Handbuch des Strafrechts

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b) Die Erpressung im Preußischen Strafgesetzbuch von 1851

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Unmittelbare Vorläufer des heutigen Erpressungsstrafrechts sind die §§ 234 bis 236 des Preußischen Strafgesetzbuches von 1851. Hier war die heute bekannte Unterteilung in einen „Grundtatbestand“ der Erpressung, nämlich eine qualifizierte Nötigung zur Erlangung eines (Dritt-)Vorteils in § 234 prStGB 1851, und eine qualifizierte sog. gewaltsame Erpressung in § 236 prStGB 1851, die weitgehend der heutigen räuberischen Erpressung entspricht, vorgesehen. Die Vorschriften lauteten:

§ 234: Wer, um sich oder Dritten einen rechtswidrigen Vortheil zu verschaffen, einen Anderen zu einer Handlung oder Unterlassung dadurch zwingt oder zu zwingen versucht, daß er denselben schriftlich oder mündlich mit der Verübung eines Verbrechens oder Vergehens bedroht, macht sich der Erpressung schuldig.

§ 235: Die Erpressung wird mit Gefängniß nicht unter drei Monaten und zeitiger Untersagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte bestraft. Der Schuldige kann zugleich unter Polizei-Aufsicht gestellt werden. Besteht das angedrohte Verbrechen in Mord, Brandstiftung oder Verursachung einer Ueberschwemmung, so wird der Thäter mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren und Stellung unter Polizei-Aufsicht bestraft.

§ 236: Geschieht die Erpressung durch Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben, oder durch Gewalt gegen eine Person, so ist der Thäter gleich einem Räuber (§§ 231, 232, 233) zu bestrafen.

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Schon bei der Entstehung dieser Strafnormen war umstritten, ob die auch später vom Gesetzgeber des Reichsstrafgesetzbuchs übernommene Beschränkung der Drohungsvariante auf Drohungen mit Verbrechen oder Vergehen ausreichend ist oder ob darüber hinaus auch die Erpressung durch Drohung mit an sich erlaubten Mitteln, wie z.B. einer Klageerhebung, unter Strafe gestellt werden solle.[17] Letztendlich wurde aber die restriktive Fassung Gesetz und blieb es bis zum Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuchs im Jahre 1871.

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Im Vergleich zur heutigen Fassung fällt einmal auf, dass nach dem Wortlaut die Erpressung im prStGB kein reines Vermögensdelikt darstellte, sondern die Absicht der Erzielung eines beliebigen Vorteils auf Täterseite genügte (Erpressung als „Nötigung aus gewinnsüchtigen Motiven“). Ob dennoch nur Vermögensvorteile die Erpressung begründen konnten, war daher im zeitgenössischen Schrifttum umstritten.[18] Ferner fehlt auch das Erfordernis eines objektiv eingetretenen Vermögensschadens auf Täterseite. Insoweit handelte es sich jedenfalls noch nicht um ein klassisches „Vermögensverschiebungsdelikt“ im heutigen Sinne. Die Norm stellte vielmehr ein „Unternehmensdelikt“ dar, da bereits der Versuch („zwingt oder zu zwingen versucht“) zur Vollendungsstrafe führte. Zudem fehlt im Tatbestand der einfachen Erpressung, § 234 prStGB 1851, die Tatbestandsvariante der „Gewalt“. Es findet sich allein die qualifizierte Personengewalt im Tatbestand der gewaltsamen Erpressung, § 236 prStGB 1851. Aus heutiger Sicht interessant sind die Bemühungen des damaligen Schrifttums, zu einer randscharfen Trennung von Erpressung und Raub anhand der inneren Willensrichtung zu gelangen.[19]

