Der Kristall

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GEFANGENE DER ORKS

Hetzel richtete sich stöhnend auf. Wie ein Pfeil schoss der Schmerz durch sein Gesicht. Vorsichtig tastete er mit der Hand darüber. Sein Kinn war geschwollen, Kopfschmerzen hämmerten wie eine Axt in seinem Kopf.

Verdammt! Was war passiert?

Er konnte sich nicht erinnern. War da nicht irgendwas mit dem verrückten Balbur gewesen? Hatte er nicht einen riesenhaften Ork neben Balbur gesehen?

Natürlich! Orks! Der Kampf! Und dann flog Balburs Kopf! Und dann war da noch eine riesengroße Faust!

„Balbur! Du verdammter Dreckskerl! Du gottserbärmlicher Verräter. Hätte nicht der Ork dir den Kopf abgehauen, hätte ich das mit Vergnügen getan, du verfluchter Hundesohn!“, fluchte Hetzel und hielt sich den schmerzenden Kopf.

„Verdammter Mist! Die Orks haben mich geschnappt!

Die haben mich glatt zwischen meinen Leuten herausgepickt wie Hühnerfutter. Wie komme ich da nur heil wieder raus. Ich muss mir schnell was einfallen lassen, bevor die mich als nächste Mahlzeit auswählen. Zwerg gesotten mit Preiselbeeren! Echt lecker!“, knurrte Hetzel mit Galgenhumor.

Am späten Nachmittag brachte ihm ein schweigsamer Ork eine Schüssel mit dünnem Eintopf, einen Holzlöffel und einen abgeschlagenen Krug mit Wasser. Eine Weile blieb er vor Hetzel stehen und beäugte ihn von allen Seiten.

Der sucht sich wohl schon die besten Bissen aus, dachte Hetzel zynisch. Er ekelte sich zwar vor dem Zeug, das die Orks Essen nannten, doch wenn er bei Kräften bleiben wollte, musste er es wohl oder übel hinunterwürgen.

Der Ork grinste, als er zusah. „Gutt?“, grunzte er einfältig. Hetzel nickte. Vielleicht konnte er das Monstrum aushorchen. Dass man ihn nicht gefesselt hatte deutete darauf hin, dass sie ihn in einem Bereich des Lagers untergebracht hatten, in dem eine Flucht so gut wie ausgeschlossen war. Der Ork stand da, starrte ihn an und grinste dumm. Anscheinend hat er nicht alle Tassen im Schrank, dachte Hetzel. Aber vielleicht konnte das ja ganz nützlich sein.

„Wo bin ich hier eigentlich?“, fragte er.

„Utama-Gebirge. Orks-Gebiet“, erwiderte der Ork stolz.

Hetzel starrte ihn schockiert an. Das konnte doch nicht sein! Das Utama-Gebirge lag doch mehrere Tage vom Krakhet-Gebirge, seiner Heimat, entfernt!

„Wie lange bin ich denn schon hier?“, fragte er verstört.

„Zwei Tage. Du schlafen. Bald große Feier. Du gutes Essen bist“, grinste der Ork. Bei dieser Aussicht lief gelber Speichel über seine Hauer und versickerte auf seiner Brust. „Du nicht kannst fliehen. Ich gutt aufpassen auf dich.“

Zwei Tage! Hetzel war die Lust an einem weiteren Gespräch vergangen. Er lehnte sich an die Wand und starrte trübe vor sich hin.

Der Ork nahm die Schüssel und den Löffel, verriegelte die schwere Holztür und latschte grinsend davon.

Hetzel, der über seine trübsinnigen Gedanken eingeschlafen war, wurde durch Getöse vor der Höhle geweckt. Anscheinend war da eine Keilerei im Gange.

„Lasst mich los, ihr blödsinnigen Schweineschnauzen“, schrie eine menschliche Stimme. Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen und ein schwerer Körper flog auf Hetzel zu, der sich gerade noch mit einem Hechtsprung in Sicherheit bringen konnte. Wo er gerade eben noch gesessen hatte, krachte der Körper des Fremden zu Boden.

„Verdammter Mist“, knurrte der und richtete sich auf.

