Mary Shelley

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Ein weiteres Mal hieß es für Mary Abschied nehmen von den Baxters, eine große Familie, deren Mitglieder Mary allesamt ans Herz gewachsen waren. Es war im Mai des Jahres 1814. Sie stand mit ihren Gastgebern neben Isabel am Pier, die Koffer wurden aufs Schiff gehievt. Beide Mädchen versprachen einander Briefe, Briefe und noch mehr Briefe. Ein letzter Kuss auf Isabels Wange, ein Händedruck mit Mutter Baxter, und Mary ging an Bord. »Schreib mir was über den Dichter«, rief Isabel ihr nach, »diesen, du weißt schon, Shelley. Ich möchte wissen, ob er nur ein Wirrkopf ist oder ein echter Revolutionär.«

Aus Briefen von zu Hause wusste Mary, dass es seit Längerem außer den treuen Freunden William Hazlitt, einem Kritiker, und den Dichtern Samuel Coleridge und Charles Lamb, die oft vorbeischauten, noch einen weiteren Wahlverwandten in der Skinner Street gab: Percy Bysshe Shelley. Den hatte sie noch nicht kennengelernt; sie hatte ihn zwar vor zwei Jahren kurz in der elterlichen Wohnung gesehen, aber sie erinnerte sich nicht mehr an ihn. Isabel, die sich brennend für alles interessierte, was mit der Französischen Revolution zusammenhing, und gehört hatte, dass Shelley ein Parteigänger der Jakobiner war, hätte Mary am liebsten nach London begleitet, um diesen gerade mal einundzwanzigjährigen Dichter selbst kennenzulernen. Fanny berichtete, er rede viel und klug und meist über Politik, wenn nicht über Poesie. Alle waren von ihm eingenommen, denn er hatte nicht nur die Tischgespräche belebt und Fanny – so meinte Jane – beziehungsweise Jane – so meinte Fanny – den Kopf verdreht, sondern auch größere Summen als nicht rückzahlbare Dotationen in Aussicht gestellt, damit Godwin seine drückenden Schulden loswürde. Ein guter Geist war da also in die Familie gefahren, ein Retter, ein Wohltäter. Mary war sehr gespannt auf diesen jungen Mann und fest entschlossen, ihren eigenen Kopf hoch auf den Schultern zu behalten. Zumal Shelley mit einer Ehefrau lebte, die er entführt hatte, als sie sechzehn war und die bezaubernd schön sein sollte. Seit einem knappen Jahr hatten die beiden eine kleine Tochter.

Im Jahre 1814 war die politische und soziale Lage in England äußerst angespannt. Infolge Napoleons Politik der »Kontinentalsperre«, die nichts anderes war als ein Verbot für die Länder in Frankreichs Machtbereich, Waren aus Großbritannien einzuführen, hatte sich eine große Wirtschaftskrise ereignet; zugleich machten die Folgen der Industriellen Revolution, machten Maschinen – vor allem in der Textilindustrie – immer mehr Menschen arbeitslos. Die Politiker reagierten hilflos, sie beschränkten sich darauf, die Privilegien der Reichen in Stadt und Land zu sichern, und überantworteten die »labouring poor« ihrem Elend. Für Intellektuelle wie Shelley, Godwin und Hazlitt ergaben sich täglich neue Anlässe, in Gedanken auf die Barrikaden zu steigen, in Worten und Taten aber nach gewaltfreien Wegen zu suchen, um die Zustände zu ändern. Als Mary das erste Mal an einer abendlichen Gesprächsrunde im Wohnzimmer ihres Vaters teilnahm, in Gesellschaft der Familie und jenes Dichters Percy Shelley, saß sie scheu und verschlossen dabei. Sie hörte die Männer disputieren, es ging um Getreidezölle, und überlegte derweil, wie sie Isabel den jungen Mann schildern solle. Er war groß und dünn, trug sich nachlässig mit bunter Weste, engen Beinkleidern, das blonde wellige Haar ungetrimmt und fast schulterlang. Sah er nicht aus wie ein Mädchen – die großen Augen, die rosige Haut, kein Bartwuchs? Aber wie er dann lachte und fuchtelte und seine Meinung verteidigte, dabei glühten seine Blicke – das war doch männlich. Er zwinkerte Fanny zu, das entging Mary nicht. Als er sich verabschiedet hatte, nahm sie Jane beiseite.

