Chronik von Eden

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Verwirrt sah sie auf den Sicherungsbügel.

Entsichert.

Erneut hob sie die Waffe und drückte ab.

Nichts!

»Heiligemuttergottesdasdarfesnichtgeben …«

Der Hausmeisterzombie wurde schneller.

»Lauf!«, keuchte Frank, während er seine Waffe hob. Der Zombie verfiel in einen Dauerlauf. Weitere Reanimierte blickten auf, entdeckten offenbar das Ziel des einsamen Jägers, und folgten ihm. Frank legte an, drückte ab und eine lange Reihe Staubfontänen stieg aus dem Asphalt vor den Ghoulen auf. Zwei von ihnen zuckten unter den Einschlägen zurück, aber sie liefen einfach weiter. Frank hielt die Mündung der Waffe höher, traf aber nur Fassaden und Fenster. Dann erklang auch in seinen Händen nur noch ein trockenes Klicken. Er hatte keine Munition mehr. Und jetzt wurde ihm bewusst, was er die ganze Zeit übersehen hatte.

Seine Reservemagazine!

Die lagen gut verstaut auf dem Beifahrersitz seines Wagens und der Hausmeisterzombie kam unaufhaltsam näher, rannte beinahe schon, wobei diese Dinger doch im Hellen gar nicht rennen konnten! Oder etwa doch?

»Lauf!«, keuchte Frank.

»Ab...«

»LAAAAUF!«

*

Die Gier war gut.

Die Gier nach mehr, mehr und nochmal mehr von allem sorgte dafür, dass er an Kraft gewann, die Gier war der Motor des Lebens, was immer das auch bedeuten mochte, war die Waffe, die ihn auf der Jagd nach dem warmen Roten allen anderen überlegen machen würde. Und wenn er sich ihr ergab, würde sie ihm helfen, das warme Rote ganz für sich alleine zu haben, es mit niemandem teilen zu müssen, es ganz alleine verschlingen zu können … Ja, die Gier war gut.

Es war kein richtiges Verstehen, das Papas Bewusstsein durchflutete. Es war eher ein animalischer Instinkt, der ihn antrieb. Immer und immer wieder biss er in den Leib des anderen, der nicht verstand, was da geschah, schlang große Bissen seines dunklen und kalten Fleisches herunter. Als andere Hände und Gesichter hinzukamen, schlug und biss Papa um sich, verteidigte seine Quelle der Kraft, die um so vieles schwächer war, als es das warme Rote versprach, und ihm doch zumindest etwas von der dringend benötigten Kraft gab, die ihn am Leben erhielt. Das Getümmel aus verzerrten Gesichtern, Armen, Beinen und Leibern wurde immer dichter. Schließlich lagen von dem anderen nur noch Fetzen seines Leibes auf dem Boden. Sein Kopf, aus dem die Augen immer noch verständnislos in das helle Leuchten blickten, kullerte über den Boden.

Papa spürte etwas.

Etwas war hinter ihm.

Er erhob sich, sah sich um … war sein Blick schärfer? Er konnte trotz des hellen Leuchtens klarer sehen. Das war gut, das war … das warme Rote! Da hinten! Ganz weit weg von dem Auto. Und es war nicht alleine! Es hatte ein anderes warmes Rotes dabei!

Langsam wandte Papa sich vollends um.

Sein Hunger war gestillt, aber die Gier und das dunkle Heiße brannten heller in ihm, als das Leuchten, das ihm so in den Augen und auf dem Körper brannte. Er ging auf das warme Rote zu. Oh, das war gut! Er spürte, dass seine Beine an Kraft gewonnen hatten, wie er immer schneller wurde, beinahe zu fliegen schien. Fliegen? Was war Fliegen? Egal! Was immer es auch war, es brachte ihn schneller zum warmen Roten. Die Gier trieb ihn an, die Gier ließ ihn fliegen …

Die Gier war gut!

