Handbuch zu Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«

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Aus der Reihe: Reclam Taschenbuch
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Hachez’ Rekonstruktion einer Chronologie für die Suche zeigt dieses Problem sehr deutlich auf: in Hachez67 1956 nimmt er das Datum der Gründung der Patrie Française am Jahresende 1898 als Anhaltspunkt, um für die Matinee Villeparisis 1899 anzusetzen, da bei dieser Veranstaltung die Patrie Française von Madame de Marsantes erwähnt wird; danach müsste dann aber das Paris-Murcia-Wohltätigkeitsfest 1880 stattgefunden haben, was ein Anachronismus wäre. 1961 korrigiert Hachez68 deshalb seine Chronologie, da das Wohltätigkeitsfest tatsächlich 1879 stattgefunden hat, womit nun freilich die Erwähnung der Patrie Française bei Madame de Villeparisis’ Matinee zum Anachronismus wird. Trotzdem sollte man in diesem Fall wohl Hachez’ Korrektur folgen, denn besagtes Fest spielt in Swann eine erhebliche Rolle, die Patrie Française dagegen keine nennenswerte. Eine Quelle für mögliche Fehleinschätzungen der zeitlichen Situierung liegt in einer ungenügenden Unterscheidung zwischen Erzähler und erzählter Person (Marcel), die zwar meistens überflüssig ist, gelegentlich dann aber doch notwendig. Ein Beispiel hierfür ist die Erwähnung des Sturzes von Delcassé 1905 in der Gefangenen, der Agadir-Affäre von 1911 in Guermantes oder des Prozesses gegen Caillaux von 1920 in der wiedergefundenen Zeit; in allen drei Fällen ist es nicht etwa eine der handelnden Personen, die sich auf das genannte Ereignis bezieht, sondern der Erzähler, der von einem Zeitpunkt aus zurückblickt, der jedenfalls nach der Matinee der Prinzessin von Guermantes liegt – sogar knapp drei Jahre später, denn bei dem Bericht über diese Matinee nimmt der Erzähler einen vorgreifenden Rückblick auf die inzwischen senile Odette vor (WZ, S. 366). Ein weiterer rückblickender Vorgriff findet sich übrigens in WZ S. 160–162, wo der Erzähler einen Brief zitiert, den er nach Charlus’ Tod erhält, den dieser aber »mindestens zehn Jahre vor seinem Tod geschrieben« haben muss und in dem Charlus auf eine Begegnung mit dem Erzähler im Jahr 1916 Bezug nimmt; dieser kann den Brief also frühestens 1926 erhalten haben. Bei dem Tod der Berma in der Entflohenen, die in der Wiedergefundenen Zeit zum Tee einlädt, handelt es sich allem Anschein nach einfach um einen Lapsus Marcel oder Robert Prousts.

Auf die Madeleine-Episode, die ja das Paradigma der unwillentlichen Erinnerung darstellt, wird bei den ähnlich beschaffenen Schlüsselerlebnissen in der Bibliothek des Prinzen von Guermantes in keiner Weise angespielt; sie ist dem Erzähler offenbar noch unbekannt. Demnach muss Combray I, wo sie ja erinnert wird, und damit auch der implizite Beginn der Niederschrift von »Marcels Roman«, je nach chronologischer Rekonstruktion (s. u.) nach 1919 bzw. nach 1927 angesiedelt werden. Den Brief von Charlus wie auch die Nachricht von Odettes Verfall kann der ›Autor‹ Marcel natürlich auch erst während der Niederschrift erhalten haben.

Nach Hachez’ Rekonstruktion und nach diesen Überlegun­gen ergibt sich folgender abgekürzter Verlauf der Ereignisse, wobei ich die entstehenden »Anachronismen« mit Asterisken markiert habe:

WS (Auf dem Weg zu Swann)

1879 Anfang des Jahres: Swann lernt Odette kennen.

Herbst: Paris-Murcia-Fest.

*Bei den Verdurins wird Dumas’ Francillon von 1887 erwähnt.