»Warum hat er seine Frau nicht mitgebracht? Auf sie war ich fast noch neugieriger als auf ihn.«

»Die beiden haben sich gestritten. Der Haussegen hängt ziemlich schief.«

»Warum denn?«

»Percy will, dass Harriet das Baby selbst nährt, aber sie hat eine Amme engagiert.«

»Ach.«

»Percy sagt, das Ammenwesen sei ein übler Auswuchs, eine typische Erfindung der Aristokratie und der Anfang der Entfremdung von Mutter und Kind.«

»Aber warum holt sie eine Amme, wenn doch ihr Mann …«

»Harriet tut, was ihre Schwester Eliza sagt. Die ist um einiges älter und weiß alles besser.«

Nachdem Mary und Percy einander vorgestellt worden waren, kam der junge Mann erneut in die Skinner Street und traf Mary im Laden an, wo sie aushalf und Bücher sortierte. Er zog sie ohne viel Worte vor die Tür und lief mit ihr die Straße entlang.

»Ich muss dir sagen«, begann er, »dass ich förmlich erstarrt war, als ich dich gestern zum ersten Mal sah. Ich konnte nicht sprechen, ich konnte nur schauen. Denn du bist das Ebenbild deiner Mutter.«

Mary blieb stehen. Das Portrait ihrer Mutter hing im Arbeitszimmer des Vaters, es dominierte den gesamten Raum. Die zweite Mrs Godwin hatte schon mal den Vorschlag gemacht, es an einen weniger prominenten Ort zu hängen, weil, wie sie behauptete, es dort besser abzustauben wäre, aber darüber war mit Mr Godwin nicht zu reden. O ja, Mary Wollstonecraft war eine sehr hübsche Frau gewesen, und Mary, ihre Tochter, wusste, dass sie ihr glich. Es freute sie, dass Shelley das aufgefallen war. Sie wusste nicht, was sie hätte erwidern können und sagte deshalb nichts. Langsam gingen sie weiter.

»Die wiedergeborene Mary Wollstonecraft«, sagte Shelley andächtig und ergriff kurz ihre Hand. »Ich habe gehört, du schreibst Geschichten? Wie deine Mutter?«

»Wer hat das gesagt?«

»Fanny hat es gesagt. Und deine Stiefmutter. Sie hofft, dass du jetzt damit aufhörst und im Laden mit anpackst.«

Mary schnaufte. »Was die sich einbildet.«

»Ihr seid nicht gut aufeinander zu sprechen?«

»Sie kümmert mich nicht. Aber dass sie meinen Vater … dass sie ihn unmöglich glücklich machen kann, das quält mich.«

»Sie kocht gut.«

»Vater braucht noch andere Speise. Ich muss zurück in den Laden.«

Schweigend liefen die beiden nebeneinanderher. Mary war ganz ruhig. Sie hatte sich davor gefürchtet, zu Hause in den alten Trott zu fallen, sich mit ihrer Stiefmutter anzulegen und den ganzen Tag mit schlechter Laune rumzulaufen, aber jetzt erschienen ihr die Straße, das Haus und der Laden in hellen Farben. Sie verabschiedete sich von ihrem Begleiter und ging zurück zu ihren Büchern. Während sie die Bände ordnete und ins Regal stellte und sie wieder herausnahm, weil sie sich vertan hatte, dachte sie an Shelley. Er war anders zu ihr als die jungen Männer, die sie sonst kannte, zum Beispiel die Baxter-Jungen. Shelley flirtete nicht. Er war geradeaus und klar und ernst. Ein seltsamer Vogel, dachte sie.