*

Frank und Sandra bogen bei der ersten Möglichkeit nach links in Richtung Rheinufer ab. Sie waren etwa die Hälfte des Weges bis zur nächsten Einmündung gekommen, als Sandras Rucksack riss. Rutschend kam sie zum Stehen. Frank bremste ebenfalls seinen Lauf. Er sah die Straße hinunter … und da kam er schon. Dieser hartnäckige Zombie, den er in seinen panikerfüllten Gedanken Hausmeister Krause getauft hatte, um seine Angst daran zu hindern, ihn erstarren zu lassen wie ein Reh, das auf einer nächtlichen Straße in das Scheinwerferlicht eines Autos blickte.

Der Zombie war schnell.

Schneller als er eigentlich sein durfte.

Sandra zögerte. Frank lief die wenigen Schritte zu ihr zurück, riss sie an der Schulter.

»Komm! Lass liegen!«

Der Zombie war noch knapp siebzig Meter entfernt. Kurz darauf kamen weitere aus der Seitenstraße. Ebenfalls viel schneller, als Frank oder Sandra die Reanimierten je erlebt hatten.

»Haken schlagen!«, rief Frank und rannte nach rechts eine Seitenstraße rein. Nach knapp sechzig Metern hielt er sich links. Jeder Atemzug brannte ihm in der Lunge, in seinen Beinen breitete sich der heiße Schmerz der ungewohnten Anstrengung aus. Wann war er zuletzt gerannt oder zumindest mal etwas länger zu Fuß gegangen, anstatt sein Auto zu benutzen? Sandra blieb mit ihm auf einer Höhe, obwohl sie ihn mit Leichtigkeit hätte überholen können. Immerhin trug sie jetzt keinen provisorischen Rucksack mehr. Frank verdrängte den bösartigen Gedanken. Sie atmete viel gleichmäßiger als er, so als wäre sie es gewohnt, um ihr Leben zu laufen. Da hätte auch der Rucksack keinen Unterschied mehr gemacht. Die beiden warfen im Laufen einen Blick zurück. Der Hausmeisterzombie rannte gerade um die Ecke. Von seinen Gefährten war noch nichts zu sehen.

»Links«, rief Sandra.

Frank, der eigentlich weiter geradeaus wollte, schaffte es strauchelnd, die Richtung zu wechseln. Sie rannten die Straße an einem Reihenhaus vorbei. Autowracks standen quer, Mülltonnen lagen auf der Straße. Immer wieder mussten sie ihr Tempo kurz zügeln, um über Hindernisse zu klettern, die zu hoch waren, um sie einfach aus vollem Lauf zu überspringen. Hoffentlich hielt sich hier kein weiterer Zombie versteckt.

Am Ende der Straße wagten beide eine kurze Verschnaufpause. Der Hausmeister und seine Kumpane waren immer noch hinter ihnen her. Aber der Abstand schien gleich geblieben zu sein. Die Hindernisse auf den Straßen machten auch ihnen zu schaffen.

»Weiter«, ächzte Frank.

Sandra nickte nur und deutete nach rechts. Frank lief los. Aus dem Augenwinkel sah er ein Straßenschild.

Tempelstraße.

Für eine Sekunde schoss ihm durch den Kopf, dass hier noch vor ein paar Monaten zu Karneval der Veedelszoch durchgegangen war, dass hier lachende und feiernde Menschen am Straßenrand gestanden hatten ... Die ersten Anzeichen von heftigen Seitenstichen holten ihn in die Wirklichkeit zurück. Sie hielten die ungefähre Richtung zur Hohenzollernbrücke ein, die er gestern Nacht für ihren Weg über den Rhein ausgesucht hatte. Sie passierten einen Kipplaster, der mit orangefarbenen Beuteln bis oben hin gefüllt war.

Die Beutel zuckten und bewegten sich.

Besser nicht darüber nachdenken, nicht darauf achten, einfach nur die Beine in Bewegung halten, die Luft gleichmäßig in die Lungen saugen und wieder ausstoßen. Die Augen dabei fest auf den Weg gerichtet halten, um alle Hindernisse frühzeitig zu erkennen.

Frank blickte im Laufen über die Schulter zurück.

