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Auf den glatten Marmorfliesen lag ein orientalischer Teppich. Der niedere Glastisch flankiert von zwei schwarzen Armsesseln und längs dazu – an der Wand – ein ebensolches Sofa. Dar über im goldenen Rahmen eine kitschig kolorierte Fotografie, die ein Brautpaar zeigte. Die Frau war etwas grösser als der Mann, auch schien sie älter zu sein. Der Bräutigam blickte aus glasigen Augen und so, als wisse er nicht genau, wozu er fotografiert wird. Es handelte sich zweifelsohne um Zoran Slavković in jüngeren Jahren. Der Gedanke an sein grausiges Ende machte mich schaudern. Ein anderes Bild zeigte eine naturalistische Darstellung eines Fischerdorfs. In der Wohnung roch es eigenartig, nach künstlichem Vanilleduft oder ähnlich – nach den Duftbäumchen, die sich die Leute in die Autos hängen.

Als Frau Slavković mit dem Kaffee aus der Küche kam, setzten wir uns an den Couchtisch. Ich war ein wenig enttäuscht, statt eines türkischen den üblichen Maschinenkaffee serviert zu bekommen. Für sich selbst hatte sie einen Früchtetee gemacht. Ich wartete vergeblich darauf, ihr Blick, der auf ihren rotlackierten Fingernägeln ruhte, würde sich mir zuwenden.

«Ich möchte Ihnen mein herzliches Beileid aussprechen …»

Sie reagierte nicht.

«Ich kannte Ihren Mann nicht gut, ich hatte ihn gerade ein einziges Mal gesehen – vermutlich an dem Abend, als er …» Ich unterbrach mich, denn Frau Slavković hatte ihre kalten Augen auf mich gerichtet.

Sie erinnerte mich ein wenig an Mira Marković, Miloševićs Frau. Wie diese trug sie ihr schwarzes Haar zu einem Pony geschnitten. Tatsächlich hatte ich unter den Büchern eine Autobiografie von Mira Marković entdeckt. Frau Slavkovićs Gesichtszüge waren nicht ganz so hart, aber sie war bestimmt noch bleicher als die einflussreiche Präsidentengattin.

Ich zog die Couverts aus meiner Jackentasche und legte sie auf den Tisch. «Ihr Mann, wie Sie sicher wissen, hat mich beauftragt, die Person ausfindig zu machen, die ihm diese Drohbriefe geschrieben hat. Leider bin ich nicht sehr weit gekommen …» Ich räusperte mich.

«Selbstverständlich erstatte ich Ihnen die Anzahlung zurück, die er mir gegeben hat. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie unangenehm es mir ist … Wie sehr ich es bedaure, dass ich diese schreckliche Tat nicht verhindern konnte … Ich hoffe, die Polizei kriegt den Mörder schon bald zu fassen …»

«Die Polizei …», murmelte Frau Slavković.

Ich sah sie aufmerksam an.

«Die Polizei? Die Polizei war schon hier. Ich …» Sie richtete sich in ihrem Sessel auf. «Ich meine, was machen sie dann mit dem Mörder? Stecken ihn in eine Zelle mit Tageslicht, Farbfernseher und Bad.» Sie bewegte den Kopf langsam hin und her. «Neinnein – behalten Sie das Geld. Finden Sie heraus, wer die Briefe geschrieben hat. Ich gebe Ihnen das Doppelte von dem, was Zoran Ihnen versprochen hat.»

Ich dachte einen Moment nach. Ich fürchtete, das Ganze könnte mir über den Kopf wachsen. Noch sass mir der Schreck über den grausamen Mord in den Gliedern. Zugleich war mir bewusst, dass ich mir wohl kaum eine spannendere Ausgangslage für einen Krimi hätte ausdenken können.

«Und dann, was beabsichtigen Sie?», nahm ich das Gespräch wie der auf.

Ein seltsames Lächeln huschte über ihr Gesicht: «Lassen Sie das meine Sorge sein.»

Ich schob meine Zweifel beiseite. Wir einigten uns auf das neue Honorar, ich liess mir die wöchentliche Deckung der Spesen zusichern und versprach, sie regelmässig über den Stand der Ermittlungen zu informieren.

Zum Schluss fragte ich sie nach verdächtigen Personen. Sie dachte lange nach, öffnete ein paar Mal den Mund, sagte dann aber doch nichts.

«Ihr Mann war überzeugt, er habe viele Neider. Vor allem unter den bosnischen Muslimen und den Kosovaren. Können Sie mir darüber etwas sagen?»