Wann immer sie die Gelegenheit wahrnehmen und vor den Anweisungen der Stiefmutter flüchten konnte – es gab stets etwas zu tun im Laden und in der Küche, und Mrs Godwin liebte es, Befehle zu erteilen –, wann immer sie ein paar freie Minuten kommen sah, packte Mary Bücher, Stift und Notizheft in ihren Beutel, schlüpfte aus dem Haus und begab sich zum Friedhof St. Pancras, wo ihre Mutter begraben lag. Der Vater hatte ihr erzählt, dass sie, Mary, einst anhand der Buchstaben auf dem Grabstein lesen gelernt habe. Die Totengräber, der Friedhofsgärtner und so manche Witwe, sie kannten das zarte junge Mädchen mit dem wundervollen goldbraunen Haar, das so lange lesend neben dem Grab der Mary Wollstonecraft kauerte, und sie freuten sich, dass sie nach langer Pause jetzt zurückgekehrt war. Man wusste, wer sie war, und fand es gottwohlgefällig, dass die Waise auf diese Art die Nähe ihrer Mutter suchte. Niemand wagte sie zu stören, wie sie da vertieft schien in ihre Lektüre und ihre Notizen. Bis dann auf einmal jemand neben sie trat, ihr die Hand auf den Scheitel legte und »Guten Tag, Mary« sagte. Mary wusste gleich, wer es war, sie erschrak nur mäßig, schaute aber auf mit gerunzelter Stirn.


Mary Shelley, Gemälde von Samuel John Stump, 1831

»Ich bin dir gefolgt«, sagte Shelley und ließ sich neben ihr nieder. »Hast du nichts bemerkt?« Mary schüttelte den Kopf. »O ja, ich kann gut schleichen. Zeig, was du liest. Lukrez. Das ist gut. Er hat Epikur seinen Zeitgenossen vorgestellt und ihnen gesagt: ›Lebt hier und jetzt, die Götter sind fern und nicht imstande, euch zu helfen, auch nicht, euch zu verderben.‹ Die Seele ist sterblich, liebste Mary, und wie der Körper hier auf Erden des größten Glückes fähig.«

»Hat man ihn wegen seines Freidenkertums verfolgt? Hat man versucht, Lukrez den Mund zu verbieten?«

»Wir wissen nichts über sein Leben. Was wir von ihm haben, sind seine Worte, seine Gedanken. Er glaubte, dass alle Materie aus Atomen zusammengesetzt sei. Eine moderne Ansicht, nicht wahr? Er war ein beherzter Denker. Lies ihn, du machst es richtig.«

»Mein Latein ist noch dürftig. Ich muss immer wieder im Wörterbuch nachsehen. Aber es wird langsam besser.«

»Wenn ich bedenke, dass ein Mädchen wie du, dass ein Kopf wie du, ein Mensch mit Geist, mit Fantasie, irgendwann die Bücher stehen lässt und nichts anderes macht, als Kinder auszuzanken und Wäsche aufzuhängen und eifersüchtig nach dem Ehemann zu spähen, der irgendwo in einem Gasthaus hängen geblieben ist, nur, weil du ein Weib bist, vorgesehen angeblich von der Natur für häuslichen Krims und Krams …«

»Ha, wenn du das von mir glaubst, dann bist du in großem Irrtum, Percy Bysshe! Bookish girl, haben die Nachbarn und die Tanten gesagt, das war ich, und das werde ich immer sein, und ich werde selbst Bücher schreiben.« Sie nahm den Lukrez und schlug ihn einige Male gegen Shelleys Stirn, ordentlich heftig, und er ließ sie gewähren, hob die Arme im Spaß, als würde da ein schrecklicher Angriff gegen ihn gefahren.

 

Das war sogar so. Mary würde ihr Lebenskonzept vor ihm als unverhandelbar verteidigen. Was immer aus ihr würde, sie würde bookish bleiben.

Und wieder holte Shelley sie aus der Buchhandlung ab, und da er sehr gut wusste, dass die Nachbarn sie beobachteten und darüber reden würden, dass die mittlere Godwin-Tochter so oft Seite an Seite mit dem berüchtigten Dichter die Straße entlangwanderte, rief er Jane, und diese gesellte sich zu ihnen als eine Art Anstandswauwau. Man sprach über das Theater oder über die neuesten Geistergeschichten aus der Feder von Ann Radcliffe oder Matthew Gregory Lewis. Jane hatte nicht so viel gelesen wie Mary, sie war eigentlich gar nicht bookish, aber sie spürte, dass sie Shelley gefiel, wenn sie vor den beiden rückwärts lief und trotzdem nicht gegen den nächsten Baum prallte. Sie hatte Spaß daran, kleine Zettel mit Nachrichten zwischen Mary und Shelley hin- und herzutragen – sie las sie auch nicht, das versprach sie und das hielt sie. Shelley wohnte nicht weit entfernt, er war in eine Pension gezogen, ohne Harriet.

