New Order, Joy Division und ich

Text
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Komm her und nimm Platz, Bernard. Da gibt es etwas, worüber wir mit dir sprechen möchten.“ Mein Mund wurde trocken. Was hatte ich dieses Mal wieder angestellt?

Ich hatte das Gefühl, dass da etwas nicht stimmte. In den letzten paar Wochen war es öfters einmal vorgekommen, dass ich ins Wohnzimmer kam und die Menschen darin plötzlich verstummten. Oder ich war in meinem Schlafzimmer und hörte Gemurmel von unten zu mir nach oben dringen. Da waren Großmutter, Großvater, Mum und Jimmy, die sich im Flüsterton miteinander unterhielten. Ich hatte mir deswegen das Gehirn zermartert, konnte mir aber beim besten Willen nicht ausmalen, was ich denn ausgefressen hatte. Es war ganz offensichtlich etwas Ernstes, da es zuvor noch nie so eine lange, dramatische Phase der Ungewissheit gegeben hatte. Ich setzte mich also hin, zupfte nervös an der Naht des Sitzkissens und blickte abwechselnd meine Mutter und Jimmy an. In meinem Magen hatte sich eine vertraute Angst eingenistet. Meine Mutter hielt einen kurzen Augenblick lang inne.

„Wir werden hier ausziehen, Bernard“, sagte sie. „Du, ich und Jimmy. Wir übersiedeln in eine neue Wohnung in Greengate.“

Es dauerte einen Moment, bevor ich verstand. Zuerst verspürte ich Erleichterung, da ich wohl doch nicht in Schwierigkeiten steckte, aber schon bald erfasste mich eine Welle massiver Verwirrung. Ich hatte mich bereits auf eine Bestrafung eingestellt, aber das war nun etwas komplett Unvorhergesehenes, und ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte.

„Es ist eine nette Wohnung“, fuhr sie fort, „in einem der neuen Blocks. Sie hat ein Badezimmer und alles. Es ist gar nicht weit weg. Wir können also jederzeit auf Besuch hierherkommen.“

Ich sah sie bloß an und wusste nicht, was ich davon halten beziehungsweise dazu sagen sollte.

„Außerdem …“, sie stockte kurz und sah Jimmy an. „Außerdem wird Jimmy jetzt dein Vater sein. Es ist nun offiziell. Jimmy adoptiert dich. Von jetzt an ist dein Name nicht mehr Bernard Sumner, sondern Bernard Dickin.“

Ich wusste immer noch nicht, was ich sagen sollte, aber es war klar, dass die Sache nicht zur Diskussion stand. Sie ließen mich im Zimmer zurück und ich ging alles noch einmal durch, um aus dem, was meine Mutter gesagt hatte, schlau zu werden. In eine Wohnung zu ziehen – gut, das war ziemlich aufregend. Ich erinnerte mich daran, wie sehr ich den Ausblick von der Wohnung meiner Urgroßmutter aus genossen hatte. Außerdem würden wir ja wirklich nicht allzu weit von der Alfred Street wohnen. So weit klang es nach einem Abenteuer. Die Ankündigung, dass Jimmy von nun an mein Dad sein und ich seinen Nachnamen annehmen würde, war da schon etwas ganz anderes und schwerer zu begreifen. Immerhin war ich seit dem Tag meiner Geburt ein Sumner gewesen. Es war der Name meiner Mutter. Es war der Name meiner Großeltern, die ich liebte und in deren Haus ich aufgewachsen war. Es war mein Familienname, ein Teil von mir. Es war im Grunde der konkreteste Ausdruck meiner Identität, den ich vorzuweisen hatte. Und trotzdem war ich jetzt – ohne dazu befragt worden zu sein – ein Dickin, und nicht länger ein Sumner. Was Jimmy als neuen Vater betraf, so war ich die elf Jahre zuvor ausgezeichnet ohne einen ausgekommen. Nun wurde mir mehr oder weniger einer aufgedrängt. Ich dachte an Großvater, jenen Mann, der für mich immer wie ein Vater gewesen war. Nicht nur wurde er nun seiner bisherigen Rolle beraubt, auch sein Name wurde ausgelöscht.

