New Order, Joy Division und ich

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Obwohl ich viel darüber nachgedacht habe, weiß ich bis heute nicht, warum sie mich so behandelte, und werde es vermutlich auch nicht mehr in Erfahrung bringen. Bis zu einem gewissen Grad kann ich es verstehen. Sie fühlte sich durch ihr Handicap eingeschränkt. Im Grunde genommen war sie in ihrem eigenen Körper gefangen. Unter diesen Umständen ist es vielleicht verständlich, dass vermeintliches wie tatsächliches Fehlverhalten meinerseits unverhältnismäßig wahrgenommen und geahndet wurde. Das Leben in den Arbeiterklassebezirken von Manchester war zu jener Zeit selbst an den besten Tagen eine zähe Angelegenheit, aber meine Mutter war überdies Alleinerzieherin und saß im Rollstuhl. Ich kann mir daher nur vorstellen, wie sich das auf ihren Gemütszustand ausgewirkt haben muss. Ich erinnere mich noch daran, wie sie versuchte, die Treppe hinaufzusteigen. Es war ein Anblick, der wahrscheinlich am besten den Kampf, den meine Mutter durchmachen musste, zu illustrieren vermochte. Sie kämpfte gegen ihren Zustand an, tat alles, um es erträglicher für sich zu machen. Meine Mutter probierte unterschiedliche homöopathische Mittel aus und regelmäßig riefen uns alle möglichen Quacksalber an. Ihr Leben blieb aber trotz all ihrer Bemühungen sehr mühsam. Sie muss frustriert gewesen sein und ich nehme an, dass sie sich einfach an jemandem abreagieren musste. Leider war dieser jemand eben ich.

Meine Mutter war aber nicht die ganze Zeit über so schikanös. Es gab zweifellos auch glückliche Zeiten und Anlässe. Ich erinnere mich etwa an wunderbare, ja magische Weihnachtsfeste. Aber sobald ich irgendetwas anstellte, mitunter auch bei den belanglosesten Vergehen, schien meine Mum es beinahe zu genießen, mich dafür zu bestrafen. Ich war zwar deshalb nicht nachhaltig verkorkst, doch meine Kindheit war auch von einer konstanten unterschwelligen Angst vor meiner Mutter geprägt.

1961 heiratete sie schließlich einen Mann namens James Dickin, der ebenfalls an Zerebralparese litt und Metallschienen an seinen Beinen trug. Sie brachte ihn dazu, mich ein paar Mal ziemlich fest zu schlagen. Ich weiß, dass es damals nicht ungewöhnlich war, wenn Väter ihre Söhne verdroschen, und ich halte es ihm eigentlich auch nicht vor, doch hatte ich deswegen nicht gerade weniger Angst vor meiner Mum. Das Wissen, dass jemand im Haus war, der mich für sie schlagen konnte, ließ mich meine Angst nie vergessen, auch wenn die meisten Bestrafungen eher psychischer als körperlicher Natur waren.

Ich kann mich erinnern, dass mir meine Mutter nach irgendeinem Vergehen meinerseits Jimmy auf den Hals schicken wollte, ich aber in mein Zimmer rannte und mich vor ihm in einem winzigen Schrank für den Gaszähler versteckte. Da ich damals sehr klein war, konnte ich mich gerade mal so hineinquetschen und die Türe verschließen. Durch einen Spalt konnte ich erkennen, wie Jimmy nach mir suchte. Ich erinnere mich auch noch lebhaft an das Gefühl der kalten Angst in meinem Magen, das ich in diesem Moment verspürte. Ich konnte die Stimme meiner Mutter hören, die von unten rief: „Bist du sicher, dass er da oben ist? Bist du sicher, dass er nicht nach draußen gelaufen ist?“ Ich weiß zwar nicht mehr, wie die Sache letztlich endete – ob Jimmy mich fand, oder ob ich mich freiwillig stellte –, aber die Angst vor dem, was mir bevorstand, war so bildhaft, dass sie mir bis heute noch in den Gliedern steckt.