Hetzel musterte neugierig den Mann. Groß war der Fremde, mindesten sechs Fuß, wenn nicht sogar etwas mehr. Aus einem kantigen Gesicht starrten funkelnde graublaue Augen den Zwerg überrascht an. Der Mann reckte seine athletische Gestalt und strich sich über sein volles blondes Haar, das er im Nacken zusammengebunden trug. Seine Jacke, Weste und Hose waren aus braunem Leder, das Hemd braun und grün kariert. Die kniehohen Lederstiefel waren ebenfalls braun.

„Hallo, Zwerg“, sagte er freundlich. „Haben dich diese verdammten Schweineschnauzen auch gefangengenommen! Na, da sitzen wir aber ganz schön in der Patsche bei dem Appetit den die haben! Übrigens, ich heiße Rowan und du?“

„Hetzel. Mein Name ist Hetzel. Hast du gesehen, ob es hier irgendeine Möglichkeit gibt zu verschwinden? Ich habe nämlich keine Ahnung wie es da draußen aussieht. Ich war bewusstlos als sie mich hierher brachten.“

„Deshalb habe ich ja die Rauferei angefangen. Ich brauchte Zeit, um mich umzusehen“, grinste Rowan. „Es wird zwar nicht leicht werden, aber unmöglich ist es nicht. „Wie haben die dich denn erwischt?“ Hetzel erzählte es ihm.

„Und dabei habe ich sowieso schon viel zu viel Zeit im Kampf gegen die Orks verloren. Dieser verdammte Balbur“, fügte er wütend hinzu. „Ich muss unbedingt nach Arakow, da warten Freunde auf mich, denen ich beistehen muss.“

Gedankenverloren starrte er vor sich hin und erinnerte sich. Nie hätte er es für möglich gehalten, dass ausgerechnet ihn irgendwann eine Vision heimsuchen könnte. Und doch war es geschehen!

Seitdem wusste er um die Gefahr, in welcher der Perlmuttbaum schwebte und nicht nur er, sondern ebenso die Natur und die übrigen Lebewesen dieser Welt.

Er wollte sich sofort nach Preleida aufmachen, doch Balburs Intrige – wie er jetzt wusste – hatte das verhindert. Und jetzt saß er hier bei den verfluchten Orks fest.

„Ich hatte mir nach dem bösen Erlebnis mit einer Schwarzen Hexe geschworen, mich nie wieder gefangen nehmen zu lassen“, seufzte Roman. „Hätten mich diese Samiras und ihr Bruder nicht gerettet, wäre die Sache übel ausgegangen.“

Hetzel fuhr hoch, als hätte er einen Stromschlag erhalten. „Wie sah die Frau aus?“, keuchte er erregt.

„Schön, sehr schön“, erwiderte Rowan versonnen. „Schlank, feingliedrig, schmales Gesicht. Und dann diese smaragdgrünen Augen und das schulterlange kupferfarbene Haar. Wirklich ein Bild von einer Frau. Ihr Bruder sah allerdings auch sehr gut aus. Aber ihre übrige Begleitung war schon sehr ungewöhnlich“, fügte er nachdenklich hinzu.

„Was meinst du mit ungewöhnlich?“, wollte Hetzel wissen. Natürlich war ihm bereits klar, dass der Mann Samiras getroffen haben musste. Die Beschreibung passte genau auf sie.

„Na ja, als Frau mit einem riesigen Troll herumzuziehen ist ja wohl nicht das Übliche, oder?“

„Du hast meine Freunde getroffen“, sagte Hetzel leise. „Mit ihnen will ich mich in Arakow treffen. Eine schwarze Pantherin, ein Mauswiesel und ein Elf müssen auch dabei gewesen sein. Hast du sie gesehen?“

„Willst du mich veräppeln? So seltsam waren ihre Begleiter ja nun auch wieder nicht“, erwiderte Rowan, der sich auf den Arm genommen fühlte.

„Es ist mein völliger Ernst“, beruhigte ihn Hetzel. „Sie alle und noch einige andere halfen dabei, den Perlmuttbaum zurückzubringen.“

Rowan starrte ihn ungläubig an. „Ihr wart das? Ihr habt die Welt gerettet, Mann! Ist dir das eigentlich klar?“, stieß er hervor.

„Natürlich weiß ich das. Das Schlimme jedoch ist, dass wir es noch ein zweites Mal tun müssen. Das Böse hat nämlich erneut Fuß gefasst und bedroht den Perlmuttbaum und damit uns alle“, erwiderte Hetzel frustriert.