Ich war entschlossen, dies nicht zuzulassen. Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr verabscheute ich es, vor solch vollendete Tatsachen gestellt worden zu sein. Ich gab Jimmy keine Schuld daran. Er konnte ja nichts dafür. Mein Verhältnis zu ihm war in Ordnung. Aber er war zu spät in mein Leben getreten, um irgendeine Vaterrolle für mich übernehmen zu können. Als Mensch war er okay. Er war still. Die Dinge, die mir an ihm am besten in Erinnerung geblieben sind, waren, dass er einerseits eine sehr kräftige rechte Hand hatte und dass er andererseits ein sehr guter Schachspieler war. Auch sein Leben war sehr hart. Obwohl er selbst mit einem ziemlich schweren Handicap zurechtkommen musste, arbeitete er als Reinigungskraft in einer Baumwollspinnerei, was einigermaßen beschissen gewesen sein muss. Ich respektierte Jimmy, aber ich fühlte keinerlei emotionale Verbindung zu ihm, nicht einmal irgendeine Verbindung. Wir unterhielten uns nicht mal besonders häufig.

Ich muss Jimmy allerdings zugutehalten, dass er sich echt gut um meine Mutter kümmerte, obwohl ich mich auch an lautstarke Auseinandersetzungen erinnere, nachdem sie erst einmal verheiratet waren. Meine Mutter sprang mit Jimmy um, wie sie das auch mit mir tat – auch ihn ließ sie nicht gerne vor die Türe. Wenn er einmal spät von der Arbeit nachhause kam, führte das zu massiven Unstimmigkeiten zwischen den beiden. Ich steckte mir dann in meinem Zimmer die Finger in die Ohren, um meine Ruhe zu haben, aber ich konnte sie immer noch schreien hören. Das war echt unangenehm. Die Lage entspannte sich allerdings, sobald wir in die Wohnung gezogen waren. Vielleicht half es ihnen ja, nun ihr eigenes Rückzugsgebiet zu haben. Ich denke, dass dies wahrscheinlich hinter der Idee mit dem Umzug steckte.

Als sich die Aufregung angesichts unserer Übersiedelung erst einmal gelegt hatte, realisierte ich, was für ein Abschiedsschmerz damit verbunden war, die Alfred Street hinter uns zu lassen. Natürlich hatte ich Verständnis dafür, warum meine Mutter beschlossen hatte, in eine eigene Wohnung zu ziehen. Ganz unabhängig von ihren gesundheitlichen Problemen: Sie war eine Frau in ihren Mittdreißigern, die immer noch bei ihren Eltern lebte.

Ich musste mich schnell daran gewöhnen, dass wir – Mum, Jimmy und ich – nun nur mehr zu dritt waren. Das war eine enorme Umstellung für einen kleinen Jungen, der bis dahin nur das Leben im Hause seiner Großeltern gekannt hatte.

Anfangs fand ich unser neues Zuhause fantastisch. Es fühlte sich an, als sei es das Beste, was mir je passiert war. Wir wohnten zwar ziemlich weit unten im Gebäude, weshalb sich mir nicht dieselbe atemberaubende Aussicht wie bei meiner Urgroßmutter bot. Allerdings hatten wir ein ordentliches Badezimmer inklusive Wanne, was wir in der Alfred Street nicht gehabt hatten. Außerdem hatten wir auch einen Boiler und einen Wäschetrockenschrank. Bald schon begriff ich, dass man sich in diesen Wäschetrockenschrank zurückziehen konnte, wenn man die Heizung aufdrehte. Das war dann wie in einer Sauna.

Von meinem Zimmer aus konnte ich ein kleines, hageres Bäumchen sowie einen Flecken Gras sehen. Ich blickte gewohnheitsmäßig darauf und dachte mir, wie glücklich ich mich schätzen durfte, hier zu wohnen. Immerhin hatten wir ein Bäumchen und einen Rasen, und eben einen Wäschetrockenschrank und eine Badewanne. Anfangs war ich richtiggehend geplättet von allem. Aber natürlich wurden mir mit der Zeit auch die zahlreichen Nachteile bewusst. Es gab hier kein Gemeinschaftsgefühl. Die Blockgebäude isolierten die Leute voneinander, besonders die alten, die zuvor noch so reichhaltige soziale Existenzen geführt hatten. Hier konnte man nirgendwo einen Stuhl aufstellen und sich in die Sonne setzen, um ein Schwätzchen mit den Nachbarn zu halten. Für uns Kinder gab es keine Straße, auf der wir spielen konnten, keinen Wasserschlauch, um uns im Sommer gegenseitig nass zu spritzen. Diese Wohntürme waren zwar vermutlich auf dem Papier eine tolle Idee, doch konnten sie den Ansprüchen ihrer Bewohner leider nicht gerecht werden. Sie waren eine streng wirtschaftliche Lösung, und der Preis, den die Menschen zahlen mussten, war hoch. Denn selbstverständlich waren es nicht die Architekten und Stadtplaner, die dort leben mussten.

