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Ich bedankte mich, als die Kellnerin die Stangen hinstellte, was sie jedoch eisern überhörte. Womöglich fürchtete sie, ich fasste ein Lächeln in Kombination mit ihrer Attraktivität als eindeutiges Angebot auf.

Bis zum Anpfiff des Spiels verschwanden noch ein Mann und etwas später eine junge Frau im Billardraum.

Silvan schien etwas auf dem Herzen zu haben. Er fingerte nervös am Bierdeckel herum, bis er ihn in kleine Stücke zerlegt hatte.

«Soll ich dir was pumpen?»

Er mimte den Überraschten, wobei er eine Spur Empörung in den unschuldigen Hundeblick legte. Ich hatte mich nie festlegen können, ob ihm dieser Blick bewusst war oder ob er ihn einfach seit seiner frühen Kindheit beibehalten hatte. Aber eigentlich spielte es keine Rolle. Besonders auf Frauen hatte er nichts von seiner Wirkung eingebüsst.

«Was dann? Hast du Krach mit Beatrice?»

Nun hatte ich ihn wirklich verärgert. Er trank und ignorierte mich. Ich liess ihn in Ruhe.

Eine Viertelstunde vor Spielbeginn wurde der Ton zum Bild über die Lautsprecher geschaltet. Beni war guter Laune, und eine prickelnde Spannung kam auf.

Kurz nachdem die junge Frau das Lokal verlassen hatte, erschien Faruk. Er sah sich im Raum um. Ich hob die rechte Hand. Er nickte mir zu und verabschiedete sich von seinem Begleiter.

«Nimmst du auch noch ein Bier?», fragte ich Silvan und winkte der Kellnerin. Ich bestellte drei Stangen, aber Silvan lehnte ab.

«Okay, zwei» an die Kellnerin und zu Silvan: «Was ist?»

«Ich geh nun.»

«Gut …»

Er überwand sich: «Kannst du mir nicht etwas vom Stoff geben?»

Ich steckte ihm das Säckchen zu. «Geht in Ordnung.»

«Armer Kerl», sagte Faruk, nachdem Silvan gegangen war.

Ich sah ihn verblüfft an: «Glaubst du nicht, dass du den falschen Beruf ausübst, um so was zu sagen?»

«Ich bin im falschen Beruf», sagte Faruk. «Stell dir vor, ich war an der Uni in Prishtina und Belgrad. Aber ich finde hier nichts Entsprechendes.»

Faruk starrte der Kellnerin auf die Brüste, während sie die Stangen hinstellte.

Ich prostete ihm zu und nannte meinen Namen. Wir tranken und sahen den Fussballern beim Geldverdienen zu.

«Welche Richtung? Was hast du studiert?»

«Literaturwissenschaften … Musste abbrechen. Mein Vater verlor seine Arbeit. So geht das. – Ich ging nach Deutschland und arbeitete auf dem Bau …»

«Dein Deutsch ist hervorragend, Kompliment … Also, darf ich dir ein paar Fragen stellen?»

Faruk kniff die Augen zusammen. «Verarsch mich nicht. Wenn du kein Künstler bist, kannst du was erleben!»

«Seh ich etwa aus wie ein Polizist?»

Faruk musterte mich eingehend. «Du siehst eher aus wie einer von der Caritas.»

Wie diese Zuordnung zu werten war, konnte ich seinem Pokergesicht nicht entnehmen.

«Ist dir eigentlich bewusst», sagte ich vorsichtig, «dass den Kosovo-Albanern wegen Leuten wie dir ein derart schlechter Ruf vorausgeht?»

Ich hoffte, dass ich nicht zu weit gegangen war.

Aber Faruk blieb ruhig: «Weisst du, in Emmenbrücke, wenn du aus Kosova kommst, spielt es eigentlich keine Rolle, wie du dich verhältst. Du kannst hart arbeiten, Steuern zahlen, die Sprache lernen, dich in der Schule engagieren – und wirst in dem Moment, da du dich und deine Familie einbürgern lassen willst, als Drogen- und Waffenschieber diffamiert.»

Ich war überrascht, dass Faruk davon wusste. Der Fall hatte im Mai vor einem Jahr für Aufsehen gesorgt: Einem Kosovaren, der seit zwanzig Jahren hier lebte, war die Einbürgerung verweigert worden – wegen haltlosen Unterstellungen, wie sich im Nachhinein herausgestellt hatte. Federführend bei dieser Verleumdungskampagne war ein Kantonspolizist und Einwohnerrat der Christdemokraten. Dieser wurde zwar nachträglich gebüsst, aber das tat seinem Ruf in weiten Teilen der Bevölkerung, wo man ihn als Mahner und Helden feierte, keinen Abbruch.