3. Die Erpressung im Reichsstrafgesetzbuch von 1871

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Als im Zuge der Reichseinigung der Norddeutsche Bund 1867 die Kompetenz zur Strafgesetzgebung erhielt, zeichnete sich bald ab, dass das kommende Reichsstrafrecht maßgeblich auf der Grundlage des Preußischen Strafgesetzbuches von 1851 ruhen würde.[20] Der erste Entwurf zum Strafgesetzbuch des Norddeutschen Bundes (Entwurf Friedberg) übernahm daher auch – im Hinblick auf die Erpressung – die §§ 234 und 236 prStGB und fügte lediglich eine Qualifikation für den Fall der Drohung mit Mord, Brandstiftung oder Überschwemmung hinzu (§ 231 Abs. 2 E-Friedberg). Die Erweiterung des Tatbestands auf sämtliche Drohungen (und nicht nur auf solche mit der Begehung eines Verbrechens oder Vergehens) erfolgte dann auf Antrag Dobrindts in der XX. Sitzung der Bundesratskommission von 1869.[21]

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Im Reichsstrafgesetzbuch von 1871[22] wurde die Erpressung zwar in enger Anlehnung an das preußische Recht, inhaltlich aber wesentlich weiter ausgestaltet. Eine Regelung fand sich, wie auch heute, in den §§ 253–255 RStGB. Nach heutigem Verständnis würde man sie als Nötigung einstufen, die auf die Erlangung eines Vermögensvorteils abzielt. Die Vorschriften lauteten:

§ 253: Wer, um sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvortheil zu verschaffen, einen Anderen durch Gewalt oder Drohung zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nöthigt, ist wegen Erpressung mit Gefängniß nicht unter einem Monat zu bestrafen. Der Versuch ist strafbar.

§ 254: Wird die Erpressung durch Bedrohung mit Mord, mit Brandstiftung oder mit Verursachung einer Ueberschwemmung begangen, so ist auf Zuchthaus bis zu fünf Jahren zu erkennen.

§ 255: Wird die Erpressung durch Gewalt gegen eine Person oder unter Anwendung von Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben begangen, so ist der Thäter gleich einem Räuber zu bestrafen.

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Anders als in § 234 prStGB reichte ein „Unternehmen der Tat“ also nicht mehr aus, die Erpressung musste vielmehr vollendet sein. Zudem wurde der Vermögensbezug („rechtswidriger Vermögensvortheil“) nun deutlich herausgestellt, es reichte also nicht mehr jeder „Vorteil“ aus. Schließlich wurde das Nötigungsmittel auf „Gewalt oder Drohung“ allgemein erweitert, also nicht mehr die Bedrohung gerade mit der Verübung eines Verbrechens oder Vergehens gefordert. Im Vergleich zur heutigen Fassung fällt insbesondere die Weite der „Drohungsvariante“ auf. Da – anders als heute – kein zusätzliches Erfordernis der „Verwerflichkeit“ der Tat bestand, erfasste der Wortlaut der Norm zahllose Konstellationen sozialüblicher Einwirkungen auf die Willensfreiheit anderer Personen. Dieses Problem wurde in der zeitgenössischen Kommentarliteratur durchaus gesehen. Man versuchte daher die strafwürdigen von den nicht strafwürdigen Fällen teilweise dadurch zu scheiden, dass man in bestimmten Fällen dem Opfer die vom Tatbestand angeblich vorausgesetzte metus iustus (gerechte Furcht) absprach (etwa im Fall der Drohung mit einer unbegründeten Klageerhebung).[23] Schwierigkeiten warf aber auch die Abgrenzung der einfachen Erpressung von Raub und räuberischer Erpressung auf, weil der Reichsstrafgesetzgeber, anders als viele Partikularstrafgesetzbücher, die Tatbestände nicht komplementär ausgestaltet hatte. Die Abgrenzung von Erpressung und Raub wurde über den Begriff der „leichten Gewalt“ (also Gewalt, die nicht gegen eine Person stattfand) gesucht, aber letztlich nicht überzeugend gefunden.[24] Auch war § 253 RStGB (mit einem sehr frühen Vollendungszeitpunkt) als „kupiertes Erfolgsdelikt“ ausgestaltet. Es reichte die Absicht, sich einen „rechtswidrigen Vermögensvortheil“ zu verschaffen. Im Gegensatz zum heutigen Recht musste aber nicht einmal ein Vermögensschaden eingetreten sein, es reichte eine Nötigung eines anderen zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung aus.[25] Auch eine Schädigungsabsicht war nicht erforderlich.