1880 Mitte des Jahres: Geburt Marcels; Albert Bloch zwei Jahre alt.

Juni: Soiree Saint-Euverte.

Ende: Geburt Gilbertes.

Geburt Morels, Albertines.

Jahreswende 1881: Odettes Kreuzfahrt mit den Verdurins.

1885 Marcel besucht Tante Léonie in Paris (Trinkgeld für Françoise).

*Françoise erwähnt die Röntgenstrahlen (1895 entdeckt).

1888 Marcels Besuch bei Onkel Adolphe.

1889 Swann heiratet Odette.

1890 Combray: Marcel muss ohne Gutenachtkuss ins Bett.

1892 Combray: Marcel schreibt den Martinville-Aufsatz.

1894 Combray: Tante Léonie stirbt, Marcel verführt seine Cousine.

1895 Marcel trifft Gilberte in den Champs-Élysées.

1908 oder 1909, Herbst: Spaziergang im Bois; Rückblick auf den Spaziergang 1896.

SJM (Im Schatten junger Mädchenblüte)

1895 Ende des Jahres: Besuch des Königs Théodose, Marcel sieht die Berma, Diner Norpois.

*Norpois erwähnt das Krüger-Telegramm vom 1. 1. 1896.

1896 Spaziergang im Bois, bei dem Marcel Prinzessin Mathilde trifft.

Marcel besucht ein Bordell.

1897 Frühjahr: Marcel gehört zur Entourage von Madame Swann.

Juni/Juli: Beerdigung der Großtante; Marcel bespitzelt Mademoiselle Vinteuil.

Mitte August bis mindestens Mitte Oktober: erster Aufenthalt in Balbec.

WG (Der Weg nach Guermantes)

1897 Oktober/November: Umzug in das Hôtel Guermantes.

Marcel verliebt sich in die Herzogin.

November: zweiter Opernbesuch.

*Marcel sieht den Duc d’Aumale (gest. Mai 1897).

Besuch in Doncières.

um die Jahreswende: Besuch Saint-Loups in Paris.

1898 Frühjahr: Ausflug mit Rachel und Saint-Loup in ein Vorstadtrestaurant.

Matinee Villeparisis.

*Die Patrie Française wird erwähnt (gegr. 31. 12. 1898).

Morel ist achtzehn.

Sommer: Tod der Großmutter.

Herbst (»Sektember«): Fahrt durch den Bois mit Albertine.

Besuch mit Saint-Loup im Nebelrestaurant.

Winter: Diner der Herzogin von Guermantes.

*Erwähnung der Thronbesteigung König Edwards (1901).

1899 Juli: Charlus begegnet Jupien am Tag der Soiree der Prinzessin von Guermantes.

SG (Sodom und Gomorrha)

1899 Juli: Soiree der Prinzessin von Guermantes.

Charlus ist ein Fünfzigjähriger / in den Fünfzigern (S. 43, 45; 703).

1900 Ostern bis 14. September: zweiter Balbec-Besuch; Swann ist gestorben (S. 511).

Charlus (etwa dreimal so alt wie Morel) begegnet Morel (20) (S. 361).

*Erwähnung der Uraufführung von Pelléas und Melisande (1902).

*Erwähnung der Marokko-Politik Caillaux’ von 1911.

*Erwähnung der Aufführung von Anna Karenina 1907.

*Erwähnung der Eulenburg-Affäre 1906/09.

*Erwähnung von Henry Roujons Au milieu des hommes (1907).

*Ein Motorflugzeug erschreckt Marcel.

Albertine (20) fährt mit Marcel nach Paris zurück.

G (Die Gefangene)

1900/01 Albertine verbringt den Winter bei Marcel.

*Die Dreyfus-Affäre liegt zwei Jahre zurück (beendet 1906).

*Herzogin Consuelo de Manchester (1858–1909) ist gestorben.

1901 Februar: Soiree Verdurin.

*Madame Verdurin will die »Ballets Russes« lancieren (Mai 1909).

*Charlus hat die sechzig schon hinter sich (S. 395).

*Die Gattin des österreichischen Botschafters Hoyos (verh. 1913) wird vermisst.