Ungefähr zur selben Zeit, als wir in unsere Wohnung einzogen, verschlechterte sich der allgemeine Gesundheitszustand unserer Familie. Bei meinem Großvater wurde ein Gehirntumor diagnostiziert und er musste sich im Jüdischen Krankenhaus, das sich damals in der Nähe des Strangeways Prison befand, einer Operation unterziehen, bei der ihm der Tumor entfernt wurde. Keine Ahnung, warum er in einem jüdischen Krankenhaus lag, denn er war kein Jude. Aber obwohl wir uns eine Weile große Sorgen um ihn machten, war die Operation ein Erfolg. Leider stellte sich aber heraus, dass das nur der Anfang von allem sein würde. Schon bald nachdem mein Großvater aus dem Krankenhaus entlassen worden war, musste sich meine Großmutter dorthin begeben, da sie sich wegen ihres grünen Stars operieren lassen musste. Ein routinemäßiger Eingriff, der in den Krankenhäusern permanent durchgeführt wurde. In diesem Fall aber lief irgendetwas katastrophal falsch und meine Großmutter verlor ihr Augenlicht. Solange sie lebte, sollte sie nie wieder etwas sehen. Abgesehen davon, dass die Erblindung meiner Großmutter für sich schon eine absolute Tragödie war, waren die Auswirkungen auf meine Familie niederschmetternd. Sie war meiner Mutter stets eine große Hilfe gewesen und obwohl wir umgezogen waren und nun Jimmy hatten, hatte meine Großmutter weiterhin geholfen – doch nun ging das nicht länger. Es bedeutete auch, dass mein Großvater – nicht lange, nachdem er von seinem Gehirntumor genesen war – nun der einzig körperlich gesunde Erwachsene in unserer Familie war. Meine Großmutter hatte als Putzfrau gearbeitet, musste nun aber aufgrund ihrer Erblindung ihren Job kündigen, was ihre Lage in der Alfred Street nur noch verschärfte. Es war eine schreckliche Zeit. Obwohl ich glaube, dass die Familie das volle Ausmaß dessen, was meiner Großmutter zugestoßen war, vor mir geheim hielt. Ich erinnere mich nicht daran, dass es ein Thema war, solange ich in der Nähe war. Allerdings weiß ich noch, dass ich wütend war, dass dieser dumme Arzt die Sehfähigkeit meiner Großmutter auf dem Gewissen hatte. Es ist anzunehmen, dass man heutzutage in so einem Fall rechtliche Schritte ergreifen kann, aber damals musste man schlicht und einfach mit der Situation zurechtkommen. Wir waren eine arme Familie aus der Arbeiterklasse, was hätten wir also tun sollen?

 

Meine neue Schule hätte eine willkommene Abwechslung von den Querelen, die ich zuhause miterlebte, sein können, aber leider lief auch dort nicht alles wie am Schnürchen. Zwar ging ich nun auf eine andere Schule, doch blieb das Resultat dasselbe: Ich tat mir an der Salford Grammar School um nichts leichter als an der St. Clement’s. Mathematik war weiterhin meine große Schwäche und in meiner großen Mathe-Prüfung im ersten Jahr erreichte ich gerade einmal fünf oder sechs Prozent der Gesamtpunktezahl. Das Selbstvertrauen, das ich mir durch die Abschlussprüfung in der Grundschule erarbeitet hatte, lag schon bald wieder am Boden. Obwohl mir jegliches mathematische Talent fehlte, setzten die Lehrer dennoch alles daran, mir den Lehrstoff einzutrichtern. Es blieb aber zwecklos. Ich war viel besser in Kunsterziehung, der Klassenbeste sogar, doch anstelle mich diesbezüglich zu fördern, lag der ganze Fokus auf Mathe. Menschen verfügen über unterschiedliche Talente und ich denke, dass dies in der Schulbildung Berücksichtigung finden sollte. Die Schule sollte bezüglich der Fächer, in denen man nicht so gut ist, eine solide Basis bieten, aber die Rolle der Ausbildung sollte darin liegen, herauszufinden, was die individuellen Stärken sind, beziehungsweise diese fördern. Schließlich würde man einen dürren Bücherwurm mit dicken Brillengläsern auch nicht dazu zwingen, Kapitän der Rugby-Mannschaft zu werden. Das wäre komplett schwachsinnig. Ist es demnach nicht ebenso lächerlich, jemanden, dessen Vorzüge eindeutig künstlerischer Natur sind, zum Mathe-Genie drillen zu wollen?