»Wenn du so darauf bestehst, dass deine Frau euer Baby selbst stillt, dann solltest du auch an ihrer Seite sein und das Kind wiegen, damit die Mutter mal Atem holen kann«, sagte Jane und baute sich vor ihm auf. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie es zuging, als ihr kleiner Bruder William im Lauflernalter war. Irgendjemand schrie immer: der Kleine, seine Mutter, Godwin, der seine Ruhe wollte, oder Charly, dem Willy aufs Kissen gepinkelt hatte. Babys sind anstrengend, das hatte auch Shelley erfahren, und es hatte ihm zu schaffen gemacht. Er stimmte Jane zu, brachte aber zu seiner Verteidigung vor, dass er es aufgegeben habe, sich mit Eliza anzulegen, seiner Schwägerin, die seit der Flucht mit Harriet, damals vor drei Jahren, nicht von ihrer Schwester Seite gewichen war.

»Sie ist ein Drachen und absolut geistlos. Ich kann nicht mit ihr reden.«

»Warum schickst du sie nicht einfach fort?«

»Das wäre schwierig. Harriet scheint sie zu brauchen. Es ist, wie es ist.«

Jane machte ein paar Tanzschritte rückwärts und lief zur Skinner Street. Shelley und Mary zogen weiter zum nahe gelegenen Park und steuerten eine Bank unter Akazienbäumen an. Shelley sagte: »Wenn die Abendsonne so auf deinen Kopf scheint, verwandelt sich dein Haar in eine Aureole aus gesponnenem Kupfer. Und dazu deine Haut so weiß, weißer als Schnee.«

»Sag mir, wie es um dich und Harriet steht. Es kann doch nicht nur um das Baby gehen.«

»Ich habe sie damals befreit, weißt du, aus den Klauen von Lehrerinnen und Pfaffen und Eltern, die ihr Vorschriften machten und Befehle erteilten, denen sie nicht zu folgen vermochte, die sie eingezwängt hatten in enge Räume, Regeln und Doktrinen – ihren Körper, ihre Seele, ihren Verstand. Sie schien mir begabt und bildbar, reich beschenkt von der Natur mit Liebreiz und Sanftmut, beschränkt nicht durch sich selbst, sondern durch widrige Umstände, die stärker waren als sie, denen sie ohne äußere Hilfe keinen Widerstand entgegensetzen konnte. Diese äußere Hilfe wollte ich sein. An meiner Seite sollte sie zu sich selbst finden, ihrer Klugheit vertrauen, ihre Talente entwickeln, ihre Kraft fühlen und neuen Lebensmut schöpfen. Und so kam es auch. Aber dann …«

Mary wartete darauf, dass Shelley weiterspräche, aber als nichts mehr kam, ergriff sie das Wort: »Liebe ist das eine«, sagte sie, »Treue das andere. Musst du nicht zu ihr stehen, auch wenn sie nicht die Frau ist, die du einst in ihr gesehen hast?«

»Ich muss zu ihr stehen, keine Frage, sie hat unser Kind geboren und erwartet, so scheint es, ein zweites. Aber ein Zusammenleben ist nicht mehr möglich, das müsste sie selbst ebenso empfinden. Sie geht in einer Weise auf in den allerkleinsten Nichtigkeiten des Alltags, dass mir die Haare zu Berge stehen. Sie und Eliza bilden eine Front gegen mich – voller Verachtung für meine Kunst und voller Vorwurf gegen meine Lebensführung. Es ist zu Ende. Was ich Harriet geben wollte, hat sie nicht angenommen. Eine weitere Gabe für sie ist nicht in meinem seelischen Gepäck.«

