Mary Shelley

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Mary Wollstonecraft (1759–1797), Schriftstellerin, Philosophin und Frauenrechtlerin. Gemälde von John Opie, 1797

»Und Milton war Republikaner, Percy. Er ist ein Vorfahr, der noch gar nicht so lange tot ist. Nur ein gutes Jahrhundert liegt zwischen ihm und uns.«

»Wollen wir zusammen Milton lesen?«, Percy trat vor sie hin und strich über ihren Kragen. »Du trägst dich schlicht«, sagte er, »das gefällt mir.«

»Wirklich? Das rote Kleid, in dem Harriet sich hier eingeführt hat, ist heute noch Gesprächsstoff zwischen Fanny und Jane.«

»Harriet glaubt, weil sie mit einem Edelmann verheiratet ist, braucht sie eine erlesene Garderobe. So ein Blödsinn. Hat Eliza ihr eingeredet. Ich verachte die Prätentionen meiner Klasse. Weißt du, womit die Aristokratie ihre Zeit verbringt? Mit der Jagd und dem Kartenspiel.« Er stöhnte auf. »Einige wenige verwalten ihre Güter selbst oder machen Politik oder streben nach militärischen Ehren. Aber die meisten sind Parasiten vor Gott und der Natur. Jagd und Kartenspiel. Es ist zum Verzweifeln.«

»Weißt du, womit die Angehörigen meines Geschlechts ihre Zeit vertun? Mit Putz und Klatsch. Ist das besser? Und man könnte es so leicht ändern. Durch Bildungspläne für Töchter, durch Teilhabe der Frauen an euren Parlamenten, euren Vereinen, euren Akademien … Schlag nach bei Mary Wollstonecraft, da steht schon alles drin.«

Percy hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und drückte plötzlich seine Hand gegen das Brustbein. »Ich habe Schmerzen. Hier drin«, sagte er, »mein Arzt weiß nicht recht, was es ist. Am Ende die Schwindsucht?« Er lachte und hustete zugleich.

Mary trat neben ihn und fragte:

»Wie lange hast du das schon?«

»Jahrelang«, gab er zur Antwort. »Ich bin ein Invalide.«

»Ich sah dich rennen wie ein Reh. Du kannst kein Invalide sein.«

»Und doch sticht es hier drinnen und sticht. Das muss eine Ursache haben.« Und er fing wieder an, wie verrückt zu lachen.

»Wir machen doch hier keine Scherze«, verwies Mary ihn irritiert.

»Mädchen«, sagte er, »ich war noch nie so ernst. Sag mir die Wahrheit. Was ist mit diesem Baxter-Jungen, der aus Schottland angereist ist? Jane sagt, er sei deinetwegen hier. Ist da was dran? Will er dich entführen?«

»Robert?« Mary lachte. »Selbst wenn er es wollte – ich würde niemals mit ihm gehen.«