Die Zombies waren immer noch knapp hundert Meter hinter ihnen, aber wo war Sandra? Frank blieb stehen, drehte sich um, und dann sah er, wie sie um die Ecke der Seitenstraße verschwand, die sie gerade passiert hatten, während er weiter mitten auf der Fahrbahn geradeaus gelaufen war. Frank verkniff sich einen Fluch und rannte weiter. Wollte sie sich von ihm trennen, um ihre Verfolger zu verwirren, oder glaubte sie, alleine eine größere Chance zu haben?

An der nächsten Kreuzung hielt Frank sich ebenfalls links, bog in die schmale Seitenstraße ein, deren Häuser seinen Weg so klaustrophobisch eng erscheinen ließen. Was in seinem alten Leben noch irgendwie beschaulich gewirkt hatte, wurde plötzlich zu einem tödlich engen Pass, den er durchqueren musste. Aus jedem dunklen Hauseingang konnte ihn eins von diesen Dingern anspringen. Kurz bevor er die Ecke passierte, wagte er noch einen Blick zurück. Wurden die Zombies langsamer? Tatsächlich. Hausmeister Krause blieb sogar stehen. Frank gönnte sich einen weiteren keuchenden Atemzug und grinste. Denen ging wohl auch die Puste aus. Plötzlich bemerkte er aus dem Augenwinkel eine Gestalt am Ende der Straße.

Sandra!

Sie winkte ihm zu, er solle kommen. Dann deutete sie nach rechts. Er verstand. Sandra war durch eine Gasse auf die Siegburger Straße gelaufen, die hier parallel zum Rheinufer verlief. Von dort aus mussten sie sich rechts halten, wenn sie zur Hohenzollernbrücke gelangen wollten. Also hatte sie tatsächlich versucht ihre Verfolger zu verwirren, oder zumindest aufzuteilen.

Er wollte gerade loslaufen, als hinter ihm ein grässliches Geräusch ertönte.

*

Frank blieb stehen. Sein Blick glitt die Straße zurück, die er eben entlanggelaufen war. Hausmeister Krause stand dort, die Hände zu Fäusten geballt.

Der Zombie stöhnte, lauter als ein gewöhnliches Exemplar und schüttelte seine Fäuste in Richtung Frank. Das Stöhnen, das eher nach einem unartikulierten Wutschrei klang, verebbte und die Fäuste sanken nach unten. Nach einem letzten Zähnefletschen und einem hasserfüllt wirkenden Blick, wandte sich der Zombie seinen Artgenossen zu, die ihn gerade erreichten.

Frank erschauerte.

Der Zombie in dem blaugrauen Hausmeisterkittel griff sich den Erstbesten seiner Artgenossen und schlug seine Zähne in dessen Hals? Die anderen bremsten ihren Lauf ab und blieben in respektvollem Abstand stehen.

Frank schluckte trocken.

Die Zombies fielen sich plötzlich auch untereinander an? War es vielleicht nur eine Frage der Zeit, bis sie sich alle gegenseitig auffressen würden?

Frank beschloss seine Entdeckung, diesen winzigen Hoffnungsschimmer, vorerst für sich zu behalten. Wenn das da drüben nur eine einmalige Aktion gewesen war, er und Sandra sich aber in Zukunft darauf verlassen würden, wäre das Erwachen vielleicht mehr als böse. Hoffnung war in einer Welt, die von Gott verlassen war, eine gefährliche und trügerische Sache.

 

Nach einem letzten, zweifelnden Blick wandte er sich ab und lief los.

Kapitel VI - Der gute Hirte

Frank lief weiter, der Siegburger Straße entgegen, der Rheinpromenade der schäl Sick von Köln. Sie schien seltsam frei von verwaisten Autos und Müll. Dabei war dies doch eine der Hauptverkehrsstraßen Kölns gewesen! Die Deutzer Brücke sah auch verdächtig leer aus, soweit er sie schon sehen konnte. Er bog um die Ecke. Sandra stand starr vor einem Kiosk. Neben dem Bordstein parkte ein langer Golfcaddy mit Solarzellen auf dem Dach. Frank erkannte das Fahrzeug. Es hatte hinten Platz für maximal vier Fahrgäste und wurde früher oft für Stadtrundfahrten genutzt. Ein Knirschen und Fluchen drang aus dem Kiosk. Frank erreichte Sandra, blickte auf alles gewappnet in den kleinen Laden hinein … und hob überrascht die Augenbrauen.