Obwohl ich nicht zu den schulischen Überfliegern zählte, saß ich im Klassenzimmer weit hinten. An der Salford Grammar School – so wie in jeder anderen Schule – gab es die guten Jungs und die bösen Jungs. Die guten Jungs saßen vorne und die bösen sammelten sich in den hinteren Reihen. Ich saß stets in der letzten Reihe, nicht etwa weil ich ein Dummkopf oder ein Störenfried gewesen wäre, sondern weil ich den Lehrplan beziehungsweise wie er umgesetzt wurde extrem öde fand. Ich sehnte mich danach, etwas mehr angeregt zu werden. Sogar Geschichte war mir damals gleichgültig – obwohl ich heute Geschichte liebe. Meiner Überzeugung nach hatte das mit dem Lehrstoff zu tun, denn niemand von uns interessierte sich für Getreidezollgesetze oder die geflügelte Nuss des Ahornbaums – doch waren dies damals die Dinge, die wir zu lernen hatten. Trotz all der Jahre, die ich im Geschichtsunterricht saß, kann ich mich nur an eine Sache erinnern, nämlich daran, dass einmal eine Spinne von der Nase des Lehrers baumelte, als dieser gerade über die Brotpreise im 19. Jahrhundert oder Ähnliches schwadronierte. Das war es auch schon. Das ist alles, woran ich mich bezüglich dieses Faches erinnere – und trotzdem verschlinge ich heute Bücher zu diesem Thema.

In den Naturwissenschaften war es auch nicht viel besser, allerdings war unser Lehrer, Mr. Upton, der schon vor Jahren gestorben ist, nicht nur sehr streng, sondern auch ein recht schräger Vogel. Von Anfang an wurden wir vor ihm gewarnt: „Möge euch Gott helfen, er ist irre.“ Er war –

gelinde gesagt – ein Exzentriker. Gleich in unserer allerersten Stunde wies er uns an, dass wir alles auf amerikanische Weise, also mit weniger Buchstaben, schreiben sollten – um Tinte zu sparen.

Er fuhr ein kleines, dreirädriges Auto, das wir vom Klassenzimmer aus sehen konnten. Eines Tages, gegen Ende des Schuljahres, saßen wir in seiner Stunde, als wir durch das Fenster beobachteten, wie ein paar Sechstklässler, die fertig mit der Schule und dementsprechend euphorisch waren, zu seiner Karre gingen, durchs Fenster langten, die Handbremse lösten und das Gefährt aus der Parklücke schoben. Das eigentümliche Auto war auf einem Hügel gestanden und bevor wir uns versahen, ließen es diese Typen den Hang vor unserem Klassenzimmer hinunterrollen. Der Lehrer bekam davon natürlich genau gar nichts mit, da er mit dem Rücken zum Fenster stand. Wir hingegen hatten Logenplätze, als das dreirädrige Vehikel an unserem Klassenzimmer vorbeischoss und schließlich in eine Mauer donnerte. Es war ziemlich witzig, jedoch getraute sich keiner von uns zu lachen, weil wir uns so vor dem Lehrer fürchteten. Wir bissen uns alle auf die Innenseite unserer Wangen, starrten in unsere Schulhefte, alles nur, um nicht lautstark über das unglückselige Schicksal seines kleinen Autos lachen zu müssen.

Doch niemand von uns hätte prophezeien können, wie seine Laufbahn an der Salford Grammar School schließlich ihr Ende fand. Eines Tages saßen wir im Mathematik-Unterricht, als wir von draußen plötzlich Glas zerbrechen hörten. Wir konnten gerade noch sehen, wie Stühle durch die Fenster des naturwissenschaftlichen Klassenzimmers, in dem der wirre Lehrer unterrichtete, geworfen wurden und auf dem Asphalt landeten. Unser erster Gedanke war, dass er vermutlich ganz besonders schlechte Laune gehabt und jemanden beim Lachen oder so erwischt hatte. Die Wahrheit allerdings war viel schlimmer.

Zuerst hatte er alle Bunsenbrenner dahingehend manipuliert, dass es nicht länger möglich war, den Gasfluss zu regulieren. Dann separierte er die jüdischen Kinder von den restlichen Schülern seiner Klasse, sperrte sie im Klassenzimmer ein, ging in sein Kämmerchen und drehte das Gas auf. Was wir da hörten und sahen, waren die armen Schüler, die Stühle durch die Fenster warfen, um Luft zu bekommen. Es war absolut grauenhaft. Es war wenig verwunderlich, dass wir den Lehrer nie mehr wiedersahen. Vermutlich wurde er in eine Zwangsjacke gesteckt und fortgebracht.