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Prägend für die Rechtspraxis der Erpressung während des Kaiserreichs war im Übrigen ihre Instrumentalisierung zur Unterdrückung von Arbeitskämpfen. Die weite und unbestimmte Fassung des Tatbestands ermöglichte es dem Reichsgericht in einer Reihe von Leitentscheidungen, die Durchführung von Streiks oder die Organisation von Arbeitern im Vorfeld von Streiks als Erpressung strafrechtlich zu ahnden. So hat das Reichsgericht die Drohung mit der Arbeitseinstellung oder mit einer Nichtwiederaufnahme selbst dann als „Drohung“ im Sinne des § 253 RStGB aufgefasst, wenn der Arbeitnehmer nach seinem Arbeitsvertrag zur sofortigen Arbeitsniederlegung bzw. Kündigung berechtigt war.[26]

4. Die Erpressung in den Reformentwürfen des Kaiserreichs und der Weimarer Republik

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Schon bald nach dem Inkrafttreten des StGB setzte im Kaiserreich eine rege Reformdiskussion ein, die auch die Vorschriften der Erpressung umfasste. Schon der erste große Reformentwurf, der E 1909, sah eine Neuregelung der Erpressung in § 275 vor. Diese sollte als eine dem Raub subsidiäre Nötigungsvorschrift ausgestaltet werden. Voraussetzung der Erfüllung des Tatbestands war das Abnötigen eines Vermögensnachteils mit Gewalt oder Drohung in der Absicht, einen „unrechtmäßigen Gewinn“ zu erzielen. Eine Qualifikation für Fälle der räuberischen Erpressung war im E 1909 nicht vorgesehen.[27] Bewusst verzichtet wurde auf eine nähere Eingrenzung der „Drohung“, insbesondere auf die Abgrenzung von erlaubten und unerlaubten Drohungen, denn man glaubte, mit dem Merkmal der „Absicht unrechtmäßigen Gewinns“ insoweit die nicht strafwürdigen Fälle ausscheiden zu können.[28] Die Probleme dieses Ansatzes legte Mittermaier bereits ein Jahr später dar[29] und schlug vor, die Erpressung unter den Vorbehalt zu stellen, dass bei einer „nicht an sich rechtswidrigen Drohung“ die „Vermögensaufwendung nicht mehr eine den Verhältnissen angemessene Gegenleistung für die Abwendung des Zwanges sein [darf]“.[30]

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Einen entgegengesetzten Standpunkt nahm der Gegenentwurf 1911 ein. Dieser verlangte in § 320 ausdrücklich einen „dem Recht zuwiderlaufenden Vorteil“, um Situationen auszuscheiden, in denen der Täter Druck ausübt, um einen Vermögensvorteil zu erlangen, auf den er zwar keinen Anspruch hat, der aber gleichwohl als sozialüblich erachtet wurde, so z.B. wenn der Beleidigte die Rücknahme seiner Privatklage von der Zahlung einer „Geldbuße an die Armenkasse“ abhängig macht.[31]

 

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Der E 1913, der kriegsbedingt erst 1920 veröffentlicht wurde, nahm die Kritik an der Weite des E 1909 teilweise auf und verlangte in § 365 für die Erpressung – in der Drohungsvariante – entweder die Drohung mit einem „anderen rechtswidrigen Verhalten“ oder eine „Drohung, die den Gewohnheiten des redlichen Verkehrs widerspricht“. Ähnlich restriktiv war die Fassung in § 370 des E 1919, der bei der Drohung allein die Drohung mit einem Verbrechen oder Vergehen oder einer Strafanzeige bzw. „anderen Nachteilen für Ehre oder guten Ruf“ genügen ließ. Dass der Tatbestand auf diese Weise auf Fälle der Gewalt und auf die Chantage eingeengt worden wäre, wurde von den Entwurfsverfassern gesehen, doch stellten sich diese auf den Standpunkt, dass eine zu enge Tatbestandsfassung einer zu weiten gegenüber vorzugswürdig sei.[32]