„Ich helfe euch“, sagte Rowan spontan. „Ich bin zwar auf der Suche nach meinem Bruder, aber vielleicht lässt sich das ja irgendwie miteinander vereinbaren.

„Wo wolltest du denn nach ihm suchen?“

„Zuletzt soll er mit seinem Freund George in Okzaht gewesen sein“, erwiderte Rowan. „Vielleicht kommen wir da ja vorbei. Ich meine, falls ihr mich überhaupt dabei haben wollt.

Allerdings könnte ich so meine Schuld gegenüber der Frau begleichen. Du kennst mich zwar noch nicht, aber das kann ja noch kommen. Vielleicht kannst du dann ja ein gutes Wort bei deinen Gefährten für mich einlegen“, schlug Rowan augenzwinkernd vor.

Hetzel reagierte nicht auf seine Worte. Der Name George war ihm unter die Haut gegangen, hatte ihn an dessen Verrat in der Todeswüste erinnert. Konnte das Zufall sein? Er musterte Rowans Gesicht. War da Ähnlichkeit?

„Wie heißt denn dein Bruder“, fragte er gespannt.

„Karon. Mein Bruder heißt Karon“, erwiderte Rowan ahnungslos.

Woher sollte er das Schreckliche auch wissen? Und jetzt war es an Hetzel, die Schrecken wieder aufleben zu lassen. Er wollte das nicht! Für nichts auf der Welt wollte er diesem Fremden das Furchtbare erzählen. Doch wollte er ihn nicht umsonst weitersuchen lassen, würde er es müssen!

„Du bist in Kaffra zu Hause?“, fragte er zögernd.

Rowan musterte ihn misstrauisch. „Woher weißt du das, Zwerg Hetzel?“

Hetzel schluckte. Verdammt! Wie sollte er es am besten angehen. Der Mann war völlig ahnungslos, glaubte seinen Bruder bald wiederzusehen. Wie sollte er ihm die Geschehnisse nahebringen?

Wie erklären, warum Karon freiwillig sein Leben hingegeben hatte? Er war dabei gewesen, hatte alles hautnah erlebt. Wie sollte er die vielfältigen Erlebnisse in Worte kleiden? Er, der sowieso kein großer Redner war?

„Also, Hetzel? Woher weißt du, dass Kaffra meine Heimat ist?“, drängte Rowan auf eine Antwort.

„Ich weiß es von deinem Bruder Karon“, erwiderte Hetzel bekümmert. „Wir stießen in der Todeswüste auf ihn und seinen Freund George. Sie waren halb verdurstet. Wir retteten sie, daraufhin schlossen sie sich uns an.

Karon war auf der Suche nach eurem Bruder Amos, der bei dem Magier Teufat zusammen mit Georges Bruder Krieger ausbildete. Doch er kam leider zu spät. Der Magier hatte sie bereits lange vorher getötet“, erzählte Hetzel.

„Waren Karon und George bis zuletzt dabei?“, wollte Rowan wissen.

„Karon war fast bis zuletzt bei uns. George jedoch kam in der Todeswüste um. Der Magier Teufat tötete ihn. Aber er hat es verdient, denn er verriet Samiras an den Zauberer, die fast dabei umgekommen wäre“, sagte Hetzel hart.

 

Rowans vorher funkelnde Augen hatten sich getrübt. War es der Schatten einer Ahnung? War es die Furcht zu erfahren, dass etwas oder jemand unwiederbringliche Vergangenheit war? Hatte diese Erkenntnis einen Schleier vor seine eben noch so strahlenden Augen gezogen? Was hatte der Zwerg gesagt? Karon sei fast bis zuletzt bei seinen Gefährten gewesen. Fast! Und wieso nicht bis ganz zum Schluss?!

Rowan schluckte, räusperte sich, setzte zum Sprechen an. Doch diese Frage wollte nicht über seine Lippen. Die Antwort mochte vielleicht zu schrecklich sein. Und doch war sie letztendlich so viel schrecklicher, als er sich überhaupt ausmalen konnte.

Hetzel, der ihn nicht aus den Augen gelassen hatte, erkannte seine Sorge, erkannte seine Qual. Auch Unwissenheit kann zerstören, dachte er. Rowan muss die ganze Wahrheit erfahren.

Und so erzählte er von Karon. Erfreute sich ein letztes Mal an Karons Kameradschaft, seiner Ehrenhaftigkeit, seiner Freundschaft und seiner absoluten Loyalität.