«Aber eines», stiess Faruk hervor, «sag ich dir: Wenn dieser Ardjan Vahid auch nur einen halbwegs kriminellen Cousin hätte, dieser Hurensohn von einem Polizisten wäre heute nicht mehr am Leben!»

Die letzten Worte hatte er in schneidendem Ton gesprochen. Er griff nach seinem Glas, hielt aber mitten in der Bewegung inne: «Weisst du, Rufmord ist etwas vom Schlimmsten, was einem ehrlichen Mann angetan werden kann.»

Ein Raunen ging durch die Gäste. Der Schiedsrichter sprach den Italienern einen Foul-Elfmeter zu.

Faruk schien das nicht zu interessieren.

Ich vergewisserte mich, dass Roberto Baggio den Penalty verwertete. Dann steckte ich mir eine Zigarette an und hielt Faruk die Schachtel hin. Er lehnte ab.

«Ich hab gehört,» nahm ich das Gespräch wieder auf, «dass die Polizei im Mordfall Slavković im Umfeld der Kosovaren ermittelt …»

«Dort werden sie den Mörder nicht finden.»

«Slavković stand im Verdacht, Drogengelder gewaschen zu haben. Weisst du etwas darüber?»

Faruk sah mich an und schwieg. Nur das. Aber es war einschüchternd genug.

«Warum glaubst du,» bezwang ich mich, «dass sie den Mörder dort nicht finden werden? Habt ihr mit ihm zusammengearbeitet?»

Er wandte den Blick, der zu einem Starren geworden war, von mir und holte Luft.

«Du bist ein elender Schnüffler! Was interessiert dich das überhaupt?!»

«Ich bin Schriftsteller, ich möchte vielleicht später darüber schreiben.»

Faruk sah mich prüfend an. «Ich glaube, dass du harmlos bist … Aber es wunderte mich nicht, wenn du ähnlich enden würdest wie Slavković.»

Ich liess mir nicht anmerken, dass mir diese Worte einen gehörigen Schrecken einjagten. «Kannst du mir nun etwas darüber sagen oder nicht?»

Meine Standhaftigkeit schien ihre Wirkung nicht zu verfehlen.

«Was willst du wissen?»

«Wo ihr euer Geld hinbringt. Zu Slavković? Oder etwa zu Taliqi?»

«Lass bloss Taliqi aus dem Spiel!», blaffte er.

Er beugte sich zu mir vor. «Ja, wir hatten allen Grund, Slavković zu hassen. Bei den Konditionen, die er verlangte … Aber was blieb uns übrig – zu den Banken können wir nicht, für die sind wir zu kleine Fische; und bei Taliqi haben wir keine Chance. Der scheint gegen die Verlockung leicht erworbenen Geldes resistent zu sein.» Er lehnte sich zurück und tastete nach seinem Gelhelm. «Ich glaube, er ist ein glücklicher Familienvater …»

Ich bemerkte einen merkwürdigen Glanz in seinen Augen.

«Also kann es dich nicht wirklich verwundern, wenn die Polizei in euren Kreisen ermittelt …»

«Sagen wir es so, wobei ich nur für mich sprechen kann: Ich bin, obschon das für mein Geschäft ein Problem darstellt, nicht gerade in Trauer wegen seines Todes. Ich wäre nicht wirklich erstaunt gewesen, wenn ihn jemand im Affekt getötet hätte. Aber auf diese Art und Weise? Den Schwanz abschneiden?» Er schüttelte energisch den Kopf.

«Stimmt es also, das mit seinem …?»

«Die Mädchen erzählen es, heisst es … Ich weiss es nicht. Es interessiert mich auch nicht.» Er trank sein Bier aus.

Ich bestellte noch eine Runde.

«Du willst also sagen, das ist nicht eure Art, jemanden zu beseitigen?»

«Diese Art von Verstümmelung? – Das ist nicht unser Stil.»

Ich schwieg und sah den Chilenen zu, die sich tapfer wehrten. Nachdem die Kellnerin die Stangen hingestellt hatte, sagte ich: «Mir ist aus gesicherten Quellen bekannt, dass Slavković Drohbriefe erhalten hat. Er war überzeugt, der Verfasser sei ein Muslim, ein Kosovare oder ein Bosniak.»