Tod Bergottes.

*Erwähnung der Eheschließung Alberts von Belgien (1902).

*Flughöhen von zweitausend Metern werden erwähnt.

Frühjahr: Flucht Albertines.

E (Die Entflohene)

1901 *Marcel will Albertine einen Rolls-Royce bestellen (Produktion ab 1903).

Tod der Berma.

Sommeranfang: Tod Albertines.

Herbst: Spaziergang im Bois; Begegnung mit Mademoiselle de Forcheville.

1902 Frühjahr: Aufenthalt in Venedig.

Saint-Loup heiratet Gilberte.

Ende Sommer: dritter Besuch in Balbec; Gilberte ist schwanger.

Herbst: Marcels Besuch in Tansonville.

WZ (Die wiedergefundene Zeit)

1902 Herbst: Marcels Besuch in Tansonville (Fortsetzung).

*Erwähnung der Schlacht bei Lüleburgaz (Okt./Nov. 1912).

»längerer« Sanatoriumsaufenthalt

1914 Marcels Sanatoriumsurlaub in Paris.

1916 Marcels Rückkehr nach Paris.

1918 Spaziergang mit de Charlus (2 Jahre vor dem Caillaux-Prozess 1920).

Saint-Loup fällt im Krieg; Kriegsende 11. 11. 1918.

neuerlicher Sanatoriumsaufenthalt von »vielen Jahren«

1919 Matinee der Prinzessin von Guermantes (Gilbertes Tochter ist 16).

Réjane (gest. 1920) macht der Berma Konkurrenz.

1922 Odette ist senil.

1928 Der Erzähler empfängt einen postumen Brief von Charlus.

Die Häufung von Anachronismen in Sodom und in der Gefangenen ist zweifellos besorgniserregend; ein Hiatus von knapp acht Jahren69 zwischen der Soiree der Prinzessin von Guermantes und der zweiten Balbec-Reise dagegen würde das Problem weitgehend beheben und zudem den ersten Sanatoriumsaufenthalt von »langen Jahren« auf ein glaubwürdigeres Maß reduzieren wie auch dem zweiten die »vielen Jahre« ermöglichen, die zu Anfang von Kap. 3 der Wiedergefundenen Zeit erwähnt werden:

SG

1899 Juli: Soiree der Prinzessin von Guermantes.

Charlus ist ein Fünfzigjähriger / in den Fünfzigern (S. 43, 45; 703).

1908 Ostern bis 14. September: zweiter Balbec-Besuch; Swann ist gestorben (S. 511).

Charlus (etwa dreimal so alt wie Morel) begegnet Morel (20/28) (S. 361).

*Erwähnung der Marokko-Politik Caillaux’ 1911 (S. 214).

Erwähnung der Uraufführung von Pelléas et Melisande (1902) (S. 290).

Erwähnung der Aufführung von Anna Karenina 1907 (S. 462).

Erwähnung der Eulenburg-Affäre 1906/09 (S. 479).

Henry Roujons Au milieu des hommes von 1907 wird erwähnt (S. 617).

Ein Motorflugzeug erschreckt Marcel (S. 602).

Albertine (20/28) fährt mit Marcel nach Paris zurück; Agostinelli ist 20.

G

1908/09 Albertine verbringt den Winter bei Marcel.

 

Die Dreyfus-Affäre liegt zwei Jahre zurück (beendet 1906).

Herzogin Consuelo de Manchester (1858–1909) ist gestorben.

Charlus hat die sechzig schon hinter sich (S. 395).

1909 Februar: Soiree Verdurin.

Madame Verdurin will die »Ballets Russes« lancieren (Mai 1909).

*Die Gattin des österreichischen Botschafters Hoyos (verh. 1913) wird vermisst.

Tod Bergottes.

Erwähnung der Eheschließung Alberts von Belgien (1902).

*Flughöhen von zweitausend Metern werden erwähnt.

Frühjahr: Flucht Albertines.

E

1909 Marcel will Albertine einen Rolls-Royce bestellen (Produktion ab 1903).

Tod der Berma.