»Sie kann dich verpflichten, Bysshe. Immerhin habt ihr die Ehe geschlossen.«

»Oh, komm mir nicht damit! Über die Ehe hat dein ehrwürdiger Vater alles Nötige gesagt. Er nannte sie das übelste aller Monopole, das bei Lichte besehen kein Mensch an einem anderen geltend machen dürfe. Wer wollte ihm widersprechen? Die Dinge liegen ganz einfach. Die Liebe ist frei. Zu versprechen, ewig dieselbe Frau zu lieben ist nicht weniger absurd als zu geloben, ewig demselben Glauben anzuhängen. So ein Schwur würde uns in beiden Fällen von jeglicher Erfahrung abschneiden. Die Sprache der Ehebefürworters und Pfaffen lautet so: Die Frau, die ich jetzt liebe, mag unendlich tief unter vielen anderen stehen; der Glaube, den ich jetzt bekenne, kann aus lauter Irrtümern und Wahnvorstellungen zusammengesetzt sein, aber ich schließe mich selbst von allen zukünftigen Erfahrungen in Sachen Liebe oder Glaube aus, und meiner tieferen Überzeugung zum Trotz entscheide ich mich: diese Frau und dieser Glaube, sie seien mein für alle Ewigkeit. Ist das die Sprache des Zartgefühls und der Vernunft? Ist die Liebe eines solchen fühllosen Herzens mehr wert als sein Glaube?«

»Es gehört Mut dazu, so gegen die Erwartungen und die Moral der Menschen anzugehen«, sagte Mary. »Denn schöne Worte reichen nicht. Man muss auch so leben, wie sie es verlangen.«

»Es reicht nie, nur zu reden. Auf das Tun kommt es an.«

»Freiheit und Liebe. Die Worte gehören zusammen. Sie sind beide so schön.«

»Liebe verkümmert unter Zwang. Ihr Wesen ist Freiheit. Sie geht weder mit Gehorsam zusammen noch mit Eifersucht oder Furcht. Sie ist da am reinsten, ist vollkommen und kennt kein Ende, wo die Menschen, die einander gewählt haben, in Vertrauen leben, in Gleichheit und Offenheit.«

Mary mochte es, wenn Shelley philosophisch wurde und sie, nicht immer nur ihr Vater, die Angesprochene war. Sie nahm seine Gedanken auf und führte sie fort: »Kein Gesetz kann derlei garantieren oder auch nur einfordern.«

»Das gilt auch für die körperliche Liebe«, sagte er. »Auch sie muss frei sein. Die sexuelle Verbindung sollte nur andauern, so lange zwei Menschen in Liebe zusammenkommen. Jedes Gesetz, das sie zum Beischlaf nötigt, nachdem ihre Gefühle füreinander erkaltet sind, wäre nichts als eine unerträgliche Tyrannei.«

»Aber die Menschen bezeichnen so ein Leben in freier Liebe als Promiskuität und Sittenlosigkeit und verdammen es.«

»Mary, es ist genau umgekehrt. Die Zwangsinstitution Ehe treibt die Männer ins Bordell und die Frauen in die Treulosigkeit. Beständigkeit als solche ist keine Tugend, und an einer Trennung ist nichts Unmoralisches.«