„Selbst der kühle und zurückhaltende Elfenkönig schloss Freundschaft mit ihm. Da hatten wir sämtliche Herausforderungen überwunden, waren dem Erfolg so nahe und dann ...“, Hetzel stockte.

„Und dann? Was war dann? Was ist meinem Bruder passiert? Ich muss es wissen, Hetzel. Sag es mir.“

Hetzel legte den Kopf in die Hände und seufzte. „Dann kam der Moglack“, flüsterte er.

Und wie damals spürte er das Grauen beim Anblick des Ungeheuers, spürte dessen grenzenlose Bosheit, seine Mordgier und seine Hinterhältigkeit. Sah den Gnom Urselik am Gift des Moglack qualvoll sterben.

Hörte die Geräusche herabstürzender Gesteinsmassen, die das Ungeheuer aufhalten sollten. Sah sich und die Gefährten bis zu dem nach draußen führenden Brunnen fliehen. Und hörte Tolkar mit der bewusstlosen Pantherin auf den Armen auf die Frage nach Karon sagen: „Er kommt nicht mehr zurück.“

„Danach erfuhren wir von Tolkar, dass Karon bei dem toten Gnom Urselik in dem Stollen geblieben war. Der Moglack hatte auch ihn verletzt und diese Verletzung hätte ihn zu einem unvorstellbaren Ungeheuer mutieren lassen. Von dem Menschen Karon wäre nichts geblieben.

Es war seine Entscheidung, aber in Wirklichkeit hatte er keine Wahl“, schloss Hetzel, der gar nicht gemerkt hatte dass er seine schrecklichen Erinnerungen laut durchlebt hatte.

Rowan saß in sich zusammengesunken wie erstarrt. Er wollte nicht denken. Wollte die Wahrheit nicht wissen, wollte sich nicht klarmachen, dass er als einziger von seiner Familie übriggeblieben war.

Vier Brüder und eine Schwester waren sie gewesen. Sie hatten sich geliebt, hatten in manch schwieriger Situation treu zueinandergestanden. Seine Familie war nicht begütert gewesen. Aber sie hatten ihr Auskommen und waren eine glückliche Familie gewesen.

Bis zu dem Tag, als eine Horde absonderlicher Wesen, Skorps genannt, gemeinsam mit einer skrupellosen Verbrecherbande Kaffra überfallen, Mensch und Tier niedergemetzelt und die Stadt in Brand gesetzt hatte.

Sein Bruder Baros, seine Schwester Marita und seine Eltern waren bei dem Massaker umgekommen. Er machte sich noch immer Vorwürfe, nicht daheim gewesen zu sein. Vielleicht hätte er wenigstens seine Familie retten können, wenn schon nicht alle in Kaffra lebenden Menschen.

Danach hatte er sich auf die Suche nach Amos und Karon begeben. Doch auch sie werde ich niemals wiedersehen, dachte er wehmütig. Denn wie er jetzt wusste, war Amos von dem Magier Teufat getötet worden, und Karon hatte in den unterirdischen Gewölben der Stadt Zophtarr den Tod gefunden.

Einzig er war übriggeblieben. Aber wie lange noch? fragte er sich niedergeschlagen. Vielleicht landete er in den Mägen der Orks. Vielleicht gelang ihm die Flucht. Im Augenblick jedoch waren ihm beide Möglichkeiten völlig einerlei. Was er von dem Zwerg Hetzel erfahren hatte war so schrecklich, dass er vor lauter Verzweiflung und Niedergeschlagenheit nicht mehr ein noch aus wusste.

„Und hinter all diesen Gräueltaten steckt immer wieder dieser dreimal verfluchte Dämon“, grollte Hetzel. „ER ist es, der immer wieder das Böse zu gigantischer Größe wuchern lässt. ER verdirbt Alles und Jedes.

Wir müssen diesen Mistkerl loswerden! Und genau dabei werde ich Samiras unterstützen und wenn es das Letzte ist, dass ich in meinem Leben tue. Ich will nicht, dass Karons und Urseliks Tod und der Tod all der vielen anderen umsonst gewesen ist. Vielleicht kehrt hier ja endlich für eine lange Zeit Ruhe und Frieden ein, wenn endlich dieser grässliche Dämon verschwunden ist!“

Hetzels wütender Ausbruch riss Rowan aus seiner lethargischen Stimmung. Der Zwerg hatte ja recht! Es gab jemanden der die Schuld an all dem Leid trug. Und IHN musste man bestrafen. Oh ja, das war wahrlich eine Aufgabe, für die es sich zu sterben lohnte!