«Schon möglich. Wer Erfolg hat, hat auch Neider.»

«Aber wer könnte an seinem Tod ein Interesse haben?», versuchte ich mich verständlich zu machen.

«Die Person, welche die Briefe geschrieben hat!», sagte sie bestimmt.

Ich überlegte. «Was ist mit Mehmet Taliqi – sie waren immerhin direkte Konkurrenten?»

Sie zuckte mit den Achseln. «Das glaube ich nicht. Mein Mann war zwar nicht gut auf ihn zu sprechen. Aber es gab doch genug Arbeit für beide.»

Ein Schweigen trat ein. Frau Slavkovićs Blick ruhte wieder auf ihren Händen. Ich wartete eine Weile, bevor ich sagte: «Mir ist da zu Ohren gekommen, ihr Mann habe schmutziges Geld investiert, Geld aus dem Drogenhandel …»

«Keine Ahnung.»

«Glauben Sie, dass was Wahres dran ist?»

Ihr Augen wurden zu schmalen Schlitzen. «Fragen Sie mich nicht. Mein Mann hat niemals mit mir über seine Geschäfte geredet.»

Ich versuchte abzuschätzen, wie weit ich gehen durfte. «Ich meine, hätten Sie Ihrem Mann etwas in der Art zugetraut …» Ich erschrak, weil sie ein unmenschliches Zischen ausstiess, und fügte beschwichtigend hinzu: «Oder dürfte es sich dabei um Rufmord handeln – Lügen, die in die Welt gesetzt werden, um Ihren Mann schlechtzumachen?»

Noch während ich sprach, spürte ich, dass ich gegen eine Wand redete. Ihr Blick ging durch mich hindurch, ihr Körper hing schlaff im Sessel.

Ich atmete auf, als die Tür hinter mir ins Schloss fiel. Ich beschloss, einen Umweg zu machen, und kam über den Abstieg durch den Wald zur Hinter-Emmenweid. Entlang der Emme an verrussten Fabrikhallen und verschachtelten Produktionsgebäuden vorbei gelangte ich zurück ins Stadtzentrum. Ich hatte Hunger und genügend Geld in der Tasche und beschloss, im Migrosrestaurant zu Mittag zu essen. Ich stellte mir ein Menü aus panierten Schnitzeln, Teigwaren und Gemüse zusammen, bezahlte an der Kasse, griff mir die «Neue Luzerner Zeitung» und den «Blick» und setzte mich an einen Tisch bei der Fensterfront, die sich in einem Viertelkreis zum Sonnenplatz hin wölbte.

Slavkovićs Tod schien allenthalben für Gesprächsstoff zu sorgen. Am Nachbartisch sass ein dicker Mann mit seiner dicken Frau und der dicken Tochter. Er unterhielt sich mit zwei Männern an einem anderen Tisch, die vor ihren leeren Kaffeetassen sassen. Sie redeten von den kriminellen Jugos und dass es gut sei, wenn sie sich gegenseitig die Grinde einschlügen. Der Dicke meinte, man müsse bald eine Bürgerwehr aufstellen, um seine Familie zu schützen.

«Man muss ja Schiss haben, dass sie einem die eigene Tochter vergewaltigen.»

Die Tochter errötete und lächelte verlegen, während die Mutter die Gesprächsrunde mit zustimmenden Einwürfen anfeuerte.

Es waren traurige Menschen, und die Vorstellung, dass ich das gleiche Essen ass wie sie zuvor, verdarb mir ein wenig den Appetit. Ich vertiefte mich in die Lektüre und schob nebenbei immer mal wieder eine gehäufte Gabel in den Mund.

Über Slavkovićs Tod war nicht wirklich was Neues zu lesen. Sie hatten die enthauptete Leiche im Wehr von Rathausen gefunden. Der «Blick» wusste zudem zu berichten, dass ihm sein «bestes Stück» abgeschnitten und sein Kopf beim Cabaret Paradise auf einen Zaunpfahl gespiesst worden war. Es passte alles zusammen, auch die Schüsse im Brustbereich, an denen er vermutlich gestorben war. Bis auf das Detail mit seinem Penis. Ich rechnete das der überbordenden Fantasie des «Blick»-Journalisten zu, denn in der «NLZ» war davon nichts zu lesen. Von den Tätern fehlte nach Angaben der Polizei jede Spur. Ich lag also weiter im Rennen. Mit den Briefen hatte ich ausserdem einen wichtigen Anhaltspunkt in der Hand. Slavkovićs Frau hatte mir versichert, diese der Polizei gegenüber nicht erwähnt zu haben.