In dem kleinen Laden stand ein weißhaariger Hüne, der in eine Stadtkampfausrüstung der Einsatzkräfte gekleidet war und die Regale mit dem Schnaps durchwühlte. Der kugelsichere Schutzpanzer der Ausrüstung hing wie eine Schürze über den Schultern des Riesen, und reichte vorne bis zu seinen Knien. In der linken Hand hielt er einen fast mannshohen Plexiglasschild, an seinem Gürtel baumelte ein … Morgenstern? Frank sah genauer hin.

Tatsächlich.

Der Hüne hatte einen Schlagstock mit einer Kette, an der eine kleine Eisenkugel hing, aufgerüstet. Er ging hinter die Theke und grummelte mit sonorer Stimme vor sich hin.

»Herr im Himmel! Wo haben die denn das wirklich gute Zeug versteckt?«

Frank sah Sandra verständnislos an.

»Ich habe seinen Wagen gesehen. Deswegen bin ich nach links abgebogen. Ich dachte, du hättest es auch bemerkt.«

»Nein. Habe ich nicht.«

»Wo sind die Zombies?«

»Sie haben aufgegeben. Hoffe ich zumindest. Wir sollten so schnell wie möglich verschwinden!«

»HA!«, drang es aus dem Kiosk. Der Gepanzerte drehte sich um, stieg über das Chaos am Boden hinweg und hielt dabei eine Flasche teuren, irischen Whiskey triumphierend in der freien Hand. Erst jetzt schien er seine beiden Beobachter zu bemerken.

»Ah, zwei verlorene Schafe?« Er wedelte mit der Hand ein flüchtiges Kreuzzeichen in die Luft. »Gott segne und beschütze euch auf all euren Wegen. Amen.«

Dann drängelte er sich zwischen Frank und Sandra hindurch und ging zu seinem Wagen. Sie sahen ihm verblüfft nach.

Als der Mann das Schild auf die Passagiersitze gelegt und sich in dem engen Sitz sortiert hatte, öffnete er die Flasche. Er nahm einen tiefen Zug. Schmatzend genoss er seinen Drink.

»So liebe ich es. Nicht zu hart im ersten Eindruck, mit einem weichen Abgang. Lässt das Feuer draußen, aber die Wärme drin.« Der Mann drehte den Kopf und sah die beiden an.

»Ist noch was?«

»Es ist möglich, dass hier gleich eine ganze Horde von Zombies ankommt. Und sie sind verdammt schnell!«, sagte Frank. Der Mann drehte sich um und versuchte über den Nackenschutz seiner Rüstung hinweg hinter sich zu blicken.

»Ich sehe aber keine von diesen armen Kreaturen.«

Frank griff nach Sandras Hand.

»Komm. Wir gehen besser.«

Sandra holte Luft, wollte etwas sagen, doch der Hüne kam ihr zuvor.

*

»Wartet!«, sagte er. Ächzend stieg der Mann aus dem Caddy. »Wo wollt ihr hin? Vielleicht kann ich euch in meinem Gefährt ja ein Stück mitnehmen?«

Sandra sah sich nervös um. Das alles dauerte schon viel zu lange. Wenn diese Dinger weiterhin so schnell waren wie eben, standen sie hier wie auf dem Präsentierteller. Frank bemerkte Sandras Unruhe.

»Andere Rheinseite. Groß Sankt Martin.«

»Hm … schwer zu schaffen.«

»Dann danke der Nachfra…«

»SIE KOMMEN!«, rief Sandra und deutete die Siegburger Straße hinunter. Der Riese sah hin und nahm einen weiteren Schluck aus der Pulle. Frank folgte mit seinem Blick ihrem ausgestreckten Finger. Tatsächlich, da wankte eine Horde der Bestien auf sie zu. Frank sah genauer hin, konnte aber seinen speziellen Freund im Hausmeisterkittel nirgends entdecken.