Faruk winkte ungeduldig ab. «Slavković war ein Irrer, ein Psychopath! Der hatte eine akute Islamophobie …»

«Abgesehen davon, warum könnte er sich sonst noch vor euch gefürchtet haben?»

«Weil er uns um unser Geld betrog! Er zockte schamlos ab – er wusste, wir hatten keine andere Wahl. Aber du kannst, wenn du willst, es auch vor einem historischen Hintergrund betrachten: Die serbischen Nationalisten haben bis heute ihre Niederlage auf dem Amselfeld nicht verkraftet, und für Hinterwäldler wie Slavković sind Bosniaken und Albaner eben gleichzusetzen mit den Osmanen.»

Faruk trank und sah nach draussen.

«Es wird wieder Krieg geben auf dem Balkan, diesmal in Kosova. Man braucht dafür kein Prophet zu sein.»

Es war an der Zeit, den Ort des Verbrechens aufzusuchen. Ich ass zu Hause eine Kleinigkeit, zog ein frisches Hemd an und ging mir im «Central» Mut antrinken. Kurz vor Beizenschluss brach ich auf.

Das Cabaret Paradise befand sich im Parterre eines ehemaligen Wohnhauses, das ein wenig von der Strasse zurückversetzt in den Hang gebaut war. Ich hatte zum ersten Mal davon Notiz genommen eines Berichts in der Zeitung wegen, worin behauptet wurde, im «Paradise» arbeiteten minderjährige Tänzerinnen.

Ich musste um das Haus herumgehen, um den Eingang zu finden. In einem erleuchteten Schaukasten konnte man auf Fotografien das Angebot studieren, das sich in bunten Klamotten aus dem Erotikkatalog präsentierte. Die Mehrheit der jungen Frauen kam aus Osteuropa, aber es waren auch einige Asiatinnen und Lateinamerikanerinnen darunter. Ich steckte mir eine Zigarette an und betrat das Lokal.

Erwartungsgemäss kam ich durch einen schmalen Gang in einen Raum, dessen Ausmass und Ausstattung sich auf den ersten Blick des indirekten Lichts, der Spotlampen und farbigen Lichterketten wegen nur vage erschloss. Verglaste Stellen des Bodens und der Tanzfläche, die verchromte Theke und eine Menge Spiegel an den Wänden verwirrten mich zusätzlich. Was mich aber überraschte, war, dass das Lokal bis auf zwei, drei an der Bar sitzende Kunden und dem guten Dutzend spärlich bekleideter Frauen leer war. Um mich der eindringlichen Musterung zu entziehen, trat ich an die Theke.

 

Kaum hatte ich auf einem Barhocker Platz genommen und ein Bier bestellt, setzte sich eine junge Frau zu mir.

«Hallo, wie geht es dir?»

«Gut, dochdoch. Hatte einen strengen Tag heute …»

Sie neigte den Kopf etwas zur Seite, lächelte und hielt ihre tiefschwarzen Augen auf mich gerichtet. «Bist du zum ersten Mal hier?»

Ihr Kopf berührte nun fast ihre rechte Schulter. Ihr schwarzes Haar war zu zwei dicken, langen Zöpfen geflochten, ihr Teint dagegen nahm sich auffällig hell aus. Ich tat sie auf irgendeiner Insel im Pazifischen Ozean heim.

«Man sieht es mir an, nicht wahr?»

Sie lachte, als hätte ich eben den Witz des Jahres gemacht. Dabei war sie mir so nahe gerückt, dass sich unsere Beine berührten. Ich nahm einen Schluck aus dem Glas und versuchte mir unauffällig wieder etwas Bewegungsfreiheit zu verschaffen. Sie sagte etwas, was ich nicht verstand.

Eine dralle Blonde im Glitzerkostüm schickte sich an, zu einem Kuschelrocksong unmotivierte Bewegungen zu machen.

«Können wir englisch sprechen, mein Deutsch ist nicht so gut.»

Ich nickte und wunderte mich, wie lächerlich das alles wirkte.

«Do you like this?»

«Yeah, sure, it’s really nice …» Ich verzog kennerisch den Mund.

«You look good, very good …»

Ich glaubte, nicht recht verstanden zu haben. Die junge Frau blickte erschrocken zu Boden und spielte mit der Schlaufe ihres linken Zopfes. Das sollte süss aussehen und tat es auch. Ich bedankte mich und setzte hinzu, sie habe das Kompliment verdient. Sie nahm es strahlend entgegen.