Wie gesagt, in gewissem Maß verstehe ich, warum sie so mit mir umsprang. Ich denke, dass es mehr mit tief empfundener Frustration und weniger mit Boshaftigkeit zu tun hatte. Sie fühlte sich vermutlich gefangen in ihrer Behinderung – und natürlich war sie das auch. Meine Mutter wollte ein besseres Leben und hätte es sich auch verdient gehabt. Sie war wütend über ihr schwieriges Los. Ihre Situation – und das meine ich nicht nur auf ihre Behinderung bezogen – hätte jeden deprimiert und viel weniger willensstarke Menschen in die Knie gezwungen. Meine Mutter war auch nicht ununterbrochen böse – nur wenn sie niedergeschlagen war. Vermutlich litt sie doch unter Depressionen – und ich kann das verstehen. Immerhin würde sich jeder in ihrer Lage irgendwie abreagieren wollen, worin wahrscheinlich der Grund liegt, warum meine Verfehlungen so übertrieben strikt bestraft wurden. Ich habe das meiner Mum jahrelang angekreidet, bis ich selbst eine Zeitlang unter Depressionen zu leiden hatte und mir mit einem Schlag vorstellen konnte, wie sie sich gefühlt haben muss. Für manche Menschen ist das Leben ziemlich schwer – und für manche sogar noch schwerer. Als ich anfing, mich meiner eigenen Depression zu stellen, eröffnete sich mir ein kleiner Einblick in das Leid, das sie durchlebt haben muss. Ich habe meiner Mutter mittlerweile ohne Einschränkung vergeben.

Ich war mir stets sehr bewusst, wie sehr sich meine Mum von den Müttern der anderen Kinder unterschied, und es gefiel mir nicht, mich von ihnen durch meine gehandicapte Mutter abzuheben. Wenn man ein Kind ist, dann will man nicht die Aufmerksamkeit auf sich lenken, besonders nicht durch etwas, das als Schwäche ausgelegt werden könnte. Ich war nicht sehr fair zu meiner Mutter: Ich wollte sie in ihrem Rollstuhl nicht einmal die Straße hinunter schieben, was sie wohl belastet haben dürfte – ihr eigener Sohn schämte sich dafür, mit ihr gesehen zu werden. Lower Broughton war eine knallharte Gegend. Wenn an dir etwas anders war, etwas wofür dich andere drankriegen konnten, eine vermeintliche Schwäche, dann wurdest du als das schwache Tier in der Herde wahrgenommen – und sobald man dich erst einmal von der Herde getrennt hatte, musstest du stets auf der Hut sein. Selbstverständlich wurde ich andauernd gehänselt: „Deine Mum ist ein Spasti.“ Solche Sachen eben. Ich wollte einfach nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Heute schäme ich mich dafür.

Aber trotz meiner schwierigen Beziehung zu meiner Mutter denke ich sehr gerne an die Zeit in der Alfred Street zurück. Zuhause hatte ich es nicht einfach, aber sobald ich vor der Tür war, war das Leben eigentlich sehr fröhlich. An heißen Sommertagen liefen wir Kinder in unseren Unterhosen herum und spritzten uns mit einem Gartenschlauch ab. Es war, als würde man vor der eigenen Haustüre Urlaub machen. Die alten Leute stellten sich Stühle vor ihre Häuser, saßen in der Sonne und unterhielten sich miteinander. Es war eine wunderbar gesellige Art zu leben. Die alten Ladys tratschten über die Straße hinweg und hatten dabei ein Auge auf die krakeelenden Kids – den ganzen Tag lang, bis Mitternacht. Dieser Zusammenhalt war eine tolle Sache: Man kannte den Namen von jedem in der Straße, ihre Marotten, einfach alles. Ich weiß gar nicht, ob es diesen Sinn für Gemeinschaft in den paar verbliebenen Straßen dieser Art in Manchester noch gibt.