»Steigt ein. Hinten wird’s zwar eng werden, weil ich noch ein paar andere Vorräte erbeutet habe. Ich glaube aber kaum, dass euch das angesichts der Umstände etwas ausmacht.«

Frank und Sandra kamen der Aufforderung nach. Sie stiegen auf die hintere Passagierbank und versuchten dabei, nicht auf die Kartons voller Konserven und Schnapsflaschen zu treten. Der Hüne zog seinen Morgenstern aus dem Gürtel und verstaute die Flasche Whiskey in einem Fach der Fahrerkabine. Dann stieg er mit einiger Mühe selber ein und wendete den Elektrowagen. Frank spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Sie fuhren weg von der nahen Deutzer Brücke, genau den näherkommenden Zombies entgegen!

»Verdammt, was soll das?«

»Keine Angst mein Sohn, Gott ist mein Beifahrer.« Der Riese blickte zur Seite. »Auch wenn es hier im Moment etwas beengt ist, der Herr findet überall seinen Platz.« Er beschleunigte das kleine Gefährt. Frank konnte sehen, dass die Zombies vor ihnen nicht zu der schnellen Sorte gehörten. Sie fuhren an der Seitenstraße vorbei, die Sandra bei ihrer Flucht genommen hatte. Frank glaubte, den Hausmeisterzombie und seine Horde dort zu sehen, aber sie waren zu schnell vorbei, so dass Frank nicht mehr als einen flüchtigen Blick in die Straße werfen konnte. Der Riese schwang seinen Morgenstern. Die Kugel rotierte seitlich aus der Fahrerkabine. Die Zombies kamen unaufhaltsam näher, der kleine Wagen wurde noch schneller. Der Hüne schwang die Eisenkugel und begann einen monotonen Singsang. Durch den tiefen Bass seiner Stimme schwang so etwas wie heiliger Zorn in seinen Worten mit.

»Und der fünfte Engel stieß in die Posaune«, rief er den immer näher kommenden Untoten zu. »Und ich sah einen Stern, der vom Himmel auf die Erde gefallen war, und es wurde ihm der Schlüssel zum Schlund des Abgrunds gegeben.«

Sie erreichten die ersten Zombies. Der Riese steuerte den Wagen mit einer Hand. Mit der anderen schwang er seinen Morgenstern, traf einen und das Gesicht des Zombies dellte sich nach innen, bevor die Kreatur aus Franks Blickfeld verschwand.

»Und in jenen Tagen werden die Menschen den Tod suchen und werden ihn nicht finden, und werden zu sterben begehren, und der Tod flieht vor ihnen.«

Der zweite Untote wurde auf die Brust getroffen. Die Wucht des Schlages riss ihn von den Füßen. Den Dritten traf die rotierende Eisenkugel voll auf die Schädeldecke. Die Wucht des Treffers ließ den Kopf des Untoten wie eine überreife Tomate platzen.

»Und so schenke ich euch den endgültigen Frieden, auf dass ihr am Tag des Jüngsten Gerichts vor das Antlitz des Herrn treten könnt.«

Die Eisenkugel erwischte den letzten Untoten in der Gruppe mit einem eleganten Aufwärtshaken am Kinn. Der Schlag hatte eine derartige Wucht, dass ihm die Eisenkugel das halbe Gesicht vom Kopf riss.

»Amen.«

Dann waren sie durch. Frank blickte nach hinten, wo die restlichen Zombies in dumpfer Verständnislosigkeit hinter ihnen herblickten. Sie waren nicht von der schnellen Sorte. Mit einem tiefen Seufzen fiel die Anspannung von Frank ab.