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Die weiteren Bemühungen um eine Totalreform des Reichsstrafgesetzbuches begannen mit dem Entwurf Radbruch, der im Zeichen einer liberalen Neuordnung des Strafrechts stand und u.a. auf die Todesstrafe und eine Vielzahl von Sittlichkeitsdelikten verzichtete. Dieser Entwurf übernahm die enumerative Technik des E 1919 und ließ in § 298 für die Erpressung das Merkmal der „gefährlichen Drohung“ ausreichen. Diese wiederum wurde in § 11 Nr. 7 StGB-E als „Drohung mit Gewalt, mit einem Verbrechen oder Vergehen, mit einer Strafanzeige oder der Offenbarung einer Tatsache, die geeignet ist, den Ruf zu gefährden“ legal definiert. Der vom Reichskabinett schließlich dem Reichsrat zur Beratung vorgelegte E 1925 verwässerte zwar in vielerlei Hinsicht den liberalen Impetus des Radbruchschen Reformentwurfs, ließ jedoch die Vorschriften zur Erpressung unverändert.[33] Auch die Beratungen im Reichsrat, die in der Reichstagsvorlage des E 1927 gipfelten, führten lediglich zu redaktionellen Änderungen. Bemerkenswert an diesem Reformvorschlag war einerseits die sehr enge tatbestandliche Begrenzung der Erpressung, die ausdrücklich unter Hinweis auf die als misslich empfundene Arbeitskampfrechtsprechung des Reichsgerichts gewählt wurde.[34] Andererseits fällt das völlige Fehlen einer Strafvorschrift zur räuberischen Erpressung auf. Letztere war in den Entwürfen gegenüber dem Verbrechen des Raubes insoweit deutlich privilegiert.

5. Die Erpressung im Nationalsozialismus

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Die Diskussion einer Strafrechtsreform im Nationalsozialismus stand zwischen Kontinuität und Umbruch[35] und wurde von einer Vielzahl von Akteuren getragen. Die Kontinuität zeigte sich im E 1933 des Reichsjustizministeriums, der schlicht eine überarbeitete Version des E 1927 darstellte. Hinsichtlich des Erpressungstatbestandes behielt der Entwurf die Regelungstechnik des Vorentwurfs bei, erweiterte diesen aber entscheidend. Denn die „gefährliche Drohung“ nach § 9 Nr. 7 StGB-E sollte nun auch die Androhung eines „anderen empfindlichen Übel[s]“ erfassen, „wenn es gegen die guten Sitten verstößt, dieses Übel zu dem verfolgten Zweck anzudrohen oder zuzufügen“. In der Sache war damit vieles vorweggenommen, was zehn Jahre später Gesetz werden sollte. Dem entsprach auch der E 1936, der die Vorschrift nur redaktionell umgestaltete.[36] Die noch in der Weimarer Zeit angestrebte rechtsstaatliche Begrenzung des Tatbestands war den Zielen des nationalsozialistischen Strafrechts, eine Auflockerung der Begrenzungsfunktion des Strafrechts zu erreichen, ohnehin zuwider. So enthielten beide Reformentwürfe das mittlerweile Gesetz gewordene Analogiegebot in § 2 RStGB. Weitere Reformüberlegungen stellte auch die 1933 gegründete Akademie für Deutsches Recht an.

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Der Krieg verhinderte jedoch die geplante Totalreform des Strafrechts.[37] Eine Veränderung erfuhr der Straftatbestand der Erpressung indes mit der Strafrechtsangleichungsverordnung vom 29. Mai 1943.[38] Durch Art. 3 dieser VO erhielt § 253 RStGB nun folgende, dem heutigen Leser durchaus vertraute Fassung:

(1) Wer einen anderen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt und dadurch dem Vermögen des Genötigten oder eines anderen Nachteil zufügt, um sich oder einen Dritten zu Unrecht zu bereichern, wird wegen Erpressung mit Zuchthaus oder mit Gefängnis nicht unter sechs Monaten bestraft.

(2) Rechtswidrig ist die Tat, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Zufügung des angedrohten Übels zu dem angestrebten Zweck dem gesunden Volksempfinden widerspricht.