Es herrschte trotzdem nicht nur Friede, Freude, Eierkuchen: Wie sonst auch überall gab es hier ebenfalls ein paar fiese Familien, über welche die alten Leute tratschten. Es gab bestimmte Häuser, bei denen man vorsichtig sein musste. Ich nenne hier diese Familien die Whites, die Greens und die Pinks, obwohl das nicht ihre richtigen Namen waren. Sie waren diejenigen, von denen man sich möglichst fernhielt. Es handelte sich bei ihnen um riesige, kinderreiche Sippen, die über einen nicht versiegen wollenden Nachschub an Brüdern und Cousins verfügten, die echt zähe Burschen waren. So sehr, dass man sich seinen Weg gut überlegen musste, um ja nicht an ihren Häusern vorbeigehen zu müssen.

Die Pinks waren besonders abgefahrene Leute. Die halbe Familie saß im Knast: Ich denke, dass sie neun Kinder hatten, von denen immer zumindest vier gerade einsaßen. Ich weiß noch, wie ich einmal spät in der Nacht die Straße hinunterging und ein sonderbares Zischgeräusch hörte. Ich sah zum Haus der Pinks hinüber und einer von ihnen stand im Wohnzimmer und pisste durch das Schiebefenster auf die Straße hinaus. Ein anderes Mal sah ich ein paar ineinander verknotete Pinks wie einen Fußball durch ihre Eingangstür rollen. Es waren gleich ein paar von ihnen, sie schrien einander an und keilten sich. Irgendwann zog ein junges Paar neben ihnen ein. Eine schlechte Entscheidung. Eines Tages kam es zu einer Auseinandersetzung im Pub, bei welcher der neue Typ einem der Pinks ein Glas überzog. Nur kurze Zeit später sah ich, wie er auf der Straße mit einer Eisenstange attackiert wurde. Er wurde so hart getroffen, dass sich das Ding um seinen Brustkorb bog.

Mrs. Pink hatte einen Freund. Als ich schon etwas älter war, hatten wir einen Treffpunkt gegenüber dem Haus der Pinks. Eines Abends waren die Lichter an und die Vorhänge offen und wir konnten hineinsehen. Sie hatten Schiebetüren, die das Wohnzimmer und die Empfangsstube voneinander trennten. Diese Tür ging auf und da stand Mrs. Pink in Strapsen und BH. Da war aber noch eine weitere Frau, die genau gleich angezogen war. Unsere Augen sprangen uns beinahe aus den Höhlen. Dann sahen wir, wie der Freund sich aus seinem Lehnsessel erhob, zum Getränkeschrank ging und sich einen Drink zubereitete. Dann zog sich das Trio in ein anderes Zimmer zurück.

Sie waren durchgeknallte Leute, diese Pinks. Ihnen war alles schnurz­egal. Uns ließen sie aber weitgehend in Frieden wegen meines Cousins Tommy, der selbst ein ziemlich harter Knochen war. Tommy hatte sich einst mit dem ältesten der Pinks geprügelt, wobei er ihm ein Ohrläppchen abgebissen hatte. Danach hatten wir Ruhe vor ihnen. Einmal wurde ich von zwei Typen gejagt – sie waren vielleicht 18 oder 19 Jahre alt. Ich war neun. Sie holten mich ein und warfen mich zu Boden. Gerade als sie mich aufmischen wollten, realisierte ich, dass es zwei Pinks waren. Umgekehrt begriffen auch sie, wer ich war. „Oh“, sagte einer von ihnen, „wir wussten nicht, dass du es bist.“ Danke, Tommy.

Ein besonderer Höhepunkt im Jahr war immer die Bonfire Night am 5. November. Hinter dem Haus meiner Urgroßmutter befand sich eine Bombeneinschlagstelle. Ein Andenken an einen direkten Treffer in der nächsten Straße, bei dem ein Haus zerstört worden war. Es waren dabei Menschen ums Leben gekommen. Eine meiner Tanten war unter dem Schutt begraben worden, konnte aber noch rechtzeitig geborgen werden. Obwohl ich mich zwar vor den Kriegsrelikten aus dem Lagerzimmer meines Großvaters fürchtete, war dieses Trümmergrundstück ebenso toll wie ein lokaler Park. Ich liebte es jedenfalls, mich dort herumzutreiben. Es wurde sogar ab und zu ein Rummel veranstaltet. In den Siebzigerjahren wurde dort schließlich ein geregelter Abenteuerspielplatz eingerichtet, aber für die dreißig Jahre nach dem Krieg war es einfach nur eine Schutthalde, auf denen kleine Jungs sich austoben und ihre Fantasien ausleben konnten.