Sommeranfang: Tod Albertines (S. 89).

Herbst: Spaziergang im Bois; Begegnung mit Mademoiselle de Forcheville.

1910 Frühjahr: Aufenthalt in Venedig.

Saint-Loup heiratet Gilberte.

Ende Sommer: dritter Besuch in Balbec; Gilberte ist schwanger.

Herbst: Marcels Besuch in Tansonville.

WZ

1910 Herbst: Marcels Besuch in Tansonville (Fortsetzung).

*Erwähnung der Schlacht bei Lüleburgaz Okt./Nov. 1912.

»längerer« Sanatoriumsaufenthalt

1914 Marcels Sanatoriumsurlaub in Paris.

1916 Marcels Rückkehr nach Paris.

1918 Spaziergang mit de Charlus (2 Jahre vor dem Caillaux-Prozess 1920).

Saint-Loup fällt im Krieg; Kriegsende 11. 11. 1918.

neuerlicher Sanatoriumsaufenthalt von »vielen Jahren«

1927 Matinee der Prinzessin von Guermantes (Gilbertes Tochter ist 16).

*Réjane (gest. 1920) macht der Berma Konkurrenz.

1928 Der Erzähler empfängt einen postumen Brief von Charlus.

1930 Odette ist senil.

Fünf »Anachronismen« in SG und den Folgebänden bleiben aber dennoch ungeheilt. Zudem müsste Morel als wehrpflichtiger Soldat eher um die zwanzig sein und Charlus bei einem 28jährigen Morel bei seinem zweiten Besuch in Balbec 1908 etwa 84 Jahre alt, zur Zeit der Matinee der Prinzessin von Guermantes 1927 sogar 103 Jahre; tatsächlich aber wird gesagt, dass Charlus’ älterer Bruder, der Herzog von Guermantes, bei der Matinee der Prinzessin von Guermantes 83 Jahre alt ist. Ein Ausweg, den Hachez 1961 andeutet, bestünde in der Annahme, dass Proust sein gesamtes Personal in einem »Zaubersessel« (Swann S. 12) acht Jahre vorwärts katapultiert hat, ohne sie altern zu lassen – insbesondere blieben damit Albertine und Morel 20 Jahre alt; Charlus allerdings würde den Alterungsprozess vom Fünfzigjährigen zum etwa Sechzigjährigen in neun Jahren ordnungsgemäß durchlaufen (»In Paris […] hatte ich nicht bemerkt, wie sehr er gealtert war«, Sodom S. 361). Bei der längeren Chronologie würden sich zudem die Herbstspaziergänge im Bois in Swann III aufgrund der Hutmode im Jahr 1908 oder 1909 ansiedeln und derjenige in der Entflohenen zu einem Spaziergang im Herbst 1909 zusammenführen lassen. In einem Brief an Benjamin Crémieux (1888–1944, ermordet in Buchenwald), der ein zu großes Zeitintervall zwischen der Soiree der Prinzessin von Guermantes und dem zweiten Balbec-Aufenthalt bemängelt hatte, schrieb Proust am 6. 8. 1922: »wenn Sie wollen, können wir es der Bequemlichkeit halber einsteinisieren« (Corr. XXI, S. 403); eine Passage nach der Soiree der Prinzessin und direkt vor dem Szenenwechsel nach Balbec, in der der Aufstieg des Salons Odettes berichtet wird, ist geeignet, eine solche Metamorphose auch des zeitlichen Rahmens in aller Stille vorzunehmen:

Jede Person wurde beim Besuch bei einer anderen zu etwas ganz Verschiedenem. Ohne von den wundersamen Metamorphosen zu sprechen, die sich so an den Feen im Salon von Madame Swann vollzogen, sei gesagt, dass Monsieur de Bréauté, der plötzlich durch die Abwesenheit der Leute, die ihn für gewöhnlich umgaben, durch die zufriedene Miene, mit der er sich dort aufhielt, als habe er, statt zu einem Fest zu gehen, seine Brille aufgesetzt und sich mit der Revue des Deux Mondes eingeschlossen, durch den geheimnisvollen Ritus, dem er zu folgen schien, wenn er Odette besuchte, an Wert gewonnen hatte – Monsieur de Bréauté also schien selbst ein neuer Mensch geworden zu sein. (SG, S. 210.)