«From where do you come?»

«From the Philippines. And you?»

«I’m a native.»

Sie lachte. Ich trank Bier und stellte fest, dass die Blonde inzwischen ihre Brüste freigelegt hatte. Sie warf meiner Philippinin einen ironischen Blick zu. Die Männer, zu meiner Überraschung alle unter vierzig, unterhielten sich mit ihren Damen und nahmen von dem Striptease nur am Rand Notiz.

«Can I have a drink, I’m so thirsty.» Ihre Mandelaugen schmachteten, zwischen ihren Brauen hatten sich vertikale Fältchen gebildet.

Mein Plan, wie ich ihn mir im «Central» zurechtgelegt hatte, sah vor, zuerst ein wenig zu schauen und die Mädchen über Slavković und die Ereignisse der Mordnacht auszuhorchen. Falls eines mehr wusste und darüber zu sprechen bereit war, sollte dabei der eine oder andere Drink rausspringen. Ich war nicht darauf vorbereitet, dass erwachsene Mädchen einen auf diese Weise ansehen konnten.

«Do you like Champagne?», sagte sie und zwirbelte das langstielige Glas zwischen Daumen, Zeige- und Mittelfinger.

Ich schüttelte den Kopf: «I just drink beer and water. And tea, when I have a cold.»

«What’s your name?»

Ich nannte ihn ihr. Sie sprach ihn nach, akzentfrei.

«I’m Rosalia», sagte sie in einem Ton, als ob es sich dabei um eine Offenbarung handelte.

In einem günstigen Moment sah ich an ihr hinunter, soweit das bei der Nähe ging. Sie schien – für eine Asiatin – ziemlich gross zu sein, trug ein schlichtes, schwarzes Abendkleid und dazu passende Lackschuhe. Im Gegensatz zu einigen anderen Damen, die nur gerade mit einer Art Nachthemdchen bekleidet waren, hätte ich mich mit Rosalia durchaus an einem Diner oder einem klassischen Konzert zeigen können. Als ich wieder auf die Tanzfläche sah, die zwischen den zwei geschwungenen Theken lag, konnte ich gerade noch einen Blick auf den nackten Hintern werfen, bevor dieser in einer Seitentür verschwand.

Ich fragte Rosalia, ob es hier immer so ruhig sei.

«Oh no, normally there is every place taken. But since …» Sie unterbrach sich und blickte ängstlich um sich.

«You wanted to say: since this murder happened, the people don’t come no more?»

Es dauerte eine Weile, bis sie das Lächeln wieder auf ihre Lippen gezaubert hatte. «Yes.»

«How long are you working in this place?»

«Since two weeks.»

Ich trank Bier und bemerkte eine füllige, ältere Blonde, die von ihrem Platz aus den ganzen Raum überblickte. Sie gab einem Mädchen, das mit aufgestützten Ellbogen am gegenüberliegenden Tresen sass, ein Zeichen. Darauf setzte es sich aufrecht hin, wirkte aber genau so gelangweilt wie zuvor.

Ein letztjähriger Sommerhit schwabberte durch den Raum.

«Do you like the music?»

Ich sagte, weil sie das hören wollte: «Oh yes.»

«I like it very much! Do you like to dance?»

«Yes, sometimes. But I keep my clothes on, normally.»

Sie lachte erwartungsgemäss und rückte mir wieder näher. Sie roch gut, irgendwie nach Rosen und nackter Haut.

Ich versuchte mich zu konzentrieren. «Did you know Mister Slavković?»

«Yes, of course. He was a very good friend of Mister Müller.»

Ich fragte, ob Herr Müller der Besitzer des Cabarets sei. Rosalia bestätigte.

«Did you know Mister Slavković?»

«I was working for him.»

Ich erkundigte mich, ob Slavković an dem besagten Abend im Cabaret gewesen war. Rosalia nickte. Ich bedrängte sie weiter und fragte, um welche Zeit er wieder gegangen sei.

Sie sah mich misstrauisch an. Ob ich etwa von der Presse sei – sie dürfe nicht mit Journalisten reden. Ich sagte, ich sei Privatdetektiv und würde im Auftrag von Slavkovićs Frau arbeiten. Das Wort Privatdetektiv schien sie zu beeindrucken.

Inzwischen waren drei Artistinnen dabei, so was Ähnliches wie einen orientalischen Tanz aufzuführen. Während ich ihnen belustigt zuschaute, war die Frau, die ich für die Geschäftsführerin hielt, an Rosalia herangetreten und wechselte mit ihr ein paar Worte. Nachdem sie sich wieder entfernt hatte, fragte ich Rosalia, ob ich ihr noch ein «Piccolo» offerieren dürfe.