Zu Hause schlug ich die Nummer der Kantonspolizei nach. Ich musste es mehrmals versuchen, bis endlich jemand abhob und mich mit dem Pressesprecher verband. Dessen Stimme klang entnervt. Ich war vermutlich nicht der Erste, mit dem er heute telefonierte. Ich gab mich als Journalist des «Süddeutschen Wochenmagazins» aus und stellte einige Fragen, die er mir bestätigte.

«Hören Sie, ich kann Ihnen nichts Neues berichten. Die Ermittlungen sind in vollem Gang.»

«Stimmt es, dass dem Enthaupteten das Geschlechtsteil abgeschnitten wurde?»

«Das haben Sie aus der Boulevardpresse …»

«Es entspricht also nicht der Wahrheit?»

«Nun passen Sie mal auf. Alles, was zurzeit gesichert ist und an die Öffentlichkeit gehört, hab ich Ihnen bereits gesagt. Mehr erfahren Sie, wenn die Ermittlungen abgeschlossen sind.»

Ich trat die Flucht nach vorne an und behauptete: «Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Herrn Slavković wegen Beziehungen zum internationalen Drogenhandel. Können Sie bestätigen, dass der Mörder im Umfeld der kosovarischen Mafia zu finden ist?»

Eine Weile blieb es still. Ich glaubte zu spüren, wie er den Atem anhielt. «Ich hab Ihnen alles gesagt, was Sie zu wissen brauchen.»

Ich hatte den Hörer bereits aufgelegt. Ich blätterte im Telefonbuch und stellte die Nummer der Staatsanwaltschaft ein. Dass die Leitung nicht besetzt war, deutete ich als ein gutes Zeichen. Nach fünfmaligem Klingeln meldete sich eine Stimme.

«Guten Tag, hier ist Arnold vom ‹Süddeutschen Magazin›. Ihr Kollege von der Kripo hat mir bestätigt, dass gegen Herrn Slavković ermittelt wird wegen Beziehungen zum internationalen Drogenhandel. Besteht ein Zusammenhang zwischen seinem Reiseunternehmen und diesen Machenschaften?»

Der Mann zögerte. «Herr Graber hat mit Ihnen darüber gesprochen?»

«Er hat mich für weitere Auskünfte an Sie verwiesen …»

Er räusperte sich. «Nun ja, das erstaunt mich einigermassen. Wir pflegen mit Informationen erst an die Öffentlichkeit zu gehen, wenn die Ermittlungen abgeschlossen sind.»

«Herr Graber hat erzählt, Herrn Slavkovićs Reisebüro biete Transaktionen auf den Balkan an. Es sei diesbezüglich ein Untersuchungsverfahren wegen mangelnder Sorgfalt bei Finanzgeschäften im Gang. Geht es um Geldwäscherei?»

 

«In seinem Reisebüro werden Geldwechsel und Geldüberweisungen auf den Balkan offeriert, das ist richtig so. Für welche Zeitung schreiben Sie, haben Sie gesagt?»

«Für das ‹Süddeutsche Wochenmagazin›. Sie haben die Transaktionen in Slavkovićs Reisebüro erwähnt …»

«Genau, ja. Herr Slavković gehört zu den ganz Grossen im Geldwechsel- und Geldtransfergeschäft. Es geht um bis zu Hunderttausende an Geldüberweisungen, gegen Bezahlung von Kommissionen, versteht sich.»

«Und weiter?»

«Zur Zeit läuft eine zweijährige Übergangsfrist des neuen Geldwäschereigesetzes. Ab April 2000 brauchen die im Geldtransfergeschäft tätigen Personen eine behördliche Bewilligung.»

«Und inwiefern wird Slavkovićs Geschäft dadurch tangiert?»

«Es besteht die Vermutung, dass Herr Slavković die wirtschaftliche Berechtigung der entgegengenommenen Vermögen nicht in allen Fällen mit der notwendigen Sorgfalt geprüft hat.»

«Sie vermuten?»

«Bis jetzt ist noch nichts erwiesen.»

«Laufen weitere Ermittlungen in ähnlichen Bereichen? Steht Mehmet Taliqis Reisebüro ebenfalls unter Geldwäschereiverdacht?»

«Wie kommen Sie darauf?»

«Es ist doch naheliegend, dass Sie sein Geschäft auch im Visier haben.»

«Der Name sagt mir nichts. Haben Sie noch weitere Fragen?»

«Das wäre alles. Haben Sie vielen Dank.»