„Ich bin dabei, Hetzel. Und wenn ihr mich nicht haben wollt, jage ich diese Bestie eben auf eigene Faust. Ich werde meine Brüder rächen, so wahr ich Rowan heiße.

Und falls ich dabei auch noch einige von dieser Kretox-Bande zwischen die Finger bekomme, würde mich das sehr, sehr glücklich machen.“

„Guter Spruch, Rowan“, grinste Hetzel. „Doch zuerst einmal müssen wir hier raus. Hast du eine brauchbare Idee?“

„Vielleicht die, dass ich ...“ Er konnte nicht zu Ende sprechen, denn in diesem Moment flog die Tür krachend auf.

Diesmal stampfte ein anderer Ork auf Hetzel zu. Er riss ihn am Kragen hoch und schleppte ihn mehr als er ging nach draußen. Krachend schlug die Tür hinter ihnen zu.

Auf der anderen Seite wurde der Riegel vorgeschoben, dann verklangen die schweren Schritte des Ork. Und Rowan fragte sich besorgt, ob er den Zwerg jemals wiedersehen würde.

AUF DEM WEG NACH ARAKOW

Am dritten Tag ihres Aufbruchs nach Arakow rasteten Samiras und ihre Gefährten nahe eines Sees, im Schutze eines Wäldchens aus Eichen und Birken. Jetzt waren sie nur noch zwei Tagesreisen von Arakow entfernt.

Danina schlug sich in die Büsche um die Gegend zu erkunden, während Samiras zu dem See schlenderte. Zwischen den reichlich am Uferrand wachsenden gelben Blumen ließ sie sich neben einer alten Eiche nieder, deren dicht belaubte Äste bis zur Wasseroberfläche reichten. Sie lehnte sich mit dem Rücken an den borkigen Stamm und schloss die Augen. Sie genoss die Ruhe, die nur vom Gezwitscher der Vögel unterbrochen wurde.

Sie dachte an Hetzel und hoffte, dass er bald zu ihnen stoßen würde. Nur woher sollte er wissen, dass sie nach Arakow unterwegs war? Ich hätte den Perlmuttbaum fragen sollen, dachte sie ärgerlich auf sich.

Was es wohl mit dem Stein des Lichts auf sich hat? Wie sieht er aus? Was bewirkt er? Und dann der Junge! Wie soll ich den Knaben Esmahel dazu bewegen mit mir zu kommen?

Über welche Gaben verfügt er? Was für ein Kind ist er? Fragen über Fragen und keine Antworten. Noch keine Antworten, verbesserte sie sich, denn schon sehr bald würde sie mehr wissen, das jedenfalls hoffte sie.

Sie schlug die Augen auf und blickte in das Laubwerk über sich. Schön und friedlich ist es hier, dachte sie gerade, als sie jählings starkes Unbehagen überfiel. Plötzlich fühlte sie sich beobachtet, spürte fremde Augen auf sich ruhen.

Aufmerksam ließ sie ihre Blicke über ihre Umgebung schweifen, vermochte jedoch nichts Ungewöhnliches zu entdecken. Nur Einbildung? fragte sie sich.

Plötzlich bemerkte sie einen strengen Geruch nach verfaultem Fisch, der sie die Nase rümpfen ließ. Woher kam dieser plötzliche Gestank?!

Eine Berührung an ihrer Hand, die mit einer der Blumen am Seeufer spielte, ließ sie nach unten blicken.

Was war das? Große grünliche Augen über einer wie ein Schnabel gebogenen Nase starrten sie an. Eine fingertiefe Narbe zog sich von der Stirn bis zum Kinn schräg über das Gesicht. Die unbekannte Kreatur hatte die Größe eines kleinen Affen mit einem Schildkrötenpanzer auf dem Rücken. Das seltsame Wesen rührte sich nicht, starrte sie nur unverwandt an.