Als Grund für die vorgeschlagene ›Einsteinisierung‹ des ›Albertine-Romans‹ (Sodom und Gomorrha II–III) und damit dann zwangsläufig auch der Wiedergefundenen Zeit bietet sich Prousts Freundschaft mit Alfred Agostinelli an, die 1907/08 ihren Anfang nahm und aus der die Beziehung zwischen Marcel und Albertine zahlreiche Anregungen bezogen hat, nicht zuletzt Gefangenschaft, Flucht, Versöhnungsversuche und Unfalltod. Agostinelli war 1913 als Sekretär bei Proust eingezogen, dann im November nach Nizza zu seinem Vater zurückgekehrt und im Mai 1914 bei einem Flugzeugabsturz zu Tode gekommen. Etwa in dieser Zeit, zwischen 1913 und 1916, fand auch die Erweiterung des Homosexualitätsthemas aus einem Kapitel des ursprünglichen dritten Bandes zu einem eigenständigen Band Sodom und Gomorrha statt, der sich in der Folge weiter aufspaltete zu Sodom und Gomorrha I+II, Die Gefangene (Sodom und Gomorrha III) und Die Flüchtige (Sodom und Gomorrha IV).

Der Hiatus zwischen dem dritten und dem vierten Band fügt sich als Extremfall in ein Reihe von chronologischen Diskontinuitäten ein, die den ganzen Text durchziehen und die Jauss unter Hinweis auf Prousts Flaubert-Rezeption als »blancs« (weiße Stellen) bezeichnet. Man sollte dabei jedoch zwei verschiedene Typen unterscheiden; zum einen den Fall, dass ein von der Erzählung vorbereitetes Detail der Erzählung tatsächlich fehlt. Im allgemeinen treten bei Proust an dessen Stelle Überlegungen des Erzählers oder der erzählten Person, die das Vorher und das Nachher des unterdrückten Details verbinden – oft in so geschickter Weise, dass dem Leser die Existenz dieser Leerstelle völlig entgeht. Als Beispiel führt Jauss den Kuss unter der Catleya in Swann an, der trotz seiner Berühmtheit nicht wirklich stattfindet:

Und so hielt Swann es für einen Augenblick, bevor sie es, scheinbar gegen ihren Willen, an seine Lippen sinken ließ, zwischen seinen beiden Händen in einem kleinen Abstand. Er hätte seinem Verstand gern die Zeit gelassen, den Traum, dem er so lange nachgehangen und zu seiner Verwirklichung verholfen hatte, herbeizuholen und sich ihm erkenntlich zu zeigen, wie einem Verwandten, den man herbeiruft, um an dem Erfolg eines Kindes Anteil zu haben, das er sehr liebt. Vielleicht aber heftete Swann auch auf das Gesicht dieser Odette, die er noch nicht besessen und noch nicht einmal geküsst hatte, und die er so das letzte Mal sah, jenen Blick, mit dem man am Tage seiner Abreise eine Landschaft mit sich zu nehmen sucht, die man für immer verlässt. Er war so schüchtern ihr gegenüber, dass er – da dieser Abend, der damit begonnen hatte, dass er ihre Catleyas zurechtsteckte, damit endete, dass er sie besaß – […]. (WS, S. 322 f.)

Solche Diskontinuitäten sind in der Gestalt von Erinnerungslücken eine vertraute Erscheinung und verleihen so dem erzählten Text die Authentizität des Erinnerten, auch wenn sie natürlich in Prousts Roman nicht, wie meist im Alltag, von nur marginaler Bedeutung sind, sondern sich gerade durch die Aussparung der Hauptsache auf die Kompetenz des Lesers verlassen, rekonstruieren zu können, was nicht gesagt wurde – weil es eben deshalb auch nicht gesagt zu werden braucht –, und so einen wesentlichen Beitrag zur kommunikativen Bindung zwischen Erzähler und Leser leisten.