Mehmet Taliqi wohnte in einem Hochhaus im Arbeiter- und Ausländerquartier Meierhöfli. Ich hatte mit seinem Sohn telefoniert und gesagt, ich führte im Auftrag des Bundesamtes für Migration Umfragen bei Ausländern durch, die seit mehreren Jahren in der Schweiz lebten. Nach Rücksprache mit seinem Vater hatte er einen Termin mit mir vereinbart.

Taliqis Wohnung befand sich im sechsten Stock des mit weissen und braunen Steinplatten verkleideten Hochhauses. Der Lift war gerade defekt; so war ich ausser Atem, als ich den Klingelknopf drückte. Ein Junge von ungefähr sechzehn Jahren öffnete mir. Er hatte kurze, schwarze Haare und ein längliches, blasses Gesicht. Sein Blick hinter der schwarzen Drahtbrille war klug und wach. Er bat mich in den schmalen Korridor. Ich zog die Schuhe aus und stellte sie zu den anderen, die auf einem Gestell bei der Garderobe aufgereiht waren. Ich vergewisserte mich, dass ich keine löchrigen Socken trug, und folgte dem Jungen auf dem hellgrauen Spannteppich. Er führte mich ins Wohnzimmer.

«Bitte nehmen Sie doch Platz.»

Ich fragte den Jungen, der tadellos Schweizerdeutsch sprach, nach seinem Namen. «Fadil, jetzt erinnere ich mich – wir haben zusammen telefoniert.»

Er nickte.

«Und gehst du noch zur Schule?»

«Ich bin an der Kanti, vierte Klasse.»

«Ah ja, im Rothen, nehm ich an.»

Er bestätigte und verliess darauf den Raum, um seinen Vater zu benachrichtigen. Ich blieb stehen und begutachtete die Einrichtung. Der farbenprächtige Teppich am Boden war an manchen Stellen fadenscheinig. Das an der Wand angebrachte Bücherregal wurde ausschliesslich so genutzt, wie es gedacht war, und liess auf eine gewisse Belesenheit seines Besitzers schliessen. Über dem Sofa hing ein aufwändig gearbeiteter Gebetsteppich. Durch ein Fenster und die Glastür, die auf den Balkon gingen, genoss man einen guten Ausblick auf die unmittelbare und die fernere Umgebung: die Strassen und Häuser des Quartiers, die monströsen Bahnen und Brücken der A2 und in täuschender Nähe die Voralpenkette.

Herr Taliqi erschien im dreiteiligen schwarzen Anzug. Bis auf die hellbraunen Pantoffeln an den Füssen war er eine äusserst elegante Erscheinung: mittelgross und schlank, die pechschwarzen Haare zu einem Seitenscheitel gekämmt. An den Schläfen waren einzelne graue Strähnen zu erkennen. Er begrüsste mich mit kurzem Händedruck und bat mich, im Armsessel Platz zu nehmen. Er selbst setzte sich diagonal mir gegenüber unter den Gebetsteppich.

Ich stellte mich vor und kramte einige A4-Seiten und den Kugelschreiber aus meinem Rucksack. Fadil, der sich neben seinen Vater gesetzt hatte, übersetzte. Ich war gerade dabei, die Absicht der Umfrage zu erläutern, als eine kleine Frau mit Kopftuch das Zimmer betrat. Sie lächelte mir kurz zu und stellte ein Tablett auf den Tisch. Dann ging sie wieder aus dem Raum. Zurück blieb der intensive Duft frisch gebrühten Kaffees.

«Trinken Sie?», fragte Fadil.

«Sehr gern.»

Taliqi machte sich daran, aus einem länglichen Metallkrug Kaffee in die kleinen Tassen einzuschenken. Ich bediente mich mit Zucker aus einer winzigen Porzellanschale.

Nachdem ich vorsichtig vom starken Getränk probiert hatte, fuhr ich in meiner Einleitung fort. Ich hatte sie mir zuvor zurechtgelegt und einige Fragen notiert. Ich hatte keine Ahnung, wie glaubwürdig ich wirken würde. Aber Mehmet Taliqi gab bereitwillig Auskunft, beantwortete die Fragen nach seiner Herkunft, Nationalität, Konfession, Beruf und Familie, seinem Aufenthaltsstatus und dem Jahr seiner Einreise. Ausser des siebzehnjährigen Fadils hatte er noch eine dreizehnjährige Tochter, die ebenfalls die Kantonsschule besuchte. Ich machte gewissenhaft Notizen.