Sie müsse sich nun für ihre Show bereit machen, erwiderte sie. Aber danach nähme sie mein Angebot gern an, wenn ich dann noch möchte.

Bevor sie ging, beugte sie sich zu mir vor. Sie legte ihre linke Hand an meine Schläfe, ihre Lippen berührten mein Ohr: «I do this dance just for you.»

Die drei Artistinnen hatten die Tanzfläche verlassen, ohne dass irgendwelche Hüllen gefallen wären. Ich bestellte noch ein Bier und war froh, genug Geld eingesteckt zu haben. Nach einer Weile setzte sich eine andere junge Frau zu mir. Sie hatte braunes Haar und sprach sehr gut Deutsch. Sie komme aus der Ukraine. Wies mir gehen würde und ob ich zum ersten Mal hier sei. Ihre Bitte, etwas trinken zu dürfen, schlug ich ab. Ich hoffte, sie nähme es nicht persönlich, und fragte mich, warum Rosalia so lang brauchte.

Als sie endlich die Tanzfläche betrat, hätte ich sie kaum wiedererkannt. Sie trug eine rot-weiss gemusterte Fantasietracht, hatte ein Kopftuch umgebunden und ein künstliches Edelweiss im rechten Zopf stecken. Augenblicklich wurde mir klar, wozu dieses alte Filmlied aus den Boxen erklang: Rosalia verkörperte das Heidi.

Sie tänzelte mit anmutigen Bewegungen auf der Bühne hin und her, wog sich in den Hüften und warf lächelnd die Zöpfe über die Schultern.

«Heidi, Heidi, deine Welt sind die Be-herge …»

Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass ein Dirndl dermassen sexy wirken kann. Ich bemerkte, dass die anderen Gäste aufgehört hatten, sich mit ihren Mädchen zu unterhalten. Rosalia winkelte den Unterschenkel des linken Beines an und drehte spielerisch eine Pirouette.

«… brauchst du zum Glücklichsein …»

Sie griff sich mit beiden Armen ans Kreuz, löste eine Schlaufe, zog den Bändel über den Kopf und liess die Schürze zu Boden gleiten.

«Hololo-idi, hololo-idi, hololo-idi, hololo-idi …»

Plötzlich sah sie mir in die Augen. Es war mir, als seien zwangsläufig alle Blicke im Raum auf mich gerichtet. Ich sah, dass Rosalia die Schleifen des Kleides löste und es abstreifte, dass sie – jetzt nur noch mit der weissen Bluse bekleidet – bei der Stange eingehängt eine halbe Drehung vollführte, dann mit dem anderen Arm die Drehung zurück; ich sah ihr fröhliches Lächeln und – nachdem sie auch noch ihre Bluse ausgezogen hatte – ihre Brüste und ihr Höschen, ich sah das alles und konnte es doch nicht betrachten; weil mich Rosalias Blick nicht losliess, weil ich es in Wahrheit war, der beobachtet wurde. Von Rosalia. Und von der skeptisch äugenden Geschäftsführerin, wie ich mit Unbehagen feststellte. Schliesslich trug Rosalia nur noch ihre Sandaletten, ihre Strümpfe, ihr Höschen und das Kopftuch und hüpfte von der Tanzfläche. Ich sah ihrem kleinen, festen Hintern nach und wusste danach eine Weile nicht, wohin mit meinem Blick.

Als Rosalia – wieder im schwarzen Abendkleid – auf mich zukam, war ich beim dritten Bier. Die Mädchen hatten mich nach Rosalias Show in Ruhe gelassen. Nachdem sie neben mir Platz genommen hatte, bestellte ich ein «Piccolo».

«Did you enjoy the show?»

«It was beautiful, really great magic art. You have conjured up the whole people.»

Sie freute sich über mein Kompliment. Mir fiel auf, dass sich ihre Oberlippe nach aussen wölbte, wenn sie lächelte.

Nach dem dritten Cüpli brachte ich Rosalia dazu, mir von den Ereignissen jener Nacht zu erzählen. Viel wusste sie nicht. Ein Kunde entdeckte kurz vor drei Uhr Slavkovićs Kopf, der auf einem Zaunpfahl des benachbarten Grundstücks steckte. Eine Viertelstunde später waren die Polizeibeamten da. Sie machten Fotografien und überprüften die Personalien der anwesenden Gäste. Inzwischen hatten sie auch Müller aus dem Bett geholt. Schüsse hatte Rosalia keine gehört. Auch sonst nichts Ungewöhnliches bemerkt.

