weißer SUV reagierte sofort mit Blinken und dem Knacken der Türschlösser. »Ein F-Pace!«, pfiff Lindts junger Mitarbeiter durch die Zähne. »Schickes Teil.«

»Schau mal, was danebensteht«, meinte Lindt. »Dasselbe Weiß, dieselbe Marke.«

»Klasse, noch ein Jaguar, ein F-Type« kommentierte Jan mit Kennerblick und öffnete das Cabrio mit dem zweiten Sender. »Und die Kennzeichen der beiden Wagen sind fast identisch. FDS-FO 1 und FDS-FO 2.«

»FO wie Franz-Otto«, ergänzte sein Chef und wandte sich an einen der Techniker, der sie nach unten begleitet hatte. »Bitte komplett untersuchen. Die Arbeit geht euch heute also nicht aus.«

»Mit meinem zehn Jahre alten Familienkombi könnte ich in so einem vornehmen Haus nicht punkten«, meinte Sternberg und betrachtete weitere Nobelkarossen, die auf den übrigen Parkplätzen abgestellt waren.

Lindt zuckte die Schultern. »Geld ist nicht alles, Jan. Was wissen wir schon über die reichen Leute hier? Keine Ahnung, ob die wirklich glücklich sind.«

»Chef, was war das? Philosophie oder Resignation?«

»Wahrscheinlich von beidem etwas. Komm, lass uns fahren. Der Sektionssaal wartet.«