Einzelne Fragen beantwortete Taliqi gleich selbst in gebrochenem Deutsch. Er sagte, in seinem Beruf müsse er praktisch kein Deutsch sprechen. Deshalb lasse er lieber seinen Sohn übersetzen, der in der Schweiz aufgewachsen war. Ich stellte einige weitere Fragen und lenkte dann das Gespräch unauffällig auf Slavkovićs Reisebüro.

«Ist sein Geschäft eine grosse Konkurrenz für Sie?»

Während Fadil übersetzte, huschte ein Anflug von Unmut über Taliqis Gesicht. Er sprach ziemlich lang.

«Er sagt, ihr Kundensegment unterscheide sich deutlich. Zu ihm kommen vor allem Kosovo-Albaner, Bosnier und Kroaten, während die Serben eher zu Slavkovićs Stammkundschaft gehörten. Zudem nehme er nur Geldüberweisungen von Leuten vor, bei denen er sicher sei, dass sie sauber sind.»

«Wollen Sie damit andeuten, Slavković habe Gelder aus dubiosen Quellen entgegengenommen?»

Taliqi lächelte vornehm. Das sei doch ein offenes Geheimnis. Wie liesse sich sonst erklären, dass er in so kurzer Zeit ein Vermögen erworben habe.

Ich machte eine Pause und sagte dann vorsichtig: «Können Sie sich vorstellen, dass gewisse Kreise Ihnen ein Interesse an seinem Tod anlasten möchten?»

Fadil wirkte verunsichert, als er meine Frage hörte. Er übersetzte, leicht stotternd. Taliqi blieb gelassen. Er habe ein reines Gewissen. Wer immer dieses Gerücht in die Welt setze, müsse das vor sich und Gott selbst verantworten. Dann wollte er wissen, weshalb mich der Mordfall Slavković interessierte.

«Aus reiner Neugierde. Im Moment wird über nichts anderes gesprochen.»

Ich hatte zuvor im Büchergestell vergeblich nach einem Buch von Andrić Ausschau gehalten.

«Sie lesen viel … Kennen Sie die Werke von Ivo Andrić?»

Während Fadil übersetzte, beobachtete ich genau, ob Taliqi eine auffällige Reaktion zeigte. Er lächelte. Natürlich, das habe in der Schule zur Pflichtlektüre gehört. Seither habe er aber nie mehr was von ihm gelesen. Vielleicht werde er das nachholen, jetzt, da ich ihn daran erinnere.

Ich bedankte mich bei Mehmet Taliqi. Seinem Sohn drückte ich eine Zwanzigernote in die Hand, für seinen Dienst als Dolmetscher. Als ich wieder auf die Strasse trat, war ich mir sicher, dass Mehmet Taliqi mit dem Mord an Slavković nichts zu tun hatte.

Silvan schuldete mir Geld. Nicht wirklich viel, ungefähr zweihundert Franken. Aber ich wusste, ich bekäme es vermutlich nie mehr zurück. Dafür war er mir einen Gefallen schuldig.

Ich konnte ihn unter seiner alten Nummer nicht erreichen. Also rief ich seine Mutter an.

«Sie wissen doch, dass wir den Kontakt zu Silvan abgebrochen haben», sagte sie vorwurfsvoll.

«Ach kommen Sie, Sie können mir bestimmt sagen, wo ich ihn finden kann.»

Silvans Vater gehörte zum oberen Kader einer international tätigen Versicherungsgesellschaft und bekleidete nebenbei einige lukrative Verwaltungsratsmandate. Zudem sass er für die Freisinnigen im Einwohnerrat. Nach der dritten abgebrochenen Entziehungskur untersagte er seiner Frau jeden Kontakt zu Silvan. Er überwies ihm monatlich eine beträchtliche Summe Geld, die ihm zur freien Verfügung stand. Die finanzielle Zuwendung war einzig an die Bedingung geknüpft, dass sich Silvan dem Haus seiner Eltern und bestmöglich dem weiteren Umfeld fernhielt.

Aber Silvan war nie ganz von Emmenbrücke losgekommen.

Ich hatte Silvan an der Kantonsschule kennengelernt und mich mit ihm angefreundet. Was so viel hiess wie, dass wir denselben Schulweg hatten, in denselben Kifferkreisen verkehrten und uns für dieselben Mädchen interessierten. Ich war auch gelegentlich bei ihm zu Hause gewesen und hatte mit seiner Mutter Bekanntschaft gemacht.

«Ich sollte es ja eigentlich sein lassen …»

«Keine richtige Mutter könnte das.»

«Vermutlich haben Sie Recht.»

Ich hatte sie bald so weit.

«Aber mein Mann darf davon nichts erfahren!»