Mary war vier Jahre alt, als ihr Vater zum zweiten Mal heiratete, als sie mit Jane und Charly erwünschte Spielgefährten bekam und mit der neuen Mrs Godwin eine strenge Stiefmutter. Die wusste wenig von den rousseauistischen Erziehungsprinzipien ihres Gatten und der verstorbenen Mary Wollstonecraft und fand, man müsse von Kindern vor allem Gehorsam und Disziplin fordern. So klein Mary auch war, erlebte sie doch die neue Hausherrin und deren Regiment als Bruch in ihrem Leben, zumal die zärtliche Kinderfrau, die sie bis dahin betreut hatte, entlassen wurde. Ihr Vater ahnte, was in seiner Tochter vor sich ging, aber er war froh, nach mehreren Fehlschlägen auf dem Heiratsmarkt nun doch noch eine Frau gefunden zu haben, die sich der Kinderschar resolut annahm und die ihm überdies gefiel. Mary Jane Clairmont war eine imposante Erscheinung und ein starker Charakter. Aber sie war eben auch ein Mensch, der darunter leidet, wenn er herabgesetzt wird. Gegen den übermächtigen Geist der verstorbenen Mary Wollstonecraft kam sie nicht an. Doch war sie klug genug, ihren geheimen Groll vor ihrem Ehemann zu verbergen. Das Töchterchen Mary jedoch, das sich für etwas Besseres hielt und auf Jane und Charly und selbst auf Fanny glaubte herabsehen zu können, das zankte sie mit Vorliebe aus, wenn es wieder nicht zeitig genug ins Bett gegangen war. In solchen Momenten ließ sie einiges von ihrer Unzufriedenheit mit dem Leben an Godwins Seite in harten Worten und auch mal durch die erhobene Hand zum Vorschein kommen. Und Mary konnte wenig mehr tun, als sich wegducken. Das hatte sie früher nicht nötig gehabt. Das trug sie dem Vater vor, doch als sie sah, wie unglücklich er sie anblickte, fast so, als wolle er sie hypnotisieren, hielt sie fortan lieber den Mund und bemühte sich, es der neuen Mutter recht zu machen. Aber tief in ihrem Herzen blieb sie die stolze Tochter einer nie gekannten, wundervollen, weithin berühmten Mutter und damit etwas ganz Besonderes. Der Einzige, der darum wusste und das auch so sah, war ihr Vater. Und wenn sie an dessen Tür klopfte, ließ er sie ein, holte ein Buch hervor und gab es ihr zu lesen; anschließend musste sie das Gelesene in eigenen Worten reproduzieren. Oder er gab ihr Stifte, damit sie zeichnete. Und er sagte nie so obenhin: »Das hast du aber fein gemacht«, sondern meinte, sie könne das noch besser, und stellte ihr Aufgaben für den folgenden Tag. Er unterrichtete auch Fanny und Jane; aber in Mary fand er einen Geist von wahrer Neugierde und frühreifem Verständnis, und so dauerte der Unterricht, den er ihr erteilte, mehr als doppelt so lange wie die knappen Stunden, die er für die beiden anderen übrig hatte. Mary blieb das alles nicht verborgen, und sie trug den Kopf hoch, die Konkurrenz zwischen den Halb- und Stiefgeschwistern war groß. Doch sie hielten auch zusammen – gegen die kontrollierende Mutter und den fordernden Vater.

Als der kleine William geboren wurde, entspannte sich die Situation, weil die Mutter so stark mit dem Säugling beschäftigt war, dass sie die Großen mehr sich selbst überlassen musste. Dann kamen die Älteren in die Pubertät, und es ging erneut los mit Krächen und Szenen. Godwin tat das einzig Richtige: Er schickte seine Mary nach Schottland, wo die Tochter das Klima genoss, ihre Studien trieb und Freundschaften pflegte. Auch Mrs Godwin ging es jetzt besser, denn ihre ärgste Rivalin um das Herz ihres Mannes war aus dem Haus. Doch Jane und Fanny entdeckten, wie gern sie Mary im Grunde hatten und wie vertraut sie mit ihr waren, und vermissten sie sehr. Sie schrieben ihr Briefe, gewöhnten sich dann aber doch an ihre Abwesenheit. Wer am meisten unter der Trennung litt, war Vater Godwin. Er stellte fest, dass er geradezu abhängig davon war, sein schönes und gelehriges Kind täglich zu sehen. Nun war sie fort. Ein Gelehrter wie Godwin wusste, wie er sich über Kummer und innere Leere hinweghelfen konnte: Er schloss sich in sein Studierzimmer ein und las die großen Werke. Gerne auch, zum wiederholten Male, die eigenen.

Jetzt, im Juni des Jahres 1814, war Mary zu Hause, und sie fand vieles verändert. Fanny war noch stiller geworden, sie schien ganz in ihren Träumen zu leben und ging ihr und Jane meist aus dem Weg. Jane war aufgeblüht, wie es Mary schien. Hübsch war sie geworden und nicht mehr so leicht beleidigt. Sie lachte viel, meist ohne Grund, als wolle sie einfach nur ihre schöne Stimme erklingen lassen. An Mary schloss sie sich eng an und erzählte, wer ihr beim Bäcker schon zum zweiten Mal ein Kompliment gemacht hatte, zuweilen musste Mary sie regelrecht abschütteln. Der Vater war zwar seiner Geldsorgen wegen dauernd verstimmt, aber wenn Mary zu ihm kam, etwa, um ihm anzubieten, aus der Zeitung vorzulesen oder einen Spaziergang zu machen, hellte sich seine Miene auf, er schloss sie in die Arme, und das machte sie glücklich. Charles war nicht mehr zu Hause, er hatte eine kaufmännische Lehre begonnen und kam nur ab und an zu Besuch. William war ein frecher Mops, bald zwölf Jahre alt und ziemlich laut, aber Mary mochte ihn, er glich dem Vater.