 

Bonfire Night war jedenfalls die größte Nacht auf dem Gelände und schon in den Wochen davor zogen wir von Haus zu Haus, um nach Holz zu fragen. Dann errichteten wir einen riesigen Scheiterhaufen. Außerdem hatten wir eine Aussichtsplattform, von der aus wir das Holz bewachen konnten, da die Kids aus den benachbarten Vierteln immer versuchten, uns unser Holz für ihre eigenen Feuer zu klauen. Wir postierten also eine Wache in diesem Ausguck und wenn eine solche Gang, die es auf unser Holz abgesehen hatte, im Anmarsch war, alarmierte diese unsere Truppe. Dann kam es zu einer offenen Schlacht, bei der einem aus allen Richtungen Steine um die Ohren flogen. Das hört sich gefährlich an, war aber echt ein großer Spaß. Ich liebte es.

Ich muss zugeben, dass wir auch Sachen klauten – Dinge wie etwa Drähte von Dächern. Darauf bin ich nicht gerade stolz. Es gab da einen zwielichtigen Altmetallhändler, der in der Gegend als „Keine Namen, keine Fragen“ bekannt war. Alle Kids stahlen also Dinge aus Metall, um sie ihm zu verscherbeln, da er – wie sein Spitzname verriet – sich nicht darum scherte, woher das Zeug stammte. Wir hielten unsere Augen ständig offen nach solchen Sachen und als die Gemeinde in der Nähe ein paar Häuser niederriss, eröffnete sich für uns aufstrebende Unternehmer eine gänzlich neue Erwerbsquelle. Ich erinnere mich da etwa an eine spezielle Bruchbude, in der wir ein altes Klavier fanden. Für einen Musiker ist das eine schlimme Sache, aber ich muss gestehen, dass ich mich stundenlang mit einer Festhaltezange und einer Drahtschere an diesem Musikinstrument verging. Ich schnitt alle Saiten heraus, wobei ich mir mehrmals fast selbst des Augenlichts beraubt hätte. Im Anschluss trug ich sie dann zu unserem dubiosen Geschäftspartner, dem Altmetallhändler. Als wir bei ihm einmarschierten, warf er einen Blick auf unsere Beute und sagte: „Tut mir leid, Jungs, aber das ist bloß Kupferblech. Dafür kann ich euch nichts geben.“