«Selbstverständlich. Ich will mich nur wieder mal erkundigen, wies ihm geht – ob ich ihm vielleicht helfen kann.»

«Geben Sie ihm ja kein Geld! Er investiert es ja doch nur in dieses Teufelszeug. Zudem – wenn er welches braucht, kann er sich immer noch an mich wenden. Mein Mann würde es nicht ertragen, dass er Geld von anderen annimmt.»

«Sie können sich auf mich verlassen», versicherte ich.

Nach einer kurzen Pause sagte sie: «Er ist bei dieser Frau – Sie wissen schon.»

Silvan stand seit längerer Zeit in einem seltsamen Verhältnis zu einer um fast zwanzig Jahre älteren Frau. Ich hatte Beatrice ein paar Mal gesehen, als wir in ihrer Bude abhingen. So viel ich wusste, konsumierte sie keine Drogen. Vermutlich soff sie einfach.

Ich vergewisserte mich, dass sie immer noch am selben Ort wohnte, und redete Silvans Mutter noch eine Weile gut zu, bevor ich mich bedankte und auflegte.

Ich musste es während zweier Tage mehrmals versuchen, bis ich Silvan am Telefon hatte. Er klang gar nicht mal schlecht.

«Können wir uns treffen?»

«Na klar, wo brennts denn?»

«Ich muss dich um einen Gefallen bitten.»

«Ein Gefallen – klingt gut.»

«Eine Auskunft, wenn du es genau wissen willst.»

«Bist wieder was Schräges am Schreiben?»

Wir verabredeten uns für den späteren Nachmittag.

Nach der Matura hatten wir uns noch eine Zeit lang regelmässig getroffen, wir kifften oder spielten Schach oder machten beides zugleich. Aber unsere Ansichten und Interessen gingen allmählich auseinander. Die Treffen wurden seltener, schliesslich blieben sie ganz aus. Trotzdem freute ich mich, Silvan mal wieder zu sehen. Irgendwie fühlte ich mich mit ihm verbunden – und wenn auch nur durch die Erinnerung an die nachträglich verklärte Schulzeit.

Ich sah ihn schon von weitem, wie er leicht gebückt auf der Kanalmauer auf- und abging. Während Jahren war die künstliche Landzunge, die sich zwischen die Emme und den Kanalausfluss zwängte, unser Treffpunkt gewesen. Silvan grinste, als er mich zum Wasser herunterkommen sah.

«Schicke Hosen, hast wieder mal einen Förderpreis gewonnen?»

Silvan hatte Bier mitgebracht. Wir setzten uns auf die Betonbank und stiessen an.

Die Emme führte wenig Wasser. In den letzten Tagen war es trocken geblieben. Trotzdem verursachte die Strömung des stark regulierten Flusses, der hier über mehrere Stufen auf das Niveau der Kanalmündung gesetzt wurde, einigen Lärm. Genug jedenfalls, um das Getöse der riesigen Elektromagneten, die in der nahen Schrotthalle unaufhörlich Eisenteile in Güterwaggons fallen liessen, und den Verkehrslärm vom jenseitigen Ufer zu übertönen.

«Du siehst aber auch nicht schlecht aus», sagte ich.

«Danke. Ja, es geht mir ziemlich gut. Bin zur Zeit weg von den harten Drogen … Bis auf Ausnahmen jedenfalls.»

«Ich hab mit deiner Mutter telefoniert. Weil ich dich nicht erreichen konnte. Sie macht sich Sorgen …»

«Das tut sie, seit ich auf der Welt bin.»

Silvan hatte eine Guge gedreht. Wir rauchten und schwelgten in Erinnerungen. Wir kletterten über die Felsblöcke, die zur Stützung der Kanalmauer aufgeschichtet worden waren, und liessen Steine ins Wasser plumpsen.

Später sassen wir bei einem weiteren Bier auf der erodierten Betonbank.

«Sagt dir der Name Slavković was?»

«Der geköpfte Jugo? Na klar, ist doch zur Zeit in aller Munde.»

 

«Ich meine sonst – hast du Sachen über ihn gehört, bevor er umgebracht wurde?»

«Was für Sachen?»

«Stell dich nicht so dumm. Drogen, ich will wissen, ob er mit Drogen zu tun hatte.»

Silvan überlegte. «Irgendwie ist mir der Name bekannt vorgekommen … Ich glaube, Faruk hat ihn einmal erwähnt. Er hat ihn verflucht, glaube ich – er sei ein elender Abzocker oder so.»

«Wer ist Faruk?»

«Ein Kosovo-Albaner. Bei dem bezieh ich meinen Stoff.»