Und dann waren da die namhaften Gäste, die ein- und ausgingen. Allen voran Mr Shelley – der jetzt nur noch ohne seine Ehefrau erschien. Mary saß inzwischen ganz zwanglos nach dem Essen in der Runde mit dabei, sie mischte sich in die Diskussionen ein, vorsichtig noch und eher mit Fragen, aber sie hatte das Gefühl, dazuzugehören, schon deshalb, weil sie Schriftstellerin werden wollte und weil sie von Shelley und ihrem Vater wusste, dass sie das Talent dafür besaß. Sie hatte Percy ein Gedicht gezeigt und er hatte es laut gelesen, mit aparter Intonation, so wie nur er es konnte, mit seiner singenden Stimme. Sie sagte ihm, sie hätte nicht gewusst, wie schön das Gedicht sei, bis er es ihr vorgelesen hätte.

Als Mary das nächste Mal auf den Friedhof kam, es war der 26. Juni, allein und ohne verabredet zu sein, nur mit ihren Büchern und dem Notizheft im Beutel, war Shelley schon da. Er saß ein Stück von Wollstonecrafts Grab entfernt, unter einem Weidenbaum und aß einen Apfel. Wie er sie kommen sah, warf er den Rest des Apfels über die Gräber hinweg und streckte seine Hand nach ihr aus. Sie trat neben ihn, ließ ihren Beutel ins Gras fallen und gab ihm die Hand. Er zog sie zu sich runter, und sie küsste ihn auf den Mund, küsste immer weiter, weil er es auch tat und streckte sich über ihm aus, während sie mit ihren Händen über seine Schultern und Arme fuhr und in seine Haare hinein. Der Weidenbaum beschirmte diese Liebesszene. Und so lautet Shelleys poetische Erinnerung an seine erste Liebesnacht mit Mary:

Wir werden unsre eignen Riten haben,

Um unseren Bund zu feiern

Denn unsre Kirche ist die Sternennacht

Und unser Hochaltar die Erde, grasbewachsen

und unser Priester der flüsternde Wind.

Shelley sagte später, der 26. Juni sei sein eigentlicher Geburtstag gewesen.

II »Zu glücklich, um zu schlafen«
Auf der Flucht

Als Mary am nächsten Morgen nach kurzem Schlaf erwachte, wusste sie, dass ihr Leben neu begonnen hatte. Alles, was sie bisher gewollt, versucht und sich ausgemalt hatte, im Schreiben und im Leben, war nur eine Vorstufe gewesen für das, was jetzt kommen sollte: ihr Leben mit Shelley. Sie war sich sicher und sie war ruhig, sie stand am Anfang und sah voraus, dass sie mit dem Geliebten vom Baum der Erkenntnis essen würde und dass das richtig sei und wunderbar. Sie dachte an die Worte, die in der letzten Nacht, draußen unterm Baum, gefallen waren, und dass sie selbst die Erste gewesen war, die von Liebe gesprochen hatte. Sie dachte an die Umarmungen, die auf ihre Weise von Liebe gesprochen hatten, sie verspürte einen Stich unterm Brustbein, weil Shelley jetzt nicht bei ihr war. Doch in das Glücksgefühl, das die Erinnerung an die letzte Nacht hervorrief, mischte sich Furcht. Sie und Shelley mussten ihren Weg freiräumen. Doch wie sollte das gehen? Beide wollten sich nicht mit der Sehnsucht nach der großen Liebe begnügen, um dann doch einen Kompromiss zu schließen, sie wollten die Ausgeburten ihrer Träume in die Wirklichkeit führen und waren entschlossen, dabei auf die Gefühle Dritter im Zweifelsfall keine Rücksicht zu nehmen. Mary sah sich dazu berechtigt, weil sie wusste, dass der Bund, den sie mit Percy in der vergangenen Nacht geschlossen hatte, ein Geschenk des Schicksals war, kostbar und einzigartig, was ihr nicht nur erlaubte, sondern von ihr forderte, ihn um jeden Preis zu verteidigen. Aber was würde der Vater sagen? Sein Bild stand lebensvoll neben dem des Geliebten. Ihr graute davor, den Papa zu verletzen, aber wenn es sein musste, würde sie es tun. Die Stiefmutter war ihr egal. Fanny war verreist, sie würde von allem erst später erfahren. Und Isabel? Ihre Freundin, die, wie sie gehört hatte, bald heiraten würde? Ich werde ihr schreiben, dachte Mary, sie wird uns verstehen. Doch wer wird uns helfen? Jane kam ihr in den Sinn, die Stiefschwester würde zu ihr halten. Flüchtig dachte sie an Harriet, es schien ihr aber, dass diese Frau und Shelley schon geschiedene Leute seien und es keineswegs ihre Sache sein könne, die unglückselige Verbindung zu verteidigen. Auch wusste sie, dass er zu seiner Frau gehen und ihr die Wahrheit über seine neue Liebe sagen wollte.