»Wir danken Ihnen. Ich bin Frank, und das ist Sandra.«

»Ich bin erfreut euch getroffen zu haben« sagte der Riese, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. »Ich bin Patrick Stark. Pfarrer Patrick Stark. Willkommen in meinem Papamobil für die Tage des Jüngsten Gerichts.«

Frank runzelte die Stirn. Ein Medaillon hing an dem vorderen Querbalken des Wagendachs. Er sah, dass es dem heiligen Judas Thaddäus gewidmet war, dem Schutzpatron der Verzweifelten und Hoffnungslosen.

Irgendwie passend, fand Frank.

»Fahren sie uns zur Kirche Groß Sankt Martin? Wir sind nämlich in die falsche Richtung unterwegs, Vater.«

Stark riss den Wagen abrupt nach links und raste eine kleine Gasse entlang. Frank und Sandra konnten sich nur mit Mühe auf ihren Sitzen halten.

»Wenn ihr den Schutz Gottes sucht, meine Kinder, dann ist eine Kirche so gut wie die andere.«

Sandra schüttelte den Kopf.

»Wir suchen keinen Schutz. Jetzt jedenfalls noch nicht.«

Sie kamen an einer Kirche an. Stark lenkte sein Papamobil in eine kleine Auffahrt direkt neben dem Kirchturm. Er drückte den Knopf für die Wegfahrsperre, zog den Schlüssel ab und stieg ächzend aus. Nach einem Rundumblick griff er sich seinen Schild und seine Whiskeyflasche. Dann blickte er Frank und Sandra mit ernster Miene an. Seine Augen verschossen zwar keine Blitze, aber Frank konnte sich lebhaft vorstellen, wie der Herr Pfarrer sonntags von der Kanzel Feuer, Pech und Schwefel gedonnert haben mochte. Er musste dabei durch seine weiße Mähne und seinen wallenden Bart gewirkt haben, als wäre sein Boss höchstpersönlich von da oben herabgestiegen, um seine Schafe zu maßregeln. Obwohl er mit Religion nicht viel am Hut hatte, fühlte Frank sich plötzlich nichtig und klein.

»Wie auch immer. Es ist nie zu spät, um in den Schoß der Kirche zurückzukehren. Wenn ihr wollt, könnt ihr mitkommen. Wenn nicht … «, Stark murmelte etwas, das lateinisch klang, machte wieder das nachlässige Kreuzzeichen über Frank und Sandra und wandte sich ab. »Meinen Segen habt ihr jetzt nochmal bekommen. Doppelt hält besser.«

Die Flasche funkelte im Sonnenlicht. Das holte Frank zurück in die Wirklichkeit. Auch wenn Stark tatsächlich so ein Fluch- und Verdammnisprediger gewesen sein mochte, er war einem guten Schluck zum Runterspülen des Schwefelgeschmacks nach einer Predigt offenbar nicht abgeneigt. Er war also ein Mensch. Ein gut gerüsteter und gläubig dazu.

»In Groß Sankt Martin ist eine kleine Gruppe Überlebender eingeschlossen«, rief er dem Pfarrer hinterher.

Stark erreichte die Tür des Kirchturms.

»Ich schließe diese armen Sünder in meine Gebete ein«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Möge Gott ihnen ihre Sünden verzeihen, ihnen das ewige Himmelreich schenken und so weiter und so fort.«

»Es sind Kinder.«

Stark hielt inne. Langsam drehte er sich um.

»Was sagst du da?«

»Es sind Kinder, Herr Pfarrer. Sie sind allein, sie haben Angst und sie brauchen unsere Hilfe.«

Frank stieg aus dem Wagen und zog seinen improvisierten Rucksack von der Schulter. Er holte das Funkgerät hervor und schaltete es lauter.

»Jonas? Kannst du mich hören? Ich bin´s. Frank.«

Rauschen.

Dann eine leise Kinderstimme.

»Ja, ich kann dich hören. Kommst du uns jetzt holen?«

»Wir sind unterwegs, Jonas. So wie es aussieht, haben wir unerwartet Hilfe bekommen.«

Stark kehrte langsam zu dem kleinen Wagen zurück. Sein Blick fixierte das mobile Funkgerät. Die Whiskeyflasche baumelte vergessen in seiner Hand, seine Augen füllten sich mit Tränen.