Ich war erstaunt, dass die Polizei die anwesenden Tänzerinnen nicht einvernommen hatte. Die Mädchen wurden lediglich dazu angehalten, nach Hause zu gehen und mit niemandem über den Vorfall zu sprechen – vor allem nicht mit der Presse.

Ich sass bereits wieder auf dem Trockenen. Mehr würde ich heute nicht erfahren. Ich überschlug die zu zahlenden Getränke und verglich die daraus resultierende Summe mit dem Betrag, den ich bei mir hatte. Für ein weiteres Bier und eine weitere Viertelstunde Lächeln der durstigen Dame reichte es nicht mehr aus. Ich bezahlte. Dann steckte ich Rosalia meine letzte grosse Note zu und bedankte mich für die Auskunft. Falls ihr noch etwas in den Sinn käme, könne sie mich unter der folgenden Nummer erreichen. Ich schrieb die Zahlenfolge auf einen Zettel und reichte ihn ihr. Als ich beim Hinausgehen noch einmal zurückblickte, hob Rosalia den Arm und begann wie ein verliebtes Schulmädchen zu winken.

Es regnete, und ich war zu Hause. Ich hatte zum wiederholten Mal die Briefe gelesen und meine Notizen studiert und konnte mir auf all das keinen Reim machen. Was ich bisher herausgefunden hatte, war, dass Slavković Geld aus dem Drogenhandel gewaschen hatte und deswegen von der Justiz ins Visier genommen worden war. Zudem soll er bei einigen Kosovaren nicht gerade beliebt und mit Müller vom Cabaret Paradise befreundet gewesen sein.

Bemerkenswert erschien mir der Umstand, dass der Mörder seine Tat – verschlüsselt in Andrić-Zitate – im Voraus ankündigt, um dann sein Opfer tatsächlich nach osmanischer Art hinzurichten.

Bis auf die Sache mit dem Penis. Faruk hatte erwähnt, die Tänzerinnen würden es erzählen. Aber woher sollten sie das wissen, wenn Slavkovićs enthauptete Leiche im Wehr von Rathausen gefunden worden war? Sie hätten es von der Polizei erfahren müssen.

Viel wahrscheinlicher war, dass dieses Detail der Fabulierlust einer Animierdame entsprungen und vom «Blick»-Journalisten dankbar aufgegriffen worden war. Vielleicht hatte ebendiese Frau den heimlichen Wunsch gehegt, Slavković um ein oder auch zwei Glieder zu kürzen – aus welchem Grund auch immer.

Ich machte mir starken italienischen Kaffee und trat damit ans Fenster. Die Gerliswilstrasse duckte sich unter dem Regen und dem üblichen Zwei-Uhr-Nachmittagsverkehr. Ich rauchte eine Zigarette an und blies den Rauch durch den Spalt des angelehnten Fensters.

Bisher liess sich die Sache gut an. Wenn mich nicht alles täuschte, war das genau der richtige Stoff für einen Krimi. Aber es war noch zu früh, ausgehend von den Ingredienzen die Geschichte weiterzuspinnen.

Ich versuchte, ein Profil des Täters zu erstellen. Eigentlich kam dafür nur ein Landsmann in Frage: Als solcher kennt er Andrićs Werke und beherrscht die kyrillische Schrift. Wobei, wie mir Adnan erklärt hatte, diese im Zug der Nationalisierung von den Serben vereinnahmt worden war. Kein Kroat oder bosnischer Muslim würde diese Schriftzeichen heute noch verwenden. Gut möglich also, dass Slavković daraus den Schluss gezogen hatte, der «Türke» wolle ihn auf eine falsche Fährte locken.

 

Wie auch immer, es ging dem Mörder nicht einfach darum, Slavković zu beseitigen. Nein, an ihm sollte ein Exempel statuiert werden: «Ja, Bosnien ist das Land des Hasses.» Eine Abrechnung aus dem Krieg vielleicht … Eine Antwort darauf musste in Slavkovićs Vergangenheit zu finden sein.