Abgesehen von diesem befremdlichen Holocaust-Vorfall ähnelte meine Zeit an der Salford Grammar School in vielerlei Hinsicht jener an der Grundschule. Weil allerdings alles größer war, traf ich auch auf mehr gleichgesinnte Kinder. Wir fanden uns und bildeten eine Gruppe von Taugenichtsen am hinteren Ende der Klasse. Eines dieser Kinder war ein Typ namens Peter Hook. Rückblickend haben wir uns höchstwahrscheinlich zum ersten Mal in der letzten Reihe eines Klassenzimmers an der Salford Grammar School getroffen. Wir hatten unsere eigene Clique: Außer mir waren da neben „Hooky“ Terry Mason und Dave Pearce, dessen Vater Polizist war. Wenn ich mich nicht irre, ging auch Dave später zur Polizei, und zwar als Scharfschütze.

Wenn wir damit durchkamen, verbrachten wir die monotonen Unterrichtsstunden damit, über Mädchen und Musik zu quatschen. Falls das nicht möglich war, saßen wir einfach nur da und langweilten uns, gafften auf die Uhr und sehnten das Ende der Stunde herbei. Auf unsere Art waren wir in vielerlei Hinsicht wie die Kids aus der englischen Sitcom The Inbetweeners: hoffnungslose Verlierer, die aber eine gute Zeit dabei hatten. Ich erinnere mich etwa daran, dass einer meiner Klassenkameraden eines Tages besonders beliebt war, weil er ein Pornoheftchen in die Schule geschmuggelt hatte. Die waren damals nämlich nicht leicht zu bekommen.

Auch Gresty aus der Alfred Street gehörte zu unserer Hinterbänkler-Gang und war bekannt für einen Trick, den er lange Zeit mit Erfolg abzog: In seiner Schultasche hatte er einen großen Schraubenschlüssel, den er, wenn der Lehrer gerade nicht zu ihm hinsah, auf den Boden fallen ließ, was ein lautes Geräusch verursachte. Dann hob er ihn schnell auf und steckte ihn wieder zurück in seinen Ranzen, bevor der Lehrer die Lärmquelle ausfindig machen konnte. Dafür war einiges an Geschick notwendig und es war ziemlich beeindruckend. Natürlich hatte dieses Kunststück, wie jede andere Show auch, ein Ablaufdatum und Gresty realisierte irgendwann, dass er eine neue Nummer bräuchte. Eines Tages trotteten wir in das Klassenzimmer, in dem die Mathe-Stunde gehalten wurde, und schlichen zurück in die letzte Reihe. Als wir uns hingesetzt hatten, fiel uns auf, dass Gresty sich ganz vorne niedergelassen hatte. Wir sahen uns entsetzt an. Was zum Geier hatte er vor?

Unser Mathe-Lehrer hieß Johnny Barker und auch vor ihm hatten wir eine Heidenangst. Ich glaube, er hat im Krieg einiges mitansehen müssen. Er hasste es zum Beispiel, dass wir unsere Bücher in Schultaschen herumtrugen, und schrie: „Ihr ruiniert die Bücher mit diesen Schultaschen. Meine Kameraden und ich mussten in den Krieg ziehen, damit ihr diese Bücher überhaupt haben könnt!“ Im Anschluss tickte er komplett aus und verbrachte den restlichen Unterricht damit, uns immer wieder zu erklären, dass wir nicht wüssten, wie gut wir es hätten, beziehungsweise, was seine Kameraden im Krieg alles durchmachen hätten müssen. Es war ein wenig seltsam, aber weiter kein Problem für uns, da wir dadurch weniger Zeit mit Mathe verbrachten.