«Kannst du mich mit diesem Faruk bekannt machen?»

«Wozu?»

«Ich will Stoff kaufen», eröffnete ich.

«Spinnst du? Du hast doch kein Geld!»

Ich grinste.

«Du willst mich verarschen. Hat doch sicher was mit deiner Schreiberei zu tun.»

«Du hast es erfasst. Ich will einen Dealer beschreiben. Dazu muss ich einen kennenlernen. – Also, arrangierst du für mich ein Treffen mit diesem Faruk?»

Der Himmel rumorte wie ein riesiger Verdauungsapparat. Aus den dunklen Wolken, die den Pilatus einhüllten, zuckten Blitze. Ich war spät dran und kämpfte gegen den Wind an, der die Gerliswilstrasse hinauffegte. Noch war kein einziger Tropfen gefallen; aber das war nur eine Frage der Zeit. Ich kam von der Sprengi her und näherte mich durch den Feierabendverkehr dem Sonnenplatz.

Vor dem «Thomy’s» war ein Angestellter damit beschäftigt, die Sonnenschirme aus ihrer Verankerung zu lösen, bevor der Wind sie umriss.

Ich trat durch die elektrische Schiebetür.

Der Eingangsbereich war vom Hauptteil durch ein Holzgestell getrennt, auf dem sich Bierdosen stapelten, je zu sechst in Plastikfolien verpackt. In der Nische zur Linken eine Tiefkühltruhe und auf verschiedenen Ablagen und drehbaren Ständern eine üppige Auswahl an süsser und salziger Industriekost. An der Wand hinter der Theke wurden die warmen Speisen auf Leuchttafeln angepriesen – Hamburger und Pommes frites und Tiefkühlpizzen.

Ich erkannte Silvan, der an der Bar sass, und setzte mich zu ihm. Eine schöne Südamerikanerin nahm mit einem Augenaufschlag meine Bestellung entgegen.

«Du kommst zu spät.»

Ich beobachtete die klare, gelbliche Flüssigkeit, die aus dem Zapfhahn über die Glasinnenseite zur Stange anwuchs. Die Frau stellte mir das Bier hin und wandte sich noch in derselben Bewegung ab.

Ich stiess mit Silvan an und sah mich im Speiseraum um. Die der Strasse zugewandte Seite war verglast, sodass man von der Bar aus auf den Vorplatz und den Verkehrskreisel blicken konnte. Die rechtwinklig anschliessende Wand war mit nostalgischen Blechschildern dekoriert, welche für verschiedene amerikanische Produkte warben. Aus den Lautsprecherboxen, deren Standorte nicht ausfindig zu machen waren, rieselten die Hits der lokalen Radiostation. In seltsamer Synchronisation dazu flimmerten stumm die neusten Videoclips über den Bildschirm des Fernsehers, der mit einer kühnen Hängevorrichtung an der Decke angebracht war. An den Holztischen sassen Schweizer Alkis und einige gelangweilt dreinschauende Jugos.

«Sag nicht, du bist zum ersten Mal im ‹Thomy’s›?»

«Ich wusste nicht, dass sie hier Bier ausschenken …»

Ein älterer Mann in beiger Jacke, offensichtlich ein Rentner, rang mit dem gleichgültig ratternden Spielautomaten. Im Hinterzimmer bei den Toiletten wurde Billard gespielt.

«Wo ist nun also dein Faruk?»

Silvan trank Bier und sog an seiner Zigarette, als wäre es die letzte für tausend Jahre. «Hinten, beim Billardspielen.»

«Worauf warten wir dann?»

«Es ist gerade noch einer bei ihm.»

Ich hängte mir eine Zigarette in den Mundwinkel. Silvan gab mir Feuer.

Draussen hatte es zu regnen begonnen. Die Scheinwerfer der Fahrzeuge auf dem Kreisel zündeten ins Lokal.

Silvan war nicht gerade gesprächig. Auch ich hatte ihm nichts Neues zu berichten. Daher schwiegen wir und tranken Bier.

Nach einer Weile kam ein ausgezehrter junger Mann aus dem Hinterzimmer und hetzte an uns vorbei zum Ausgang. Silvan stiess mich mit dem Ellbogen an.

«Jetzt sind wir dran.»