Zu dieser Zeit hing ich mit einem Typen namens Barrie Benson ab. Er war – und ist es immer noch – mein Kumpel. Seine Großmutter wohnte im Haus nebenan in der Alfred Street. Barrie selbst war in der Victor Street zuhause. Er war so ziemlich der Platzhirsch in unserer Nachbarschaft, aber er schien mich zu mögen, weswegen wir in der Regel gut miteinander auskamen. Einmal hatten wir ein Auge auf eine riesige Rolle mit Telefondraht geworfen. Er war etwa einen Zoll dick und lag vor einem örtlichen Elektrounternehmen. Wir gingen davon aus, dass uns das ein Vermögen einbringen würde. Als sich uns schließlich die passende Gelegenheit bot, schafften Barrie und ich es, das Ding in einen Sack zu bugsieren und auf dem Sattel meines Fahrrads zu balancieren. Wir manövrierten unser Diebesgut durch den Peel Park und waren ziemlich stolz auf uns. Jedoch muss uns irgendjemand beobachtet und die Polizei verständigt haben. Als wir gerade über eine Brücke gingen, blieb auf der anderen Seite ein Polizeiauto mit quietschenden Reifen stehen, um uns mit laufender Sirene und Blaulicht in Empfang zu nehmen. Wir schalteten schnell und entledigten uns des Sacks. Ich sprang hinten auf das Fahrrad auf, Barrie vorne. Wir ergriffen prompt die Flucht und radelten davon. Sobald wir uns sicher waren, dass die Luft rein war, gingen wir zurück und sahen, dass die Polizisten den Draht einfach über einen Zaun geworfen hatten. Also luden wir ihn wieder auf das Rad, um uns davonzumachen. Eifrig waren wir zwar, aber leider alles andere als Experten in Bezug auf Altmetall, denn der Händler hatte auch an diesem Draht kein Interesse, weshalb wir wieder abzogen und die Rolle schließlich in einer Bonfire Night ins Feuer warfen. Neben dem Hauptfeuer hatten wir immer auch kleinere Lagerfeuer, in denen wir Kartoffeln backten, damit wir was zum Essen hatten, während wir das Feuerwerk und die überwältigende Flamme, für die wir in den vorangegangenen Wochen Brennmaterial zusammengetragen und vor Plünderern verteidigt hatten, in vollen Zügen genossen. An diesem speziellen Abend legten wir unsere Kartoffeln in dieses Feuer, in dem auch der Kupferdraht mitsamt der Kunststoffverkleidung verbrannte – das ganze giftige Zeug brutzelte direkt neben unserem Abendessen.

Als sich die Gemeinde anschickte, die besagten alten Gebäude dem Erdboden gleichzumachen, entwickelte sich noch ein weiteres eigentümliches Geschäft. Hinter den Kaminen waren nämlich mitunter alte Säbel versteckt, die angeblich aus dem Krimkrieg stammten. Die Soldaten, so hieß es, waren aus den Kampfhandlungen zurückgekehrt und hatten ihre Säbel sowie andere Waffen im Rauchfang verborgen, um sie zu schützen. Abgesehen von den Abrisshäusern war es in den Sechzigern auch Mode, die originalen, gefliesten viktorianischen Feuerstellen durch abscheuliche Elektrofeuer mit glühenden Plastikkohlen zu ersetzen. Wenn jemand also die alte Feuerstelle herausriss, fand er mitunter diese Schwerter, Säbel und Dolche – allen nur denkbaren Ramsch – aus den diversen Kriegen des 19. Jahrhunderts. So entstand ein blühender Schwarzmarkt für antike Waffen. Ich erinnere mich noch, dass ich einmal zur falschen Zeit am falschen Ort war und von einer Horde von säbelschwingenden Kids gejagt wurde. Das war natürlich nicht ungefährlich, aber wenn man ein Kind ist, hält man sich für unsterblich. Manche der Dinge, auf die wir uns damals einließen, waren rückblickend ziemlich haarsträubend, aber sie bereiteten uns einfach ein so großes Vergnügen, dass uns die Gefahr gar nicht bewusst war.

Ich denke, das einzige wirklich Gefährliche an meiner Kindheit waren die Besuche beim Zahnarzt. Ich muss noch sehr jung gewesen sein, weil es – so glaube ich – das erste Mal war, dass ich bei ihm war. Es stellte sich heraus, dass ich ganze sieben Füllungen brauchte. Mein Großvater hatte mir jeden Abend einen Schokoriegel mitgebracht. Schokolade nach Ende der Rationierungsphase so frei zur Verfügung zu haben, muss für diese Generation unbeschreiblich gewesen sein. Mein Großvater kaufte das Zeug jedenfalls haufenweise – und ich half ihm dabei, das Zeug wegzuputzen, wovon mein Zahnschmelz ordentlich in Mitleidenschaft gezogen wurde. Ich verstand nicht genau, was eine Füllung war, also hatte ich keinerlei Bedenken bezüglich dessen, was mir bevorstand, und sah der Behandlung einigermaßen fröhlich entgegen – ich freute mich geradezu darauf. Man betäubte mich mit Gas, und das Nächste, woran ich mich erinnern kann, war, dass ich aufwachte, als der Zahnarzt und seine Assistentin mich mit dem Kopf unter einen Wasserhahn über einem Becken hielten und mich fest ins Gesicht schlugen. Ich sah, dass Blut unter mir in den Abguss floss. Ich verlangte lautstark, dass man mir erkläre, was da vor sich ginge. Sie sagten, dass ich geschrien hätte und sie mich nicht besänftigen hätten können. Irgendetwas musste wohl ordentlich schiefgelaufen sein, da beide bleich und entsetzt aussahen. Sobald ich mich wieder ein wenig eingekriegt hatte, fuhr mich der Zahnarzt nachhause. Ich weiß noch, dass er einen Jaguar E-Type hatte. Die nächsten Tage fühlte ich mich sehr schlecht und ständig rann mir Blut aus dem Mund. Anscheinend hatten sie mir zu viel Gas verabreicht oder die Mischung hatte nicht gestimmt, woraufhin ich beinahe abgekratzt wäre.