»Bitte beeilt euch. Wir haben Hunger und Durst.«

Frank sah, wie Stark schluckte.

»Wir beeilen uns. Ich melde mich wieder.«

»Ja. Over und out.«

Frank schaltete das Funkgerät wieder leiser. Prüfend musterte er den Pfarrer. Stark hob den Blick und sah Frank an.

»Die Kinder, die einzigen Gefäße von Unschuld und Reinheit, hat der Herr in seiner Weisheit als Erste zu sich geholt«, sagte der Pfarrer. »Sie konnten dem Grauen der Apokalypse am wenigsten entgegenstellen. Ich habe schon seit Wochen keine dieser kleinen Seelen mehr gesehen.«

»Helfen Sie uns?«, fragte Sandra.

Stark nickte.

»Ich kann es nicht beschwören, aber wenn es überall auf der Welt so aussieht wie hier, dann könnten es die Letzten sein.«

»Bitte?«, fragte Sandra.

»Ich sagte, es könnten die Letzten sein. Ein Kind kann sich noch viel weniger gegen diese Bestien wehren, als es ein Erwachsener vermag.«

Stark verstaute seine Flasche. Mit Bewegungen, die zuerst zögerlich wirkten, dann aber immer entschlossener wurden, legte er seinen Schild auf die Rückbank neben Frank und Sandra. Anschließend zog er den Morgenstern aus seinem Gürtel und setzte sich in das Gefährt.

»Vielleicht hat mir der Herr in seinen unergründlichen Entschlüssen doch noch eine Chance gegeben, und mir den Weg zu einer neuen Herde gewiesen, deren Hirte ich sein darf.« Er startete den Wagen, wendete und fuhr auf die Straße zurück.

»Holen wir sie da raus. Retten wir Gottes letzte Kinder.«

Papa hatte sich noch einmal am Fleisch eines der anderen gestärkt, aber es war zu spät. Das warme Rote war entkommen. Er hatte es noch ganz in der Nähe spüren können, war seinem Instinkt gefolgt und dennoch zu langsam gewesen. Ein merkwürdiges Ding, das einem Auto ähnelte, war mit dem warmen Roten weggefahren. Er war sich nicht sicher, aber konnte es sein, dass da plötzlich sogar mehr warme Rote drin gewesen waren? So schnell er konnte, war er dem Weg gefolgt, den die Häuser ihm freigaben, suchte im hellen Leuchten, dass ihm jetzt nicht mehr solche Probleme bereitete. Ja, es waren mehrere warme Rote in diesem Auto. Sie fuhren auf eine Gruppe anderer Dunkler zu, schleuderten einige von ihnen zur Seite und verschwanden schließlich.

 

Knurrend starrte Papa ihnen hinterher. Die Stärke, die er aus den anderen gewann, die so waren wie er, hielt nicht lange vor. Lag es am hellen Leuchten oder daran, dass die anderen dunkel und kalt waren? Ein Problem, das ihm ein diffuses Unbehagen bereitete, für das sein Bewusstsein kein Wort fand. Er wurde sich der Präsenz der anderen bewusst, die hinter ihm standen. Sie blickten ihn dumpf an, schienen auf etwas zu warten.

Auf ihn?

Auf eine … Entscheidung?

Verwirrende Eindrücke, Bilder und Gedankenfetzen schossen durch sein Bewusstsein. Eindrücke, die mit merkwürdigen Worten wie Führerschaft, Krieger und Jagd einhergingen.

Was hatte das alles zu bedeuten?

Ein dumpfes Pochen machte sich in seinem Kopf breit. Er kniff die Augen zusammen, versuchte das dunkle Heiße und die Gier in seinem Inneren zu kontrollieren, welche die Eindrücke und Worte, die in seinem Kopf kreisten, immer und immer wieder anfeuerten. Waren ihm die anderen gefolgt, als er das warme Rote gejagt hatte? Warum waren sie dann nicht einfach weitergelaufen? Warum hatten sie ihre Hatz aufgegeben?