Ein Markenzeichen von Mr. Barker war, dass er uns befahl, unsere Hausaufgabenhefte herauszuholen, damit er von Schüler zu Schüler gehen konnte, um die Hausaufgabe zu kontrollieren und abzuhaken, wobei er seine Runde stets in den vorderen Reihen begann. Wir machten nur selten unsere Hausaufgabe, zumindest nicht selbst. Gelegentlich schrieben wir sie in der Toilette vor den Schulstunden ab. Deshalb versuchten wir immer, ihn abzulenken. Die erfolgreichste Methode war, Barker in ein Gespräch zu einem Thema zu verwickeln, zu dem er ganz entschiedene Ansichten vertrat. Wir wussten bald, dass das am besten mit Cricket und dem Krieg funktionierte. Einer von uns fragte dann mit unschuldiger Stimme so etwas wie: „Sir, wie war denn das im Krieg? Waren die Spitfires wirklich so gut, wie man sagt?“ Oder: „Welches ist das beste Team, das es je in Lancashire gegeben hat, Sir?“ In der Regel blickte er dann aus dem Fenster und ließ einen seiner Monologe vom Stapel, entweder über die Vielseitigkeit der Spitfire oder über irgendein hammermäßiges Cricket-Team, das in den Dreißigerjahren die Meisterschaft von Lancashire erringen konnte. Gleichzeitig verrannen die Minuten, bis schließlich die Schulglocke das Ende der Stunde signalisierte – was für uns hieß, dass wir ungeschoren davongekommen waren. Wieder einmal. Wir hatten die Lage jedenfalls gepeilt.

Aber an diesem speziellen Tag hatte sich Gresty an die vorderste Front gesetzt. Keiner von uns wusste, was da vor sich ging: Da vorne müsste er schließlich seine Hausaufgaben vorzeigen. Mr. Barker hatte auch kein Verständnis für schlechtes Betragen in seinem Unterricht. Es durfte nicht geredet oder gelacht werden. Sogar ein Grinsen konnte einem ein Nachsitzen einbringen. Gresty wusste das. Wir alle wussten das. Die Unterrichtsstunde fing an und Mr. Barker ging auf und ab und erzählte was von Sinus und Cosinus oder so. Er ging an Gresty vorüber, der sich hinter seinem Pult nach hinten lehnte und die Arme hinter seinem Kopf verschränkte, damit wir alle sehen konnten, dass seine Tasche auf seinem Schoß lag und sich wie von selbst hob und senkte. Er hatte sich selbst zu einer Erektion verholfen und benutzte sie, um den Ranzen wiederholt anzuheben. Das war sein neuer Trick. Ein richtig guter sogar. Und wir durften nicht lachen.

Abgesehen von solch phallischen Einlagen hatte die Salford Grammar School auch einen großen Anteil daran, dass ich mit meinen ersten musikalischen Einflüssen in Kontakt kam – nicht etwa im Musikunterricht, sondern durch die Kinder, mit denen ich herumhing. Außerdem hatten wir einen supercoolen Geografielehrer, einen jungen Typen mit langen Haaren, an dessen Namen ich mich gerne erinnern würde. Er sagte: „Ich weiß, dass manche von euch Geografie langweilig finden. Ich verstehe das. Aber tut mir einen Gefallen: Wenn dem so ist, macht bitte trotzdem keinen Stunk in meiner Stunde. Wenn ihr euch ruhig verhaltet, gibt es da drüben einen Raum mit einem Schallplattenspieler und ich lasse euch in der Pause hinein, damit ihr Musik hören könnt.“ Er war großartig, ein echt cooler Typ. Alle Kids respektierten ihn. Er erkundigte sich bei einem, was man so hörte, also begannen wir, Schallplatten mitzunehmen. Er half dabei, an der Schule eine Musikkultur abseits des Lehrplans zu etablieren. Ich glaube, dass zu dieser Zeit das Musical Joseph and the Amazing Technicolor Dreamcoat aufgeführt wurde. Es war einfach schrecklich und wir wollten nichts damit zu tun haben. Wir wollten Jimi Hendrix, die Stones und die Kinks hören und nicht irgendein Kind, das Musical-Songs vergewaltigte. Wir fanden Dinge wie diese Aufführung einfach nur beschissen. Wenn ich mich richtig erinnere, gaben die meisten Jungs in den Musikstunden nur vor mitzusingen und hatten Pornohefte in ihre Musikbücher eingelegt.

Ich war bis dahin in keinem sehr musikalischen Ambiente herangewachsen. Meine Großeltern hatten zwar ein Grammophon, auf dem sie manchmal eine alte Schellack spielten, aber das gab mir nichts. Ich hatte die Kinks im Radio gehört, als ich noch sehr jung war, und sie gefielen mir sehr. Ich denke, es war im Urlaub, an den Stränden von Torquay – oder wo auch immer –, wo ich blechern klingende Versionen von „You Really Got Me“ und „Lola“ sowie Songs der Beatles und der Stones aus den Transistor-Radios tönen hörte. Dann hörte ich in den Nachrichten von ihrem verkommenen Benehmen – die Drogen und so. Ich kann mich noch genau daran erinnern, gehört zu haben, dass das Haus eines berühmten Sängers im Rahmen einer Razzia durchsucht worden war – und er im Bett mit nicht nur einer, sondern gleich zwei Frauen aufgefunden wurde. Ich war schockiert. Allerdings vergraulte mir das nicht die Musik.