„Was bist du denn für einer?“, fragte Samiras freundlich. „Und was ist das für eine Vertiefung auf deinem Kopf?“ Sie wollte sich gerade zu ihm hinunterbeugen, als Aglajahs Stimme sie daran hinderte:

„Vorsicht, Samiras!“, warnte diese. „Das ist ein Kappa. Fass ihn um Himmels willen nicht an! Er sieht zwar harmlos aus, ist jedoch in Wirklichkeit ein ausgesprochen bösartiges kleines Tier.“

„Wieso das?“, fragte Samiras verwundert, die sich nicht vorstellen konnte, was ein so kleines Wesen gegen sie ausrichten könnte. Aufgrund ihrer Erfahrungen stand sie jedoch auf und trat vorsichtshalber einige Schritte zurück.

„Kappas sind mörderische Blutsauger mit übernatürlichen Kräften. Sie lauern am Rand des Wassers auf Menschen, die sie im passenden Moment ertränken und aussaugen“, erklärte die Weiße Hexe.

„Und woher wusstest du von ihm?“

„Ich spürte seine Bosheit und seine Absicht, dich ins Verderben zu reißen“, erwiderte Aglajah schlicht. „Aber er ist auch jetzt noch äußerst gefährlich und darf nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen werden.

Wir müssen ihn überlisten, denn er wird uns nicht einfach gehen lassen. Seine Kräfte sind um ein Vielfaches stärker, als du wahrscheinlich glaubst. Ich weiß wovon ich spreche, denn eine Freundin von mir wurde von einem Kappa getötet“, warnte Aglajah ernst.

Samiras starrte den Kappa an und dieser starrte zurück. Dabei verzog sich sein Gesicht zu einem hämischen Grinsen. Ich krieg dich, schien es zu bedeuten. Ich krieg euch BEIDE!

Aber wie? Wie konnte ihnen ein so kleines Geschöpf schaden? Vermochten seine Fähigkeiten sie am Weggehen zu hindern, sie vielleicht zu bannen? Noch machte der Kappa keine Anstalten sie anzugreifen. Aber das musste ja nichts heißen.

„Hier, nimm das. Schnell, bevor er sich entschließt anzugreifen“, drängte Aglajah.

Samiras nahm ihr die Gurke aus der Hand, die sie wer weiß woher hatte. „Und was soll ich damit?“, fragte sie verwundert.

„Es gibt zwei Möglichkeiten einen Kappa zu überlisten. Diese Gurke ist die zweite Möglichkeit. Nimm dein Messer und ritze deinen Namen und Alter in die Gurkenschale.

Kappas lieben nichts mehr als Gurken. Sobald er die Gurke verspeist hat, wird er sich an den Schenkenden erinnern und ihn verschonen. Aber beeile dich. Sobald du fertig bist, wirf die Gurke ins Wasser. Und danach nichts wie weg!“

Der Kappa, der die Gurke witterte, war nähergekommen. Seine breite Zunge leckte den Speichel von seinen wulstigen Lippen. Lange würde er bestimmt nicht mehr ruhig abwarten, das war gewiss.

Samiras ritzte hastig Namen und Alter in die Schale, holte aus und warf die Gurke weit auf den See hinaus. Der Kappa stürzte augenblicklich hinterher, während Samiras und Aglajah zurück zum Lager eilten.

Und Samiras war sich darüber im Klaren, dass sie Aglajah ihr Leben verdankte. Sie wäre dem Kappa wahrscheinlich ahnungslos in die Falle getappt. Die Weiße Hexe hatte wahrlich etwas bei ihr gut.

Im Lager wartete bereits ein leckerer Eintopf auf sie. Osiac, der mit Kochen dran gewesen war, wunderte sich, wo die Gurke abgeblieben war, die für den Eintopf gedacht war. Samiras erzählte ihm kichernd, dass diese bereits im Magen des Kappa verdaute. Doch Osiac fand es absolut nicht witzig als er erfuhr, in welcher Gefahr sie geschwebt hatte.

Tolkar brummte, er würde sie keinen Moment mehr aus den Augen lassen. Und Ephlor schüttelte über so einen Leichtsinn nur den Kopf. Danina aber schien auf Samiras regelrecht böse zu sein. Dabei hatte diese ja nun wirklich nicht leichtsinnig gehandelt.