 

Shelley war jetzt ganz Mann der Tat. Am Tage nach seiner und Marys erster Liebesnacht im Angesicht des Mondes, der Sterne und der Feenkönigin (Queen Mab) trat er vor William Godwin hin und bekannte geradeheraus, dass er Mary liebe und sie ihn und dass er mit ihr fortgehen wolle. So lustvoll er als Dichter den Sinn und die Botschaft zwischen den Zeilen versteckte, so wichtig war ihm im Leben die klare Ansage. Mit Godwins Fassungslosigkeit, gefolgt von schierer Wut, hatte er nicht gerechnet. War nicht dieser Mann, den er Vater nennen wollte, der beredte Befürworter der wahren Liebe gewesen, weit entfernt davon, papiernen Verträgen im Reich der Sinne und der Leidenschaft irgendeinen Wert beizumessen? Und jetzt das! Godwin bezichtigte ihn des Verrats und der schändlichen Verführung und brach schließlich unterm Portrait der in Liebesdingen so radikal freiheitlich gesonnenen Mary Wollstonecraft auf seinem Schreibtischstuhl zusammen. Shelley hob entsetzt die Hände.

»Es ist beschlossen«, rief er mit seiner nervösen, hohen Stimme, »Mary und ich gehören zusammen, wir werden bald von hier aufbrechen und unser gemeinsames Leben beginnen. Es gibt nichts, was uns aufhalten könnte.«


Percy Bysshe Shelley (1792–1822), Zeichnung von Amelia Curran, 1819

»Nichts?«, knirschte Godwin und griff nach seinem Briefbeschwerer, warf ihn aber nicht. »Auch nicht ein Rest von Anstand, Ehrbarkeit und Respekt? Ich kann nicht glauben, dass du mein Haus betreten hast in der Maske eines Wohltäters und es jetzt verlassen willst als Verderber meines reinen und unschuldigen Kindes!«

Shelley zitterte. Er hatte sich diese Abschiedsszene so nicht vorgestellt. Ein Vater war in Fragen der freien Liebe offenbar anders empfindlich als ein Sozialphilosoph. Der junge Mann verspürte plötzlich eine tiefe Beklommenheit – ähnlich einem Schuldgefühl. Er stürzte aus dem Studio, rannte zur Haustür und stieß auf Jane, die eben aus dem Küchengarten kam, den Arm voller Kräuter.

»Was ist los?«, rief sie und verstellte ihm den Weg. Er packte sie bei den Schultern. »Mary und ich«, flüsterte er, »wir lieben uns. Wir werden dieses Haus verlassen.«

Jane starrte ihm ins Gesicht. Dann schluckte sie und sagte: »Was für ein Traum!« Shelley zog sie an sich und drückte sie mitsamt den Kräutern, er sagte: »Steh uns bei, bitte!«

Sie nickte, Tränen stiegen ihr in die Augen.

Godwin befand sich in einer peinvollen Zwangslage. Er liebte seine Tochter über alles, und mit dem Instinkt eines Liebenden ahnte er, dass Mary eine zwar kühne und großartige, aber für die Perspektive häuslichen Glücks höchst problematische Wahl getroffen hatte. Wenn er in der Folgezeit alles tat, um das Paar auseinanderzutreiben, so geschah es aus Sorge um sein Kind. Er hatte Percy Shelley kennengelernt, als der stolz wie ein Pfau seine blutjunge, bildschöne Frau präsentierte, und das war noch nicht einmal drei Jahre her. Was war aus dieser Zweisamkeit geworden? Ein Kind war auf der Welt, aber der Ehebund zerstört, wenn auch noch nicht gelöst. Musste man daraus nicht schließen, dass dieser Mann ein gefühlsmäßiger Herumtreiber war, ein Flattergeist, ein Irrwisch? Und so einer wollte ihm seine Tochter wegnehmen? Obwohl er seinen Schüler nach wie vor als Intellektuellen und Poeten hochschätzte, hatte er länger schon Bedenken, was dessen menschliche Qualitäten anging. Ja, es gab sie, die Autorität der Liebe und des tiefen Gefühls, aber die Autorität des Vaters gab es auch noch, und so ergriff er umgehend Maßnahmen: Weder Mary noch Jane durften das Haus verlassen. Shelley wollte er nur noch an neutralen Orten treffen, an Harriet sandte er eine Nachricht mit der Bitte, sowohl auf ihren Mann als auch, eventuell brieflich, auf Mary einzuwirken, damit beide ihre unrechtmäßigen Ansprüche aneinander widerriefen. Und dem Verführer schrieb er einen zehnseitigen Brief, an dem er zwei Tage lang arbeitete. Einem alten Freund gegenüber erleichterte er sein Herz: »Er war so wahnsinnig, mir seine Pläne zu enthüllen und auch noch meine Zustimmung einholen zu wollen. Ich widersprach seinem Vorhaben mit aller Energie, die ich besaß und beschwor ihn, zur Tugend zurückzukehren.« Was Godwin zusätzlich zu schaffen machte, war die Sache mit dem umfangreichen Kredit, den Shelley ihm zugesagt hatte und auf den er angewiesen war. Deswegen durfte er es sich mit seinem jungen Gläubiger auch wieder nicht verderben. Er bestand darauf, dass Shelley das Geld beschaffen müsse, jetzt erst recht, und Shelley sah sich trotz des Zerwürfnisses wegen Mary in der Pflicht.