Zu dieser Zeit war ich ein Schüler an der Grundschule St. Clement’s, die nur einen Steinwurf von unserem Haus entfernt war. Dennoch gelang es mir meistens, mit Verspätung zum Unterricht zu erscheinen. Ich bin nämlich einer dieser Menschen, die immer und zu allem zu spät kommen. Einer meiner Lehrer meinte sogar: „Bernard Sumner, du wirst dich sogar zu deiner eigenen Beerdigung verspäten.“ Ich war kein sonderlich guter Schüler, und die Art, wie ich in der Grundschule unterrichtet wurde, hatte daran einen großen Anteil. Zum Beispiel tat ich mir schwer mit Mathe, was zur Folge hatte, dass ich mich auf einen Stuhl stellen musste, wo ich dann mit Fragen bombardiert wurde oder die Neunerreihe oder so aufsagen musste. Wenn man das dann nicht auf die Reihe brachte, machten sich die Lehrer vor der Klasse über einen lustig. Was schulische Motivierungskunst angeht, muss ich sagen, dass ich das für eine ziemlich bizarre Philosophie halte.

Die Grundschule war auf jeden Fall eine eher schauderhafte Erfahrung. Dort wurde schon früh jegliches Selbstvertrauen, wenn ich es besessen hatte, ausgelöscht. Der Unterricht basierte auf Angst, aber dadurch wurde ich nicht etwa abgehärtet oder zum Lernen bewogen, nein, ich wurde dadurch nur fortlaufend nervöser. Ich verfing mich in einer Abwärtsspirale, aus der ich mich nie mehr richtig befreien konnte. Zumindest nicht während meiner Zeit an der Schule.

Nur zwei Dinge stachen für mich positiv an der St. Clement’s hervor: Einerseits lernte ich lesen und andererseits liebte ich alles, was mit Kunst zu tun hatte, besonders das Modellieren mit Ton. Die Schule hatte einen eigenen Brennofen und ich war nie glücklicher als bei dieser Arbeit. Wir hatten einen Lehrer namens Mr. Strapps, der uns beibrachte, mit dem Ton zu arbeiten. Anstelle einer Töpferscheibe verwendete er einen Schallplattenspieler. So entstanden Plastiken bei 45 Umdrehungen in der Minute – das war zwar unkonventionell, allerdings war das in Ordnung für mich.