Der andere Typus des »blanc« besteht in einem unvermittelten Wechsel der Perspektive des Erzählers. Auch für diese Art chronologischer Diskontinuität sei das prägnante Beispiel nach Jauss zitiert, Marcels Reise nach Doncières:

[…] mein Wille [reichte] nicht mehr aus, um zu beschließen, nicht nach Paris zurückzufahren und in der Stadt zu bleiben; aber auch nicht, um einen Träger daran zu hindern, meinen Koffer zu nehmen und ihn zu einer Mietkutsche zu tragen, um nicht, indem ich hinter ihm herging, unversehens von dem Seelenzustand des Reisenden überrascht zu werden, der auf seine Sachen achtgibt und dem keine Großmutter zur Seite steht, um nicht mit der Unbeteiligtheit desjenigen, der nicht mehr weiß, was er will, und also wirkt, als wisse er, was er will, in den Wagen zu steigen, und um nicht dem Kutscher die Adresse der Kavallerie-Kaserne zu nennen. Ich nahm an, dass Saint-Loup diese Nacht in dem Hotel übernachten würde, in dem ich absteigen wollte, damit der erste Kontakt mit dieser unbekannten Stadt weniger beängstigend für mich sein würde. Ein Wachtposten ging los, um ihn zu suchen […]. (WG, S. 92.)

In dieser Passage wird erst die Reise im Rückblick als Vergangenes erzählt, dann plötzlich zu einem möglichen Verhalten Saint-Loups in der Zukunft gesprungen, bevor die Ebene der erzählten Gegenwart mit dem Wachtposten etabliert wird, der sich auf die Suche nach Saint-Loup macht. Diese Auflösung der verrinnenden Zeit in eine Abfolge von Episoden, die wie Filmbilder Kontinuität erst durch ihre rasche Aufeinanderfolge entstehen lassen beziehungsweise vortäuschen, ist aus der Gedächtnisforschung70 wie auch aus der Traumanalyse als Grundmuster jeglichen Erinnerns wohlbekannt – und übrigens auch der optischen Wahrnehmung (Fixation und Sakkade). Anders aber als das Alltagserzählen, das zwischen tatsächlich erinnerten Episoden mit Hilfe der Alltagserfahrung interpoliert, um zu einer stimmigen Narration zu kommen, will Proust die tatsächliche Beschaffenheit des Erinnerns bloßlegen und verzichtet deshalb darauf, die Risse in seinem Bauwerk der Erinnerung zu verfugen. Ortega y Gasset71 bemerkt dazu: »Es gibt in den Büchern Prousts keine Handlung, keine Dramatik, kein Fortschreiten. Sie setzen sich aus einer Reihe überaus reichhaltiger, aber statischer Bilder zusammen«, und verweist auf das »Ritardando«, das sich als Konsequenz aus diesem Kompositionsprinzip für den Leser ergibt: »Da wir aber von Natur aus Sterbliche, dynamische Wesen sind, interessiert uns nur die Bewegung. […] Prousts Kunst wirkt auf unseren Drang zu handeln, uns zu bewegen und vorwärts zu streben, wie ein Zaum, der uns ständig zurückhält. Wir leiden wie ein Vogel, der in seinem Käfig immer an das Gitterwerk seines Kerkers stößt.« Vielleicht sollte man besser sagen: der an das Chorgitter in Prousts Kathedrale stößt.