Es dauerte seine Zeit, bis Godwin sich dazu durchrang, das persönliche Gespräch mit Mary zu suchen. Er hing an seinen Kindern und an Mary besonders, er war ein Familienmensch, der das Treiben um ihn her sehr wohl genießen konnte, aber er war auch eine reservierte Persönlichkeit, die Gefühlsaufwallungen unterdrückte und stets die Form zu wahren suchte. Deshalb zögerte er, bevor er seine Frau bat, Mary zu ihm zu schicken. Wie sollte er die Fassung wahren, wenn sie vor ihm stand? Das würde ihm, so ahnte er, nicht gelingen, und so nahm er hinter seinem Schreibtisch Platz, legte eine Hand auf seinen Briefbeschwerer, als könne er von da Kraft beziehen, und horchte auf das Hämmern seines Herzens.

Mrs Godwin, die die Einhaltung des Hausarrestes für die Mädchen überwachte, hatte eine Katastrophe wie diese kommen sehen. Allerdings schien es ihr, als sei Fanny das Ziel von Shelleys erotischer Abenteuerlust gewesen, und deshalb hatte sie das Mädchen vorsichtshalber auf eine Reise zu Verwandten nach Wales geschickt. Dass jetzt Mary den Kopf verloren hatte, verwunderte sie indes nicht allzu sehr. Denn obwohl sie allmählich dazu übergegangen war, dem gepriesenen Wunderknaben Shelley zu misstrauen, musste sie doch anerkennen, dass es schwierig war, dem Werben dieses Jünglings aus dem Bilderbuch der schwarzen Romantik – so schön und leidenschaftlich, exzentrisch und genialisch, rebellisch und einfühlsam, reich und doch arm, wie er war –, mit Vernunft zu begegnen. Wie Jane zu ihm stand, war ihr nicht klar. Aber da nun die Würfel gefallen waren und er Mary erkoren hatte, war das auch nicht weiter wichtig. Mrs Godwin würde ihrem Gemahl zur Seite stehen und alles dafür tun, der minderjährigen Mary die Flausen auszutreiben.

Mary fürchtete die Konfrontation mit dem Vater viel weniger als dieser. Mulmig war es ihr schon, aber sie brauchte nur an ihren Geliebten zu denken, an ihre Worte, seine Schwüre und die Zukunft einer geistigen Union mit ihrem Elfen, wobei sie an die körperliche, aus Angst zu erröten, jetzt erst mal nicht dachte – sie brauchte nur Shelley vor ihrem inneren Auge erscheinen zu lassen, und schon spürte sie eine nie gekannte Festigkeit der Seele, des Standes auf den Füßen und der Stärke ihres Willens. So trat sie vor den Vater hin. Der brachte es nicht fertig, zu ihr aufzusehen und knurrte: »Ich habe den ganzen Vormittag damit zugebracht, Briefe zu schreiben in deiner Angelegenheit.«

»Wenn du glaubst, dass das nötig ist …«

»Nötig ist, dass du dich besinnst und uns alle hier aus einer qualvollen Lage befreist.«

»Qualvoll wird eure Lage sein, wenn ihr mich weiter festbindet und Shelley verbietet, das Haus zu betreten.«

Bei diesem Widerwort hob Godwin den Kopf und schaute seine Tochter lange und unglücklich an. Doch diesmal verfehlte die Hypnose ihre Wirkung. Mary streifte mit dem Blick kurz sein rotes Gesicht und sah dann an ihm vorbei auf das Portrait ihrer Mutter. Godwin räusperte sich.