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In der Sache stellt der Entwurf also eine punitive Mischung aus den Ansätzen des E 1933 und des E 1936 dar. Auffällig ist die für das nationalsozialistische Strafrecht typische Bezugnahme auf das „gesunde Volksempfinden“ in Absatz 2. Eine randscharfe Abgrenzung von strafbarem und nicht strafbarem Verhalten war vom Verordnungsgeber nicht beabsichtigt, die offene Rechtswidrigkeitsklausel des Absatzes 2 schuf vielmehr die Möglichkeit, die Strafnorm „flexibel“ zu handhaben. Andererseits wurde der Vollendungszeitpunkt nach hinten verschoben: Verlangt wurde nunmehr der tatsächliche Eintritt eines Vermögensschadens des Genötigten oder eines Dritten, sodass ein Gleichlauf mit dem Betrug hergestellt werden konnte. Andererseits wurde die in § 254 RGStB a.F. noch enthaltene Qualifikation der „schweren Erpressung“ durch die Strafrechtsangleichungsverordnung gestrichen.

6. Die Erpressung in der Nachkriegszeit

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Nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wurden durch das Kontrollratsgesetz Nr. 1 bestimmte nationalsozialistische Strafgesetze aufgehoben. Die durch die Strafrechtsangleichungsverordnung von 1943 getroffenen Regelungen blieben jedoch in Kraft. Allerdings verbot die Kontrollratsproklamation Nr. 3 Ziff. II. 2 die Strafbegründung mit dem Verweis auf das „gesunde Volksempfinden“. In der Nachkriegszeit stellte sich daher bald die Frage, ob Verurteilungen auf den Tatbestand des § 253 RStGB in der Fassung von 1943 gestützt werden konnten, oder ob die Strafvorschrift durch die Gesetzgebung des Alliierten Kontrollrats (insgesamt) aufgehoben worden war. Ein Teil der Rechtsprechung nahm an, dass § 253 RStGB n.F. (bzw. der insoweit inhaltsgleiche § 240 RStGB n.F.) unwirksam seien, weil sie untrennbar mit typisch nationalsozialistischer Strafrechtssetzung verbunden waren.[39] Demgegenüber ging die überwiegende Anzahl der mit der Frage befassten Gerichte davon aus, dass die §§ 240, 253 RStGB n.F. zwar möglicherweise eine nationalsozialistische Diktion verwendeten, aber ihrer Weitergeltung keine durchgreifenden Bedenken entgegenstünden.[40] Eine vermittelnde Ansicht ging von der grundlegenden Fortgeltung der §§ 240 Abs. 1, 253 Abs. 1 RStGB aus, wollte aber den Absatz 2 jeweils unangewendet lassen bzw. durch das Merkmal der „guten Sitten“ oder durch eine allgemeine Rechtswidrigkeitsprüfung ersetzen.[41]

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Der BGH schloss sich dann der Ansicht derjenigen Obergerichte an, die eine unbeschränkte Fortgeltung des reformierten Erpressungstatbestandes befürworteten. Die Kontrollratsproklamation verbiete insoweit nur eine nationalsozialistische Interpretation des „gesunden Volksempfindens“, es sei dem Richter aber nicht verwehrt, bei der Einschränkung des Tatbestandes das Rechtsempfinden des Volkes zu berücksichtigen.[42] Durch das Dritte Strafrechtsänderungsgesetz vom 4. August 1953[43] wurde die sprachlich anstößige Formulierung des § 253 Abs. 2 StGB, den die Norm durch die Reform von 1943 erhalten hatte, dann aber endgültig beseitigt und der Tatbestand erhielt im Wesentlichen die heutige Fassung. Großen Einfluss auf die Erpressungsstrafbarkeit hatte in der Folgezeit dann insbesondere die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, nach der Streiks im Rahmen des Tarifvertragsrechts als rechtmäßig anzusehen waren.[44] Die Erpressung hatte damit ihre Funktion als Instrument zur Bekämpfung von Arbeitsniederlegungen eingebüßt. Zeitgleich setzte der Bundesminister der Justiz, Fritz Neumayer, die Große Strafrechtskommission ein, die umfassende Vorschläge zur Reform des deutschen Strafrechts erarbeitete, die im sog. E 1962 gipfelten. Für das Recht der Erpressung sah der E 1962 aber keine grundlegende Umgestaltung vor.