 

Noch an der Grundschule hatte der Direktor, Mr. Alkister, uns jeden Morgen eine andere Aufnahme eines klassischen Stückes auf einem Plattenspieler vorgespielt. Er sagte üblicherweise: „Gut, das hier heißt ‚Eine Nacht auf einem kahlen Berge‘ und ist von Mussorgski.“ Dann legte er die Nadel auf die Rille und wir hörten zu. Ich verstand zwar nicht wirklich, aber ich denke oft darüber nach, ob sich das unterbewusst auf mich auswirkte. Jedoch war die klassische Musik damals zu raffiniert, zu erwachsen für einen Salforder Jungen von der Straße. Ich sage nicht, dass es schlecht war, dass ich es nicht gemocht hätte, aber ich wollte etwas Gefährlicheres hören, etwa die Stones. Zuerst hörst du die Stones, dann landest du bei etwas anderem und schließlich führt dich dein Weg zurück zur klassischen Musik. Aber in diesem Alter waren wir einfach noch zu jung, um sie schätzen zu wissen.

Dem North Salford Youth Club habe ich ebenfalls große musikalische Einflüsse zu verdanken. Die Jugendclubs der damaligen Zeit waren ziemlich gut und die Leute waren cool. Klarerweise bestand die Hauptattraktion darin, dass man dort Mädchen treffen und abhängen konnte. Es gab auch eine Disco, wo im Keller Motown, Soul und Ska für all die Skinheads, Suedeheads und Scooter Boys, zu denen auch ich zählte, gespielt wurde. (Ich hatte einen Motorroller, seit ich 16 war. Es war eine GP225 Lambretta, ein richtig cooler Flitzer. Ich trug auch einen Crombie-Mantel, ein rotes Seidenhalstuch mit einem Rautenmuster, Arbeitshosen, das ganze Zeug eben.) Von der Disco begab man sich im Anschluss die Treppe hoch, wo sich Leute mit langen Haaren versammelt hatten, um Led Zeppelin, Santana, die Stones und vielleicht auch Black Sabbath zu hören. Sie hatten dort einen Schallplattenspieler mit Stereo-Lautsprechern, was uns schwer beeindruckte. „Verdammte Scheiße“, riefen wir, „der Sound beginnt hier drüben und bewegt sich dann hinüber zur anderen Lautsprecherbox!“ Man durfte seine eigenen Platten mitnehmen und alle saßen dann herum und hörten zu – eine Gruppe von Gleichgesinnten, die eine ähnliche Musik bevorzugten. Ich lernte dort viel über Musik. Als Motorroller-Jungs hätten wir vorrangig Soul hören müssen, uns gefiel aber auch Rockmusik. Den halben Abend verbrachten wir in der Disco und dann gingen wir nach oben, wo wir komplett andere Musik zu hören bekamen.

Als ich ungefähr 15 war, hörte ich „Ride a White Swan“ von T. Rex im Radio. Ich machte mich dann sofort auf, die Platte zu kaufen. Der Gitarrensound, die Melodie, alles – ich liebte diesen Track. Als ich wieder zuhause war, legte ich die Scheibe auf den Schallplattenspieler, den ich zu Weihnachten bekommen hatte, und es klang umwerfend. Nach drei Minuten war alles vorbei. Ich dachte mir: „Was tue ich jetzt? Okay, höre ich mir eben die B-Seite an.“ Die gefiel mir aber nicht so, weswegen ich mir immer wieder „Ride a White Swan“ reinzog. Nach einer Weile reichte mir das aber nicht mehr aus und ich begab mich auf die Suche nach dem Album, das jene Musik enthielt, die meinen Geschmack zum ersten Mal genau treffen sollte.

Es mag vielleicht eine Überraschung für euch sein, aber das erste Musikstück, das mich richtig aus den Schuhen warf, jenes, das mich vielleicht am meisten beeinflusste, den Weg zu wählen, den ich gegangen bin, war keiner der Songs, die ich in der Disco unten im Jugendclub beziehungsweise oben bei den Rockfans hörte. Es lief auch nicht in einer unserer Musiksessions mit dem Schallplattenspieler des Geografielehrers und auch nicht im Radio. Ich war im Kino, als ich es zum ersten Mal hörte.