»Du weißt, Mary, dass ich mich immer für den Frieden einsetze, auch in der Familie. Bitte vergiss nicht, dass du es bist, die den Krieg erklärt.«

»Nein, Vater, Krieg ist das Letzte, was ich erkläre. Ich erkläre die Liebe! Du selbst hast geschrieben …«

»Ich habe viel geschrieben. Aber ich habe auch manches getan. Ich habe deine Mutter zur Frau genommen und sie mich zum Mann, weil wir beide wussten, dass ein freies Verhältnis, ein illegitimes Kind uns zu Ausgestoßenen machen würde, und das Kind gleich mit. Ist es das wert? Die Prinzipien, die wir entwickeln, sind manchmal etwas für kommende Geschlechter, die uns, auf Biegen und Brechen im Hier und Jetzt durchgesetzt, in den gesellschaftlichen Ruin stürzen würden. Und dann? Wer rettet uns? Die Zukunft? Sie ist ja noch nicht da. Shelley kann dir die Ehe nicht bieten, er ist verheiratet, und du beförderst nicht nur dich und ihn durch deine ›Liebeserklärung‹ an den Rand der Gesellschaft, du stößt auch noch die arme Harriet und ihr Kind ins Elend.«

Marys Herz pochte schmerzhaft. Nicht nur Shelley konnte wunderbare Reden halten, Godwin konnte es auch. Beide besaßen einen unmittelbaren Zugang zu ihrem Herzen. Was ihr Vater sagte, war richtig, das spürte sie, aber Shelleys Worte waren nicht nur richtig, sie waren verheißungsvoll. Sie sprachen von Wollust, Glück und Zukunft – hier irrte Godwin, die Zukunft war da! Ach, wie gern hätte sie den Vater wissen lassen, wie es ihr mit dem Liebsten ging, was es war, das sie an diesen Menschen band. Der Zwiespalt drückte ihr die Luft ab. Sie stöhnte:

»Wenn du wüsstest …«, und musste nun doch weinen. Sie blieb aber aufrecht stehen, mit hängenden Armen, und mühte sich ab, nicht zu schluchzen. William Godwins Miene wandelte sich von Bitterkeit und Strenge in die Zärtlichkeit der Sorge, die er normalerweise um Marys willen empfand. Es schien ihm, als habe sie – ihr Tonfall ließ ihn das hoffen – sich ihm anvertrauen wollen. Diesen kurzen Moment der Schwäche aufseiten des Vaters nutzte Mary, die sich ihrerseits gefangen hatte, um ihn mit kleiner Stimme zu bitten, sie zu entlassen. Er zögerte und machte eine Bewegung auf sie zu, dann nickte er. Sie ging, schloss die Tür des Studios hinter sich, wischte ihre Tränen ab und sah sich nach Jane um. Mit ihrer und Willys Hilfe könnte es gelingen, einen Kassiber für Shelley aus dem Hause zu schmuggeln.


Und so kam es. Nachdem die ersten Schockwellen abgeflaut waren, wurde der Hausarrest in der Skinner Street gelockert und man sprach wieder über alltägliche Dinge. Godwin und Shelley sahen einander mehrfach, um finanzielle Angelegenheiten zu regeln, und natürlich auch, um über Mary zu sprechen. Die Tür stand dem jungen Mann nun erneut offen, denn schließlich vertrug sich die Bitte um Geld schlecht mit einem Hausverbot. Mrs Godwin arrangierte einen Briefwechsel zwischen Mary und Harriet, und es sah so aus, als gingen die beiden Frauen zumindest verbal aufeinander zu. Mit Shelley erreichte Godwin das vorläufige Einverständnis, alles noch mal zu überdenken. Begegnungen zwischen den Verliebten wurden allerdings weiterhin untersagt, sodass Jane als Briefkurierin und Wachtposten Dienst tun musste, damit das Paar sich heimlich treffen konnte. Die Angst, Mary könne womöglich an einen geheimen Ort verschleppt werden oder Shelley aufgrund von falschen Anschuldigungen im Gefängnis oder in der Irrenanstalt landen, war allgegenwärtig, und das Szenario entwickelte sich, obwohl nicht wirklich begründet, in den Köpfen der beiden fantasiebegabten Menschen zu einem tatsächlich drohenden Verhängnis. Shelley sorgte dafür, dass Mary eine Kopie des Privatdrucks von Queen Mab erhielt. Die Widmung an Harriet hatte er ausgestrichen, dafür ihren Namen in den Einband geritzt. Mary las das lyrische Gedicht über eine Neugeburt der Welt unter Tränen: Ihre Sicherheit, eine gemeinsame Zukunft mit Shelley betreffend, war nun doch angeschlagen, und Jane musste sie in langen Stunden trösten und ihr etwas vorsingen. In ihrem Exemplar von Queen Mab notierte Mary auf die leere letzte Seite: Dieses Buch ist mir heilig, und weil kein anderer Mensch jemals hineinschauen wird, kann ich schreiben, was ich möchte – aber was soll ich anderes schreiben, als dass ich den Autor über alle Maßen liebe und dass ich von ihm getrennt bin. Teuerste und einzige Liebe, bei der Liebe, die wir einander versprochen haben – obwohl ich die Deine vielleicht niemals werden kann, will ich doch nie die eines anderen sein, denn ich bin ganz und gar die Deine, durch den Kuss der Liebe … Ich habe mich Dir hingegeben, und heilig ist die Gabe.