Das «Sportcentar» befand sich im Parterre und im Anbau eines schlichten Wohnblocks an der Emmenweidstrasse. Noch in den Siebzigern soll sich darin ein Kino befunden haben. Nun war es ein Ausländertreffpunkt, der in Wirklichkeit vor allem von Serben genutzt wurde. Der Wirt, ein Gastarbeiter der ersten Stunde, hiess in seinem Sport- und Kulturzentrum ausdrücklich alle Ethnien willkommen – sprich alle Jugoslawen. Während des Krieges jedoch begann es plötzlich eine Rolle zu spielen, dass er selbst ein bosnischer Serbe war, und so hatte sich das «Sportcentar» zu einem reinen Serbentreff gewandelt.

Slavkovićs Frau hatte mir am Telefon erzählt, ihr Mann habe einen Mitgliedsausweis gehabt. Er habe sich dort oft eingefunden, um Karten zu spielen und die Kundschaft zu pflegen.

Es war etwas nach neun, als ich mich von der Emme her über die Industriegeleise dem «Sportcentar» näherte. Der Wirt hatte auf das Trottoir zwischen die bepflanzten Betontröge einige Gartentische gestellt, an denen eine Handvoll Männer sassen und Karten spielten. Es brauchte mehrere Versuche und den Ratschlag eines Spielers, bis ich begriff, dass die Glastür nach innen aufging.

Der längliche Raum erinnerte entfernt an die Empfangshalle eines einfachen Hotels. Dem Eingang gegenüber führte eine breite Treppe ins Obergeschoss. Davor gingen auf beiden Seiten Türen in weitere Räume. Im Empfangsraum selbst standen mehrere runde Tische und daran Stühle von verschiedenem Aussehen. Die Wände waren schmucklos bis auf die Abbildung einer Meereslandschaft bei Sonnenuntergang. Auf den weissen Fliesen hatten dunkle Gummisohlen ihre Spuren hinterlassen. Dort, wo sich – um im Bild zu bleiben – die Rezeption befunden hätte, stand eine Bar.

Niemand war zu sehen. Ich versuchte, mich mit Auf- und Abgehen bemerkbar zu machen. Nach einer Weile steckte ich mir eine Zigarette an und lehnte mich an die Theke.

«Dobro Veče.»

Ich fuhr herum.

«Guten Abend …»

Der etwas dickliche Mann mit Vollbart und Brille war durch eine der Seitentüren unbemerkt hinter die Bar getreten.

«Was mechten Sie, bitte sehr.»

«Ich hätte gern was getrunken … Ein Bier.»

Er musterte mich eingehend. Dann bückte er sich und entnahm einer Schublade, die er seufzend hervorrollte, eine Flasche. Die übrigen Getränke in dem gekühlten Kasten schlugen geräuschvoll aneinander, als er ihn wieder zurückschob.

«Haben Sie kein jugoslawisches Bier?», hinderte ich ihn am Öffnen.

Er hielt in seiner Bewegung inne und durchbohrte mich mit seinen schwachsichtigen Augen.

«Es gibt kein Jugoslawien mehr, Jugoslawien ist tot!», sagte er und liess den Flaschenöffner aus geringer Höhe auf die Ablage fallen.

Obwohl zu der Zeit Serbien-Montenegro offiziell noch Jugoslawien hiess, glaubte ich zu verstehen, was er meinte.

«Wenn Sie unbedingt mechten …», er bückte sich – wieder mit einem Seufzer – und tauschte das heimische Bier gegen ein anderes, «hier haben Sie bosnisches Bier.» Er öffnete und reichte mir die gedrungene Flasche.

Ich betrachtete die Etikette mit der kyrillischen Aufschrift, die sich so etwas wie «Hektap» las, nahm einen Schluck und stellte die Flasche ab.

«Sind Sie Miroslav Tadić?»

Wieder guckten die Äuglein hinter den dicken Brillengläsern, prüfend oder feindselig. Dann wandte er sich ab und begann an der Kaffeemaschine zu hantieren. Irgendwann dazwischen hatte er ein «Mhm …» gemurmelt. Für Sekunden unterband das Lärmen der Mühle jegliche Konversation.

Das Bier schmeckte malzig und erfrischend zugleich und hatte einen hohen Alkoholgehalt. Nachdem der Mann eine Espressotasse unter den Kolben gestellt hatte, machte ich einen neuen Anlauf.

«Herr Tadić, ich würde Sie gern über einen Ihrer Kunden befragen.»