Der Nachteil an Mr. Strapps war, dass er ein absolut schrecklicher Mann war. Sein Name allein klang schon nach Charles Dickens und er hätte definitiv aus den Buchseiten von Harte Zeiten entsprungen sein können. Er unterrichtete die ältesten Kinder an der Grundschule, also wuchs man im Wissen heran, dass es unmöglich sein würde, Mr. Strapps zu entgehen. Einmal züchtigte er mich mit dem Rohrstock: Draußen hatte es geregnet, weswegen wir in der Pause drinnen bleiben mussten. Dort stieß ich versehentlich eine Flasche Milch um. Obwohl es sich ganz klar um einen Unfall handelte, rief er mich ohne Umschweife ans Lehrerpult, wo er mir so hart er konnte mit seinem Stock auf die Hand schlug. Das ist aber nicht die bleibendste Erinnerung, die ich an Mr. Strapps habe, nein, es gab etwas viel Grausameres. Während der Pause regnete es wieder, weshalb wir drinnen gehalten wurden und versuchten, uns so gut wie möglich zu unterhalten. Ich hatte mir einen Gedichtband aus der Schulbibliothek ausgeliehen und las ganz still darin, als ich spürte, wie sich Mr. Strapps von hinten annäherte. Er spähte über meine Schulter. Als er sah, was ich las, sagte er mit knurrender, vor Verachtung nahezu triefender Stimme: „Warum liest du das?“ Ich sah auf und antwortete: „Was meinen Sie damit, Mr. Strapps?“ Er verschränkte seine Arme hinter seinem Rücken, beugte sich vor, damit er mit dem Mund ganz nahe an meinem Ohr sein würde, und höhnte: „Hör zu, da, wo du herkommst, wirst du ohnehin nur als Fabrikarbeiter enden, also macht es überhaupt keinen Sinn für dich, so etwas zu lesen. Also bring das wieder zurück. Sofort.“ Ich war von meiner Mutter, meiner Großmutter und meinem Großvater dazu erzogen worden, Autoritäten Respekt entgegenzubringen. Also dachte ich mir, dass Mr. Strapps als mein Lehrer wohl wüsste, wovon er sprach. Ich brachte das Buch also tatsächlich zurück und hörte auf zu lesen. Was für eine schreckliche Sache, so etwas zu einem Kind zu sagen – vor allem für einen Lehrer.

Trotz aller entgegengesetzter Bemühungen von Mr. Strapps bestand ich mein „Eleven Plus Exam“, eine Art Abschlussprüfung im letzten Jahr an der Grundschule. Mein Großvater hatte mir als Motivationshilfe ein Fahrrad versprochen, aber der Hauptantrieb war für mich die Angst – und zur Abwechslung mal nicht die vor Mr. Strapps. Nach der Prüfung warteten zwei Optionen auf einen: Wenn man bestand, durfte man an die Salford Grammar School – und wenn man es vergeigte, wurde man an die Lower Broughton Modern geschickt. Einer meiner Cousins hatte mich vor letzterer gewarnt. Wer dorthin musste, so erzählte er mir, würde das erste Jahr ununterbrochen Prügel beziehen. In Wirklichkeit war es vermutlich nicht schlimmer als in der Grundschule, wo wir auch genügend Kids aus üblen Familien hatten. Trotzdem wollte ich alles daran setzen, um auf die Salford Grammar School zu dürfen. Ich büffelte also wie besessen und betete vor den Teilprüfungen, dass ich doch bestehen möge. Allerdings verpasste ich eine dieser Prüfungen, da ich die Masern hatte. Als ich wieder gesund war, musste ich sie alleine nachholen. Ich saß dafür in einem eiskalten Klassenzimmer, während meine Kameraden draußen spielten. Zwar vergingen erst noch ein paar spannungsgeladene Wochen, bis wir die Resultate erfuhren, doch als der Schuldirektor schließlich die Namen derjenigen, die bestanden hatten, vorlas und auch ich dabei war, verspürte ich eine umwerfende Mischung aus Erleichterung und unverfälschter Glückseligkeit. Schon die Prüfung allein fühlte sich wie eine echte Leistung an, da ich überhaupt kein Selbstvertrauen hatte – meine Lehrer hatten ganze Arbeit geleistet. In dem Moment, als mein Name vorgelesen wurde, erhielt ich jedoch einen richtigen Schub. Abgesehen davon hatte ich mir ein neues Fahrrad verdient und würde den ganzen Sommer lang die Straßen rauf und runter schießen, während die Schatten länger wurden und ich mich auf Salford Grammar School freute.

 

Ich wusste, dass sich die Dinge nun ändern würden. Allerdings hatte ich absolut keine Ahnung, wie sehr das der Fall sein würde.