 

Eines Abends, als Shelley die Verhandlungen über einen neuen großzügigen Kredit mit Godwin zum Abschluss gebracht hatte, wurde er sich miteins bewusst, dass Mary im Oberstock dazu verdammt war, auf die nächste geheime Nachricht von ihm zu warten und wahrscheinlich sein Gedicht las. Er sprang unvermittelt auf, stürmte aus dem Raum, die Treppen hoch und rief laut ihren Namen, während er die Tür zu ihrem Zimmer aufstieß. Dabei zog er eine Flasche mit Laudanum, eine Opiumtinktur, aus seiner Hosentasche und machte Anstalten, sie auszutrinken. Mrs Godwin war sogleich auf der Bildfläche erschienen und schrie auf ihre charakteristische Art: »Was in Gottes Namen …?« Der Herr des Hauses stand wie angewurzelt auf der Schwelle seines Zimmers und hielt sich an seiner Brille fest. Jane hastete die Treppe hoch, und Mary rang mit Percy um das Fläschchen. Er ließ ihr am Ende den Sieg und versäumte nicht, sie während des Kampfes unterhalb der Taille, am Nacken und am Busen zu berühren und ihr zuzuflüstern: »Komm mit mir!« Es war eine kleine Theatervorstellung für die Godwins und auch eine Botschaft für Mary: Ich lasse dich nicht. Ehe ich ohne dich leben muss, trinke ich Gift. Aber es war auch echtes Drama des Lebens, denn Shelley meinte es durchaus ernst. Im Kampf um Mary war sein Rivale Godwin, das wusste er, in manchen Punkten klar im Vorteil. Er fürchtete nun, dass nicht viel fehlte, und er selbst würde unterliegen.

Kurz darauf läutete es mitten in der Nacht Sturm in der Skinner Street. Vor der Türe stand Shelleys Vermieter: Der junge Dichter habe sich mit Laudanum das Leben nehmen wollen. Der Doktor sei bei ihm und habe ihn gerade eben retten können.

Ein Fläschchen mit Laudanum übrigens trug Shelley immer bei sich.

In London hatte er einige gute Freunde, dazu zählten der Verleger und Buchhändler Thomas Hookham, sein Cousin Thomas Medwin, der Schriftsteller und Kritiker Thomas Love Peacock und der Jurist Thomas Jefferson Hogg. Mit Hogg hatte Shelley in Oxford die Kampfschrift Notwendigkeit des Atheismus verfasst und publiziert, mit ihm zusammen war er der Universität verwiesen worden. Beide hielten trotz großer Verschiedenheit ihrer Charaktere und mancher Krisen mit bemerkenswerter Ausdauer an ihrer Freundschaft fest.