Dem breiten Rücken und dem dichtbehaarten Hinterkopf war keine Reaktion anzumerken. Als die Bedienung der Maschine ihm keinen Vorwand mehr lieferte, drehte er sich langsam um. Er stellte die Tasse auf die Ablage, gab Zucker dazu und rührte mit einem silbernen Löffelchen. Er führte die Tasse an seine Lippen, blies hinein und nippte daran. Dabei liefen seine Brillengläser an. Umständlich begann er, sie mit seiner Schürze zu reinigen. Während der ganzen Zeit beachtete er mich nicht. Nachdem er die Brille wieder aufgesetzt hatte, sagte er schläfrig: «Was wollen Sie?»

«Haben Sie Herrn Slavković gekannt?»

Er zuckte mit den Schultern und blickte durch die Glastür nach draussen.

«Ich weiss, dass er zu Ihrer Stammkundschaft gehört hat …»

«Wer sind Sie …»

«Ich bin Privatdetektiv. Ich will herausfinden, wer Slavković ermordet hat.»

Keine Reaktion.

«Hören Sie, ich will Ihnen nur ein paar Fragen stellen.»

Ich griff in meine Tasche und legte eine Fünfzigernote auf die Theke. «Niemand wird erfahren, dass Sie mit mir gesprochen haben.»

Tadić öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Nach einer Weile begann er zu sprechen: «Ich brauche kein Geld von Ihnen. Ich lebe seit mehr als zwanzig Jahren hier, habe immer mein eigenes Geld verdient.» Sein Deutsch war eine kuriose Mischung aus Schriftsprache und Dialekt.

Er trank seinen Espresso in einem Zug und versuchte meinem Blick auszuweichen, was ihm diesmal nicht gelang.

«Was wollen Sie wissen?»

«Können Sie mir etwas über Slavkovićs Vergangenheit erzählen?»

«Nein.»

«Nein? Er war regelmässig in Ihrem Lokal!»

«Ich frage meine Gäste nicht aus.»

«War er oft im ‹Sportcentar›?»

«Zwei-, dreimal in der Woche …»

«Schon lang?»

«Ich weiss nicht, seit einigen Jahren – seit er in der Schweiz ist vermutlich.»

«Wann ist Slavković in die Schweiz gekommen?»

«Woher soll ich das wissen?»

«Vor oder nach dem Krieg?»

«Ich glaube danach, er hat von einem Kommando erzählt, das er angefihrt hat.»

«Kommando?»

«Richtig, Kommando. Ich glaube, er hat Karriere gemacht in der Armee. Aber ich weiss dariber nichts Genaues. Hat mich nicht interessiert.»

Eine Gruppe Jugendlicher mit umgehängten Sporttaschen kam aus einer der Türen und verabschiedete sich höflich von Tadić. Ich bemerkte ein Leuchten in seinen Augen, das kurz aufflackerte, um gleich wieder zu erlöschen. Nachdem die Glastür ins Schloss gefallen war, war es wieder still im Raum. Ich trank und hielt Tadić eine Zigarette hin, gab ihm Feuer und steckte mir selbst eine an.

«Mal ganz unter uns: Haben Sie Slavković gemocht?»

Er zog die Augenbrauen hoch und schwieg. Ich wusste inzwischen, dass er Zeit brauchte, um seine Gedanken in Rede umzusetzen.

«Gemocht?»

«Ich will Ihre persönliche Meinung hören.»

Tadić fuhr sich mit der Rechten durch den Bart, seine Augen wurden schmal und verschwanden fast hinter den dicken Gläsern.

«Slavković war eine Grossmaul, wenn Sie mich fragen. Hat nie richtig gearbeitet, hat sich auch nicht Mihe gegeben, Deutsch zu sprechen. Viele sagen, er hat mit krummen Dingen sein Geld gemacht … Aber das geht mich nichts an. Wenn die Schweizer lieber ehrliche Familien zurickschicken, so ist das nicht meine Sache …»

«Kennen Sie jemanden hier, der mir mehr über Slavkovićs Vergangenheit erzählen könnte? Jemand, der ihn kannte, bevor er in die Schweiz kam?»

Tadić bewegte langsam den Kopf hin und her. «Ich weiss nicht. Vielleicht, wenn er Verwandte hier hat. Wir kommen von iberall her, wissen Sie, Krajina, Slawonien, Bosnien, Mazedonien, Serbien und Montenegro. Manchmal kommen zwei aus dem gleichen Dorf und haben sich erst hier kennengelernt … Die meisten, die während oder nach dem Krieg gekommen sind, sprechen nicht iber die Vergangenheit. Ich frage auch nicht danach …»

Tadić blickte unruhig nach draussen.

«Noch eine letzte Frage, dann lass ich Sie in Ruhe.»

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