Gegenüber dem langfristigen Hiatus und den kurzfristigen bzw. momentanen »blancs«, die vor allem die Textstruktur prägen, spielen jedoch die mittelfristigen Diskontinuitäten die entscheidende Rolle für das Verständnis des Welt- und Menschenbildes der Suche, die Veränderungen der Personen nämlich, die sich ja womöglich für die jeweilige Person selbst kontinuierlich vollziehen, für den Leser – und für Marcel – jedoch hinter unüberschaubaren Zeitsprüngen liegen. Léon Pierre-Quint72 führt hierfür als besonders markantes Beispiel Swann an, den uns der Autor zu Beginn der Suche in einem ersten Tableau als Schoßkind der Aristokratie und Liebling der Frauen vorstellt, der seine jüdische Herkunft zumindest ignoriert und zum Opfer einer Liebes-Manie wird, dem wir dann aber nach einem Sprung von sechzehn Jahren im Umblättern als einem Vater und Gatten in spießigsten Verhältnissen wiederbegegnen, der sich in republikanischen Kreisen bewegt und von Marcels Vater als ein »ordinärer Aufschneider« apostrophiert wird, und den wir schließlich nach einem weiteren Sprung von fünf Jahren und einer längeren Textstrecke in einem finalen Tableau als vom Tod gezeichneten Mann sehen, der esoterischen Hobbies nachgeht und sich im übrigen auf seine jüdische Herkunft besonnen hat. Diese Bruchzonen zeigt auch das folgende Diagramm sehr anschaulich, in dem die Nummer des Vorkommens von »Monsieur Swann« oder von »Swann« ohne weitere Qualifikation gegen die Stelle des Vorkommens (Textlänge normiert auf 2600) aufgetragen ist. Zugleich demonstriert das Diagramm73 eine weitere Eigenart der Proustschen Erzählweise, dass nämlich niemand abhandenkommt: Swann bleibt auch nach seinem Tod, der in Sodom S. 570 beiläufig erwähnt wird, dem Roman als Erinnerung erhalten:


Der erste Absatz, bei 500, der Übergang von Mädchenblüte I zu Mädchenblüte II, markiert das Ende des ›Swann-Romans‹, der zweite Absatz bei 1300 die Wiederbegegnung mit Swann am Ende von Guermantes (Besuch beim Herzog von Guermantes) und am Beginn von Sodom (Gast bei der Soiree der Prinzessin von Guermantes). Diesen Typus von ›intermittierender Anwesenheit‹, der sich in ähnlicher Weise in entsprechenden Diagrammen ausprägt, weisen fast alle Hauptpersonen auf, so besonders auffällig Odette, Charlus und Albertine, die bei jeder Wiederbegegnung neue überraschende Verhaltensweisen an den Tag legen, so dass der Erzähler aus guten Gründen zum Beispiel von einer »unzählbaren Albertine« spricht:

 

Das erste Plateau (bei 700) markiert die erste Bekanntschaft mit dem ambivalenten jungen Mädchen beim ersten Besuch in Balbec, das zweite, kürzere Plateau (bei 1100) die Wiederbegegnung mit Albertine als Frau und Geliebter Marcels, bevor (bei 1400) der eigentliche ›Albertine-Roman‹ um das undurchschaubare Objekt der Homosexualitätsobsession des Erzählers beginnt. Odette, die die Namen wechselt wie die Familie Saint-Loups (und sich deshalb auch nicht ohne weiteres in einem Diagramm vom obigen Typus darstellen lässt), beginnt in Combray II als Kokotte in Rosa auf Onkel Adolphes Schoß, tritt dann in Swann II als Odette de Crécy im bürgerlichen Salon Verdurin auf, hat in Mädchenblüte II einen Zwischenauftritt als Mademoiselle Sacripant, verkehrt in Guermantes als Madame Swann im Salon der aristokratischen, aber von der Aristokratie gemiedenen Madame de Villeparisis, unterhält in Sodom nach dem Tod von Swann als Madame de Forcheville selbst einen der glänzendsten Salons von Paris, den selbst die Herzogin von Guermantes nicht mehr ignorieren kann, und kehrt schließlich in der Wiedergefundenen Zeit als Geliebte des Herzogs von Guermantes mehr oder weniger zu ihren Ursprüngen zurück.