Jetzt, da Shelley nicht mehr wusste, wo ihm der Kopf stand, und guten Rat brauchte, waren seine engen Freunde gefragt. Aber sie sagten ihm nicht, was er hören wollte. Fast alle sprachen warm von Harriet und rieten von übereilten Entschlüssen ab. Hogg, der Mary einmal kurz getroffen hatte, bekannte, dass er beeindruckt sei von dem blutjungen Geschöpf mit der herrlich weißen Haut. An ihn schrieb Percy in jener Zeit der Furcht und der Hoffnung einen langen Brief, in dem er seine Entscheidung für Mary begründete: Ihr Lächeln – wie einnehmend es doch ist und wie rührend. Sie ist sanft und zart und dennoch zu glühender Empörung und Hass durchaus fähig. Ich glaube nicht, dass es einen Vorzug gibt, den die menschliche Natur erreichen kann und den sie nicht unbestreitbar besäße. Nun sind unser beider Wesen so innig vereint, dass, während ich ihre Vorzüge beschreibe, ich mir wie ein Egoist vorkomme, der für seine eigenen Vorzüge Buße tut. Als ich sie gerade erst kennengelernt hatte, wie tief empfand ich meine Unterlegenheit, wie bereitwillig gestand ich ein, dass sie mich an Originalität, natürlicher Würde und geistiger Brillanz übertraf, ehe sie ihre Talente mit mir zu teilen bereit war. Sehr bald spürte ich ein glühendes Verlangen, diesen unermesslichen Schatz zu besitzen. Ich versuchte, Mary gegenüber meine Zuneigung zu verheimlichen, aber ohne Erfolg. Der erhabene und mitreißende Augenblick, als sie sich zu der meinen erklärte, der ich schon so lange insgeheim der ihre war, kann für menschliche Vorstellungskraft nicht ausgemalt werden. – Es mag Dir genügen, der Du mein Freund bist, zu wissen und Dich zu freuen, dass sie mein ist. Dass ich nun endlich den unveräußerlichen Schatz besitze, den ich gesucht und gefunden habe.

Aber einfach mit Mary fortzulaufen, davor schreckte Shelley noch zurück, lediglich als ultima ratio hielt er an dieser Perspektive fest. Mary hingegen gefiel der Gedanke an eine nächtliche Flucht, und sie traf erste Vorbereitungen. Die Verbote in der Skinner Street wurden täglich lockerer, und obwohl es Mary und Percy immer wieder gelang, sich zu sehen, hatten beide die Geheimniskrämerei schließlich satt. Sie wollten füreinander da sein – gemeinsam Rousseau lesen und täglich miteinander ins Bett gehen. »Es wird uns nichts anderes übrig bleiben als durchzubrennen«, sagte Mary eines Tages und küsste ihren Liebsten. »Und nicht nur nach Wales oder an die Küste«, sagte Shelley in den Kuss hinein, »sondern auf den Kontinent.«

Die Freunde hatten mit ihren Hinweisen auf das Schicksal Harriets recht, das wusste Shelley. Als er feststellte, dass er mit ihnen über seine verunglückte Ehe nicht sprechen konnte, versuchte er, auf langen einsamen Spaziergängen mit sich selbst ins Reine zu kommen. Ein Buch hatte er dabei, aber es blieb in der Tasche, er musste nachdenken. Eine Rückkehr in das Leben mit Harriet schloss er aus. Er war zu ihr gegangen und hatte ihr alles gesagt. Es sei aus und vorbei, er liebe eine andere. Harriet hatte bemerkenswert gefasst reagiert, beinahe kühl. Vielleicht, dachte Shelley, hatte sie noch gar nicht recht begriffen, was los war, oder aber sie hielt seine neue Liebe für eine bloße Laune. Womöglich – und das hoffte er – hatte auch sie sich innerlich so weit von ihm entfernt, dass es ihr ganz recht war, wenn er sie jetzt endgültig aufgab. Er war ihr aus dem Weg gegangen die letzte Zeit – in eine Pension war er ja längst gezogen –, weil er nicht wusste, was er ihr noch sagen sollte und weil er sich davor fürchtete, die kleine Ianthe, seine Tochter, zu sehen. Wie würde er das überstehen, sie machte ihre ersten Schritte, er würde weinend vor ihr knien. Das wäre kein Anblick für Harriet und für das Mädchen auch nicht. Ob es stimmte, dass Harriet erneut schwanger war? Er erinnerte sich an ein letztes Zusammensein mit ihr im März – ihm schwindelte, und er musste sich ins Gras setzen. Ja, es könnte sein, und es wäre schrecklich. Immerhin war Eliza an ihrer Seite, die große Schwester, die ihn nicht mochte und die er verachtete, der Harriet aber außerordentlich zugetan war, und im Hintergrund war da die Familie Westbrook, wohlhabend, stolz auf diese Tochter und gewiss bereit, ihr wieder ein Zuhause zu bieten. Shelley schwitzte, wenn er an die Westbrooks dachte. Das waren seine Leute nicht. Wie hatte er sich derart in Harriet täuschen können! Aber so war er nun mal: Wenn da ein Mädchen in Bedrängnis geriet, und dann auch noch ein so schönes, dann musste er als Ritter in Erscheinung treten und die Prinzessin vor dem Drachen einer Boarding School oder eines tyrannischen Vaters retten, am besten hoch zu Ross. Er konnte nicht anders.