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Die früher in § 253 Abs. 1 S. 2 StGB vorgesehene Strafschärfung für (unbenannte) besonders schwere Fälle wurde durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz von 1994 mit Regelbeispielen in Absatz 4 überführt.[45] Seit 1998 wird die genötigte Person nicht mehr als „anderer“, sondern als „Mensch“ bezeichnet.[46]

II. Kriminologische Bedeutung und Erscheinungsformen der Erpressung[47]

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Kennzeichnend für die Erpressung ist stets die zwingende Mitwirkung des Erpressungsopfers bei der Tat. Denn um den Taterfolg herbeizuführen, „muss“ (jedenfalls nach der hier vertretenen Ansicht[48]) das Opfer selbst die Vermögensverfügung vornehmen, also an der Tat mitwirken, und kann sich auf diese Weise „frei kaufen“.[49] Diese Mitwirkung ist dogmatisch mit der Rechtsfigur der notwendigen Teilnahme zu bewältigen. Dennoch steht man bei der Erpressung vor der Situation, dass die Vollendung der Straftat nur deshalb möglich ist, weil sich die potenziellen Opfer „unsolidarisch“ bzw. „egoistisch“ verhalten. Wäre klar, dass sich künftig niemand mehr einer Erpressung beugen würde, würde diese Kriminalitätsform rasch aussterben.[50] Auch Fälle des erpresserischen Menschenraubes blieben folgenlos und würden in der Folgezeit aufhören, wenn niemand die Opfer freikaufen würde. Weil eine konsequente Opfersolidarität dem betroffenen Individuum jedoch kaum zumutbar ist (und das einzelne Opfer zudem auf die Solidarität der anderen Opfer nicht ernsthaft vertrauen kann), lässt sich diese Einsicht praktisch nur bei einigen besonderen Opfern (Verkehrsbetriebe, Lebensmittelindustrie etc.) umsetzen. Dies gilt insbesondere auch für den Staat,[51] der sich – im Gegensatz zu Privatpersonen – nicht erpressen lassen „darf“.

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Die Skala erpresserischer Verhaltensweisen reicht von fast noch sozialadäquatem, im Geschäftsleben üblichem und erlaubtem Druck bis hinein in die Schwerstkriminalität (Kindesentführung, Menschenraub). Diese Breite liegt an der besonderen Rechtsgutskombination, die sich dadurch auszeichnet, dass der Erpresser mit seiner Tathandlung zwar auf das Vermögen zielt, der erpresserische Angriff sich aber zugleich auf andere Rechtsgüter richtet (bis hin zum Angriff auf das Leben).[52] Bei der räuberischen Erpressung, § 255 StGB, besteht kriminologisch bzw. kriminalpolitisch kein Unterschied mehr zum Raub. Die besonders schweren Formen der Erpressung, nämlich der erpresserische Menschenraub und die Geiselnahme (§§ 239a, 239b StGB), sind zwar in der Praxis selten, nehmen aber kontinuierlich zu: Im Jahr 1975 gab es 34, im Jahr 1985 dagegen insgesamt 66 Verurteilte (jeweils alte Bundesländer). Diese Zahl wuchs in den Folgejahren weiter: Im Jahr 2005 gab es 171 und im Jahr 2011 insgesamt 186 Verurteilte.[53] In den letzten Jahren ist jedoch ein leichter Rückgang festzustellen. Die Zahl der Verurteilungen für das Jahr 2013 sank auf 146[54] und für das Jahr 2016 auf 104[55] Verurteilungen, im Jahr 2018 gab es gar nur 89[56] Verurteilungen. Dabei handelte es sich stets um spektakuläre, die Öffentlichkeit erregende und das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung besonders beeinträchtigende Straftaten. Sie eignen sich daher besonders gut zur Ausbeutung durch sensationelle Berichterstattung, die nicht immer auf das Leben eines entführten Kindes oder einer Geisel Rücksicht nimmt.[57]