Faruk war ein grosser, kräftiger Kerl, mit dem man nicht unbedingt einen Streit anfangen mochte. Ich schätzte ihn auf Mitte dreissig, vielleicht war er auch jünger. Sein kantiges, verbraucht wirkendes Gesicht hätte man als schön in einem männlichen Sinn bezeichnen können, wäre es nicht ganz so düster gewesen. Sein schwarzes, mit Gel aus der Stirn gekämmtes Haar sass ihm wie eine Panzerung auf dem Kopf. Er trug verwaschene Bluejeans und einen schwarzen, theatralisch anmutenden Ledermantel. Bei ihm war ein nicht eben gemütlicher aussehender Bursche Anfang zwanzig, dessen T-Shirt über den Armen und der Brust spannte, als wäre es mit Ballonen gestopft. Irgendwie wirkten diese Muskeln nicht echt. Aber ich wollte das nicht wirklich überprüfen. Sie spielten Billard und blickten kurz auf, als wir den Raum betraten.

«Hast du Kohle?»

Faruk stiess mit dem Queue den weissen Spielball gegen die rote volle Kugel, die an die Bande schlug und mit der gelben halben zusammenprallte.

«Es geht nicht um mich. Ich hab hier jemanden mitgebracht.»

«Hat er Kohle?»

Silvan sah mich an. Ich nickte.

«Er hat.»

«Gut.»

Faruk ging um den Tisch herum, brachte seinen Stock in Stellung und attackierte den Spielball. Dieser kam bei der blauen Halben zu stehen, nachdem er über zwei Banden die Richtung geändert hatte.

«Wie viel?» Er sah mir fest ins Auge.

«Sagen wir für fünzig Franken.»

Er wandte sich verärgert an Silvan: «Was ist das für ein Arschfigger?!»

Silvan beeilte sich zu erklären, Faruk verkaufe nicht unter einem Gramm.

«Also gut – ein Gramm.»

Ich wusste nicht, ob mich Faruk gehört hatte. Er hatte sich wieder auf den Tisch gestützt und fixierte die weisse Kugel. Er fuhr mit dem Queue ein paar Mal vor und zurück, bevor er sie anschlug. Sie prallte mit viel Wucht in eine Gruppe zusammenstehender Zielbälle. Einige rollten in verschiedene Richtungen davon, darunter die schwarze Acht. Faruks Begleiter konnte sie gerade noch am Verschwinden im Schlund des Tisches hindern. Eines war klar, von Billard hatte der Typ keine Ahnung.

«Hundert, weil du neu bist.»

Ich zückte die Note und hielt sie Faruk hin. Er wies mit dem Kinn auf seinen Begleiter. Der hatte noch immer den Achterball in der Hand und trat auf mich zu. Nachdem er das Geld entgegengenommen hatte, würgte er an der Kugel herum. Sie hatte ein Gewinde und liess sich öffnen. Er überreichte mir ein durchsichtiges Säckchen mit Gripverschluss. Darin waren ein paar weisse Klümpchen, die aussahen wie Paraffinstücke oder sehr heller Sbrinz, und Spuren von einem öligen Pulver.

«Guter Stoff», versicherte mir der Bursche.

Silvan begab sich zum Ausgang des kleinen Hinterzimmers.

«Faruk, kann ich dich auf ein Bier einladen?»

Faruk, der sich wieder seinen Kugeln zugewandt hatte, sah mich verständnislos an.

«Ich möchte dir ein paar Fragen stellen. Für eine Arbeit.»

Er sah aus, als wollte er im nächsten Moment auf mich losgehen.

Silvan trat dazwischen: «Er ist Schriftsteller, er schreibt Romane und Porträts von Kunstfiguren.»

« Kunstfiguren?»

«Ja, fiktive Personen», mischte ich mich wieder ein. «Aber ich orientier mich an der Wirklichkeit. Meine Aufmerksamkeit gilt interessanten Persönlichkeiten … Ich möchte dich interviewen – anonym, versteht sich.»

Faruks Gesichtsausdruck blieb skeptisch, aber der Drang, sich zu prügeln, schien fürs Erste unter Kontrolle gebracht.

«Er ist harmlos, wirklich, ein Künstler eben», versuchte ihn Silvan vollends zu befrieden.

«Ein Künstler …» Über Faruks brutale Visage huschte ein nachsichtiges Lächeln. «Na gut, du kannst auf mich warten. Ich hab hier noch eine Weile zu tun. Aber danach.»

Ich setzte mich mit Silvan an einen Tisch. Wir bestellten je eine Stange.

Die Kellnerin hatte zu tun. Bis auf zwei waren alle Tische besetzt. Fastfood wurde mit Bier, Cola und Eistee nachgespült. Im Fernseher erschien eine Grafik mit den Aufstellungen der Fussballteams. Weltmeisterschaft in Frankreich. Die Squadra Azzurra spielte gegen Chile.