Das Pochen in seinem Kopf wurde schlimmer, denken war schwer, so schwer, aber es musste sein, er spürte es, weil hinter diesem Pochen die Antworten lagen, die ihn zu seinem Ziel führen würden, das warme Rote endlich essen zu können, um endlich die Macht wahrer Kraft zu erlangen …

Krieger!

War das die Antwort?

Was waren Krieger?

Papa öffnete die Augen, sah die anderen immer noch hinter sich stehen.

Abwartend.

Waren das Krieger?

Würden sie für ihn das rote Warme kriegen, ihm bringen, damit er es essen konnte?

Das Pochen ließ nach.

Die Gier gab ihm die Antwort.

Er ging auf die anderen zu, durch die das warme Rote eben gefahren war. Er griff nach dem Erstbesten, trieb seine Zähne in den Hals des anderen, riss ein Stück heraus und warf ihn mit einer verächtlichen Geste hinter sich. Er kaute, schluckte, nahm sich den nächsten, biss wieder zu, kaute, schluckte, schleuderte den Körper zur Seite ... dann blieb er stehen und drehte sich um. Die, die ihm gefolgt waren, rissen die anderen in Stücke. Sie folgten seinem Beispiel.

Die Starken fraßen die Schwachen.

Das war gut, dennoch machte sich ein warnendes Gefühl in Papa breit.

Seine Krieger durften nicht stärker werden als er, weil sonst seine Führerschaft in Gefahr wäre. Wenn seine Krieger zu stark werden würden, dann würde er seine Macht über sie verlieren, dann könnten sie das warme Rote für sich alleine kriegen, und das wäre nicht gut.

Papa beobachtete das Gemetzel seiner Krieger unter den Schwachen, sah, wie einer von ihnen die anderen zur Seite drängte, um selber mehr von der Kraft zu bekommen.

Das war gut und nicht gut zugleich.

Papa folgte einer Eingebung, die ihm die Gier einflüsterte, ging auf den anderen zu, riss ihn vom Körper eines Schwachen weg. Knurrend hob der andere seinen Blick, fletschte die Zähne. Die restlichen Krieger hielten inne. Getrieben von der Gier nach Macht griff Papa blitzartig nach dem Gesicht des gefährlichen Kriegers, drückte seine tumben Finger in die Augen seines Gegners. Die Hände des Kriegers suchten haltlos nach Papa, versuchten ihn zu treffen, aber Papa beugte sich zurück, trieb seine Finger noch tiefer in den Kopf des anderen … dann ließ er los.

Der geblendete Krieger torkelte hilflos, wankte auf der Suche nach seinem Gegner über die Straße. Papa wartete einen Moment, so wie es ihm die Gier in seinem Inneren riet.

Die anderen seiner Krieger standen reglos da.

Dann ging er auf den Geblendeten zu, riss dessen Kopf an den Haaren nach hinten, trieb seine Zähne in dessen Hals und warf ihn dann achtlos beiseite.

Die anderen Krieger verstanden.

ER war ihr Anführer.

Wer nicht folgte, war nur eine Kraftquelle.

Nach wenigen Augenblicken war der Aufmüpfige nur noch ein Bündel aus zuckendem Fleisch unter einem Wust aus beißenden und krallenden Leibern. Ein Gefühl der Zufriedenheit machte sich in Papa breit, ein Gefühl der Macht. Ein gutes Gefühl, wie ihm die Gier bestätigte. Jetzt hatte er die Macht über die anderen. Nun musste er nur noch herausfinden, wo sich das warme Rote versteckt hatte. Mit neuer Kraft ging er den Weg entlang, den das warme Rote genommen hatte. Seine Krieger folgten ihm.

Keiner von ihnen bemerkte die schattenhafte Gestalt, die sich in einem dunklen Hauseingang versteckt hielt und das Geschehen beobachtet hatte. Ja, die Gier des Menschen war stark, selbst im Angesicht des Einen.

Und die Gier machte sie zu perfekten Werkzeugen für ihn.