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Was die einfache Erpressung, § 253 StGB, betrifft, fällt sie nach der Verurteilungsstatistik zahlenmäßig ebenfalls kaum ins Gewicht und belief sich im Schnitt etwa auf 600 Verurteilungen im Jahr.[58] Insgesamt wurden regelmäßig recht niedrige Strafen ausgesprochen. Höher sind die Verurteiltenzahlen hingegen bei der räuberischen Erpressung (im Jahr 2018 gab es hier 2246 Verurteilungen und im Jahr 2016 2393 Verurteilte).[59] Was ihre Rolle in der Wirklichkeit angeht, wird in der kriminologischen Literatur allerdings darauf hingewiesen,[60] dass man eine grobe Unterteilung in eine – zahlenmäßig bis zum Beginn der 1990er-Jahre im Vordergrund stehende – Schweigegelderpressung (Chantage) und eine Bedrohungserpressung (ausbeuterische Erpressung)[61] vornehmen kann. Verstöße des Erpressungsopfers, insbesondere gegen die herrschende Sexual- und Steuermoral, machen das Opfer insbesondere für eine Schweigegelderpressung anfällig. Dabei ist allerdings eine geringe Anzeigebereitschaft zu vermuten – und damit eine hohe Dunkelziffer. Die Bedrohungserpressung dürfte dagegen häufiger angezeigt werden, wenn man von der Zuhälterei als einem alten Prototyp der modernen Schutzgelderpressung absieht. Weil es der Polizei in aller Regel gelingt, den Erpresser in diesen Fällen zu überführen, ist die Bedrohung sicherer durch die Anzeige des Erpressers als durch die Erfüllung der erpresserischen Forderungen abzuwenden. Auffallend ist aber dennoch der kontinuierliche Anstieg der (einfachen) Erpressungen,[62] welcher in der polizeilichen Kriminalstatistik bis etwa ins Jahr 2000 sichtbar wird (1980 = 3154 Fälle; 1990 = 2680 Fälle; 1992 = 3956 Fälle; 1994 = 5679 Fälle; 1996 = 6791 Fälle; 1998 = 7026 Fälle). Der Trend nahm dann zwischendurch wieder etwas ab (2004 = 6127 Fälle; 2005 = 5862 Fälle; 2006 = 5838 Fälle; 2008 = 5185; 2010 = 5528 Fälle).[63] Im Jahre 2011 ist die Zahl jedoch wieder auf 7149 gestiegen.[64] Dieser Trend setzte sich auch in den folgenden Jahren fort. Im Jahr 2012 stieg die Zahl auf 9920 und für das Jahr 2013 wurden 12 496 Fälle erfasst,[65] im Jahr 2015 sogar 24 971 Fälle.[66] Im Jahre 2016 hingegen waren es wiederum nur 7826,[67] im Jahr 2017 insgesamt 7434[68] und im Jahr 2018 wieder 10 759 Fälle.[69] Auffallend niedrig ist, wie erwähnt, aber die Zahl der Verurteilten, steht doch mit der Anzeige, also in fast allen Fällen, die polizeilich bekannt werden, ein Tatverdächtiger fest.[70] Der Versuchsanteil liegt bei den polizeilich bekannt gewordenen Erpressungen weit über 50 % (im Jahre 2013 standen der Verurteilung von 181 vollendeten Taten insgesamt 352 Versuchstaten gegenüber,[71] im Jahre 2016 wurden 144 vollendete und 455 versuchte Taten[72] und im Jahr 2018 insgesamt 132 vollendete und 461 versuchte Taten ausgewiesen[73]). An sich wäre sogar ein noch höherer Versuchsanteil plausibel, dürfte eine Anzeige doch eher statt als nach einer Zahlung an den Erpresser erfolgen. War die Aufklärungsquote im Jahr 2010 mit 82,1 % noch sehr hoch,[74] verschlechterte sie sich rapide auf nur noch 42,4 % im Jahr 2013.[75] Vom Täterkreis her fällt die überdurchschnittliche Zahl von jugendlichen oder heranwachsenden Tätern auf. Für die räuberische Erpressung stellt diese Tätergruppe, mit leichten Schwankungen in den letzten Jahren, zwischen 50 % und 60 % aller Abgeurteilten dar, im Bereich der einfachen Erpressung hingegen lediglich zwischen 20 % und 30 %.[76]

 

8. Abschnitt: Schutz des Vermögens › § 32 Erpressung und räuberische Erpressung › C. Hauptteil