„Verdammt noch mal“, schimpfte Samiras, nachdem sie sich von allen Seiten Vorwürfe angehört hatte. „Ich kann doch nicht bei jedem Lebewesen, das mir begegnet wissen, ob es gefährlich ist oder nicht.“

„Nein, das kannst du sicherlich nicht, Samiras“, erwiderte der Elfenkönig im Einklang mit den anderen. „Aber du solltest vorsorglich zuerst einmal stets von einer Gefahr ausgehen. Du bist viel zu wichtig für unser Vorhaben, als das wir dich verlieren könnten. Wir können dich nur bitten, besser auf dich aufzupassen.“

Wenn ich schon mal nicht bei dir bin“, grummelte Danina. „Dich kann man ja keine Sekunde aus den Augen lassen!“

 

Jetzt wurde es Samiras, die sich keiner Schuld bewusst war, aber wirklich zu viel. Sie drehte sich um und setzte sich etwas abseits von den anderen.

Ohne sich von ihrem abweisenden Gesichtsausdruck beeindrucken zu lassen, setzte sich Aglajah neben sie. „Sie meinen es nicht böse“, sagte sie sanft. „Sie sorgen sich nur um dich, denn nur du vermagst den Perlmuttbaum zu retten und damit uns alle. Du trägst eine große Verantwortung, die dir jedoch leider niemand abnehmen kann.“

„Ich weiß“, erwiderte Samiras leise. „Aber ich würde niemals leichtsinnig handeln.“

„Das wissen die anderen doch auch. Aber in ihrer Sorge sind sie einfach übers Ziel hinausgeschossen. Bestimmt tut es ihnen jetzt schon leid“, sagte Aglajah sanft. Samiras lächelte. Aglajah hatte ja recht. Einzig die Sorge um sie und um ihr Vorhaben war der Auslöser gewesen.

„So“, sagte die Weiße Hexe gutmütig „und jetzt verrate ich dir die erste Möglichkeit einem Kappa zu entfliehen, solltest du noch einmal mit einem zusammentreffen. Das geht so, Samiras:

Begegnet dir ein Kappa, verneigst du dich höflich vor ihm, sobald du ihn siehst. Der Kappa erwidert die Verbeugung, denn er kann nicht anders, seine Natur befiehlt es ihm. Dabei fließt jedoch das Wasser aus seiner Kopfvertiefung. Daraufhin schrumpelt der Kappa und gleitet hilflos ins Wasser. Er ist jetzt so lange machtlos, bis er abtaucht und sich wieder Wasser in der Vertiefung angesammelt hat. Jetzt hast du genügend Zeit, um zu fliehen.“

„Wenn ich dich richtig verstanden habe, dann könnte ein Kappa also an Land nicht überleben, oder?“

„Nein. Kappas leben stets an Flüssen, Seen, Teichen und Tümpeln.“

„Danke, Aglajah. Danke für alles“, sagte Samiras.

Die Weiße Hexe lächelte. „Keine Ursache“, erwiderte sie. „Ich werde dir stets helfen, wenn ich irgendwie kann.“ Einträchtig gingen sie zurück zu den anderen.

„Was ist? Wollt ihr hier übernachten?“, fragte Samiras forsch und ging zu ihrer Stute. „Wenn wir jetzt aufbrechen, können wir noch eine schöne Strecke schaffen. „Hast du dich genügend ausgeruht?“, fragte sie Tolkar, der ein Stück entfernt stand und etwas unsicher auf seine Stiefel sah.

Samiras ging zu ihm und nahm seine Hand. „Ich bin dir nicht böse, Tolkar“, sagte sie weich. „Ich weiß, dass aus dir nur die Sorge um mich sprach. Glaube mir, dir werde ich niemals böse sein.“

Der Troll sah sie voller Zuneigung an. „Dann frage ich mal, ob ich helfen kann“, brummte er erleichtert. „Ach so. Ja, ich kann noch ´ne ganze Strecke laufen. Mach dir um mich keine Sorgen“, grummelte er gerührt und stapfte davon.

Wir lieben dich nun mal“, wisperte Danina und schmiegte sich an Samiras´ Bein.

Bis zum Abend ritten sie durch eine Landschaft, die sich allmählich veränderte. Herrschten anfangs weite Felder und Wiesen vor, wurde der Boden nach und nach hügeliger und steiniger. Bei Sonnenuntergang schlugen sie ihr Lager zur Nacht in einem kleinen Tal im bescheidenen Schutz einiger knorriger Bäume und dichter Sträucher auf. Nachdem sie gegessen hatten legten sie sich zur Ruhe. Schon früh am nächsten Morgen brachen sie wieder auf.

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