Ich hatte gerade den Spaghetti-Western Zwei glorreiche Halunken gesehen. Oder gehört. Ich war von klein auf ein visueller Typ gewesen und liebte es, wie dieser Film rüberkam: Er war auf eine besondere Weise gefilmt worden, mit kolossalen Großaufnahmen. Ich liebte es auch, dass nicht ganz klar war, wer nun gut und wer böse war, weil, nun ja, jeder böse war. Da gab es keinen Helden – nur Halunken. Bis dahin hatte es nur abgeschmackte John-Wayne-Filme gegeben, in denen man die Bösewichte an der Farbe ihrer Hüte erkennen konnte. Dann tauchte plötzlich Sergio Leone auf und machte subversive Filme, die alle Regeln brachen. Sie waren düsterer als alles Dagewesene. Man konnte den Schweiß und den Schmutz sehen, ja, beinahe die sengende Sonne spüren. Die Dialoge waren eher spärlich und über weite Strecken wurde geschwiegen. Leones Western waren auch auf seltsame Weise komisch. Aber was mich wirklich begeisterte, war die Filmmusik von Ennio Morricone. Dieses einfache, gepfiffene Thema, dieser scharfe Gitarrensound, diese Coyoten-Schreie, die Echo-Effekte, die großen Abstände zwischen den Noten – dies alles passte perfekt zu den kargen Drehorten des Films. Es war einfach unglaublich atmosphärisch, und ich liebte das. Ich kam aus dem Kino und machte mich umgehend auf die Jagd nach dem Soundtrack-Album. Natürlich gab es damals kein Internet, weshalb es eine Weile dauerte, es aufzutreiben, aber als ich es schließlich – so vermute ich – im HMV in Manchester fand, hörte ich es mir wieder und wieder an. Ich besorgte mir außerdem die Soundtracks zu Für eine Handvoll Dollar beziehungsweise Für ein paar Dollar mehr. Es handelte sich dabei um eine einzige LP, deren beiden Seiten jeweils einen Film abdeckten. Ich konnte gar nicht genug kriegen von dieser unglaublichen Musik. Es war, als wäre bei mir ein Schalter umgelegt worden. Zuerst war ich noch nicht sonderlich von Musik angetan gewesen – und auf einmal war ich massiv daran interessiert.

Es sollte sich herausstellen, dass Hooky ebenso musikbegeistert war. Üblicherweise hielten wir uns bei mir oder bei ihm zuhause auf, um Platten zu hören. Auch Grestys Haus war ein beliebter Treffpunkt, da sein Dad beim Süßwarenhersteller Cadbury’s angestellt war und wir bei ihm Kuchen in rauen Mengen naschen konnten. Wir fingen außerdem an, gemeinsam auf meinem Scooter in den Jugendclub zu fahren – ich am Steuer und Hooky hinten. Ich weiß noch, wie wir einmal versuchten, Mädchen, die vor dem Club standen und darauf hofften, eingelassen zu werden, zu beeindrucken. Hooky kletterte wie immer auf den Sozius. Ich ließ wie sonst auch den Motor aufheulen – wir hatten vor, wie Peter Fonda und Dennis Hopper in Easy Rider den grünen Hügel vor dem Club hinaufzujagen. Aber das Hinterrad begann sich zu drehen und der Scooter schoss unter uns hindurch, und wir landeten schließlich in einer großen Schlammpfütze. Genau vor diesen Mädchen. Autsch.

Ich schäme mich dafür, dass ein paar von uns auch hin und wieder nach Manchester fuhren, um Ladendiebstähle zu begehen, und zwar in erster Linie aus Langeweile und hauptsächlich wegen der Jeans. Wir konnten uns weder Levi’s noch Wranglers leisten, wollten aber dennoch cool aussehen, wenn wir im Jugendclub einliefen. Deshalb klauten wir sie gelegentlich. Die Herausforderung an sich spielte ebenso eine Rolle. Lange sollte das aber nicht anhalten. Einmal beteiligte ich mich bei einem Wettkampf, bei dem es darum ging, Kugelschreiber mitgehen zu lassen, und wurde prompt von einem Typen erwischt, der meinte, dass er die Geschäftsführung verständigen würde, wenn ich den Stift nicht zurücklegte. Danach klaute ich nie wieder. Meine Mutter hätte mich wohl gekillt. Die möglichen Konsequenzen wären das Risiko nicht wert gewesen.