Françoise dagegen zieht sich nach anfänglicher Prominenz in den Hintergrund einer unauffälligen, aber zuverlässigen Anwesenheit zurück, die um die statistische Mittellinie pendelt:


Die psychologischen Entwicklungen, die von einem Zustand der handelnden Personen zum nächsten geführt haben dürften, müssen vom Leser rekonstruiert werden, wobei ihm zwar der Erzähler mit seinen eigenen Analysen zu Hilfe kommt, jedoch auch immer der Zweifel bleibt, ob diese Rekonstruktionen denn auch wirklich zutreffen. Dies führt Proust höchst eindringlich am Beispiel der Inquisitionen durch, denen Marcel Albertine unterwirft, die ja aber auch lügen mag, und der Detektivarbeit, die Marcel in E unternimmt, um der Vergangenheit der nun toten Albertine doch noch auf die Spur zu kommen, wobei ihm aber nie wirklich klar sein kann, inwieweit denn seine Quellen verlässlich sind. Es ist daher kaum überraschend, dass sich das Wort »doute« (»Zweifel«) sowohl alleinstehend wie auch in der adverbialen Fügung »sans doute« (»zweifellos«, »ohne Zweifel« usw.) in der Suche (knapp 1 Million Wörter) etwa doppelt so häufig findet (0,3 ‰ bzw. 0,7 ‰ der Wörter) wie bei den beiden großen Vorbildern Prousts, Flaubert und Balzac, deren Madame Bovary bzw. Splendeurs et misères des courtisanes als Vergleichstexte herangezogen wurden (beide 0,15 ‰ bzw. 0,33 ‰).

Obwohl durch die beschriebene Schnitttechnik Prousts Figuren in eine Fülle von Einzelaspekten zerlegt werden – Ortega y Gasset spricht von psychologischem Pointillismus, naheliegend wäre freilich auch die Assoziation zu Picassos Multiperspektivismus der dreißiger Jahre –, bleibt ihre Identität durch das Band ihrer sprachlichen Idiosynkrasien bewahrt. Dem genauen Gehör Prousts und vor allem seinem Talent zur Nachahmung, der Persiflage oder, in geschriebener Form, dem Pastiche, verdankt die Suche eine Reihe ihrer hinreißendsten Passagen, so etwa das Diner Norpois zu Beginn von Mädchenblüte I, das Diner Bloch für Marcel und Saint-Loup in Mädchenblüte II oder den Goncourt-Pastiche zu Anfang von Zeit, der zugleich ein Proust-Pastiche ist, wie übrigens auch Albertines sprachliche Ekstase über Gemüse und Eiscrème zu Beginn der Gefangenen. In der Summe aber verleiht diese geradezu psychoanalytische Beobachtung des Sprachverhaltens der Suche die Anziehungskraft, die von dem Text ausgeht, denn eben deshalb erscheinen die einzelnen Akteure des Romans schon bald nach ihrer Einführung so vertraut wie alte Freunde, deren Sprachmarotten man kennt, einzuschätzen und zu schätzen weiß – weil eben gerade die wechselseitige Anerkennung von Sprachspielen oder -spielereien, die stillschweigende Vereinbarung, die hinter der Akzeptanz steht, zu den stärksten Faktoren des »Bonding« zählt. Swanns Zitierintonationen, Saint-Loups überbetonte Modeausdrücke, die exaltierte Musikkritik der Madame Verdurin, die Insistenz der Madame de Gallardon auf ihren »Cousins, den Guermantes«, die Schnitzer des Hoteldirektors in Balbec, das verlegene Gemurmel Saniettes, der kindische Sarkasmus übertriebener Anlautung, in dem sich die Antipoden Albert Bloch und Herzogin von Guermantes mit ihrem »LLLLegrandin« bzw. »KKKKultur« einig sind, die Unsicherheit dagegen in Françoise’ mehrfacher Anlautung von »Bbboches«, und die Insolenz schließlich in Charlus’ geplappertem »B« von »Bourgeois« – das alles kennt man; aber man erkennt es jeweils auch wieder, denn diese scheinbaren Unwesentlichkeiten bilden die eigentlichen Konstanten der Personen in ihrem Wandel nicht nur im Leben, sondern eben auch in der Suche. Alte Klassenkameraden erkennt man oft erst wieder, wenn sie den Mund aufmachen.

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