Percy Shelley war einundzwanzig Jahre alt und damit fünf Jahre älter als Mary. Die Gepflogenheiten der Zeit, aber auch Shelleys Einstellung legten es ihm nahe, die Menschen, die ihm begegneten, vor allem die weiblichen, zu unterrichten, zu belehren, ihnen die Welt zu erklären. Für Shelley lag darin keine Herablassung, und die Mädchen, aber auch so mancher Freund oder Mitschüler, hörten ihm gerne zu, vor allem weil er Nachfragen und Zweifel nicht wegwischte, sondern sofort auf sie einging. Gerne hielt er kleine Predigten, bei denen er seine Umgebung ganz vergaß. Aber wenn er durch eine Frage oder durch ein »He!« oder »Hör mal!« ins Hier und Jetzt zurückgerufen worden war, stellte er sich sofort auf seinen Gesprächspartner ein, spitzte regelrecht die Ohren und versuchte selten, ihn einfach nur zu widerlegen oder abzuwerten, meist wollte er ihn verstehen und den Einwand in seine eigene Argumentation einarbeiten. Nur wenn das gar nicht ging oder wenn er pure Haarspalterei witterte, konnte er scharf und polemisch werden. Manchmal stand er dann abrupt auf und ging davon. In Mary entdeckte er einen verwandten, wenn nicht überlegenen Geist, denn ihre Art, die Wahrheit zu suchen und keine Halbheiten gelten zu lassen, weckte sein Gewissen. Er selbst fühlte sich in Zonen der Ambiguität und der Mehrdeutigkeit durchaus zu Hause. Mary aber gab sich selten mit einer Zwischenlösung zufrieden, sie ging meistens aufs Ganze. Das imponierte Shelley mächtig. Dennoch waren ihre Gespräche über Religion und Philosophie selten Dispute, dazu waren sie einander – beide geistig aufgewachsen mit den Lehren Godwins – im Denken zu ähnlich. Aber es geschah, dass sie bezweifelte, was er vortrug, oder dass er abwehrte, was sie anklingen ließ. Dann waren beide höchst behutsam miteinander und machten Vorschläge von Lesarten oder Interpretationen, die den Dissens abschwächen oder gar in eine Übereinstimmung umwandeln könnten. Dieses intellektuelle Spiel mit Argumenten und Assoziationen, Folgerungen und Erfahrungswerten, Anspielungen und Rückverweisen versetzte beide in eine starke genussvolle Spannung, die es ihnen ermöglichte, stets in Frieden voneinander Abschied zu nehmen und sich auf das Wiedersehen und Weiterreden zu freuen. Denn es war zwischen ihnen ein Band entstanden, das von Geist zu Geist lief und heftig pulsierte und viel aushielt. Auch wenn sie nicht zusammen waren, sprachen sie miteinander. Während Mary dem Vater, dessen Augen schwächer wurden, aus der Zeitung vorlas, dachte sie: Wie würde Shelley diese Lage sehen, das Verhältnis zu Frankreich jetzt nach Napoleons Niederlage? Und er dachte, wenn er mit seinem Bankier über eine neue Gesetzesvorlage sprach, die es den Armen verbieten würde, Holz in den Wäldern des Grundherrn zu sammeln: Wie würde Mary diese Gesetze einschätzen? Wie würde sie ihre Empörung formulieren? Er hatte – abgesehen von einer gebildeten und freigeistigen Lehrerin – noch nie eine Frau getroffen, die so sehr Geistesmensch war wie Mary. Ihre Auffassungsgabe war erstaunlich, ihr Interesse an den Dingen der Welt umfassend, ihr Intellekt geschliffen und trefflich, ihre Fantasie ausschweifend. Er gehörte nicht zu den Männern, die sich vor gebildeten Frauen fürchteten oder sie bemitleideten, wie es viele seiner Geschlechtsgenossen taten, weil sie glaubten, eine Frau mit Verstand, die ihn auch noch zeigte, fände niemals einen Mann und so kein Glück auf Erden. Shelley dachte völlig anders. Er beklagte lautstark, dass die Hälfte der Bevölkerung geistig brach lag, weil es keine Schulen für Mädchen gab, in denen Mathematik und Philosophie gelehrt würde, ein Programmpunkt, der bei einer Reform der Gesellschaft zu den wichtigsten gehörte – auch hierin war er sich mit William Godwin einig. Und erst recht mit dessen erster Gattin Mary Wollstonecraft. Manchmal erschien es Shelley wie ein Wunder, dass er die Tochter dieser beiden Geistesgrößen hatte kennenlernen dürfen. Bei sich nannte er sie ein Kind der Liebe und des Lichts, wobei Liebe für die Mutter stand, die Mary empfangen hatte, ohne verheiratet zu sein, und Licht für Aufklärung, die der Vater repräsentierte. Als er von Jane erfuhr, dass einer der Söhne aus dem Hause Baxter nach London gereist sei und alle glaubten, er wolle um Marys Hand anhalten, wurde ihm für einen Moment schwarz vor Augen.

Jane gab ihm einen Zettel von Mary. »Morgen um sieben St. Pancras?«, stand darauf.

»Sag ihr«, flüsterte Shelley Jane zu, »dass ich morgen nicht kommen kann. Ich muss einen Anwalt aufsuchen.«

Shelley hatte nach seiner Relegation von Oxford und dem großen Krach mit seinem Vater kaum noch Kontakt zu seinem Zuhause Field Place – Anwesen des Sir Timothy Shelley in Sussex. Seine vom Baron als äußerst unpassend empfundene Eheschließung mit Harriet, der nicht standesgemäßen Tochter eines Kaffeehausbesitzers, hatte das Maß vollgemacht. Percy bekam Hausverbot in Field Place und verkehrte mit seinem Vater nur noch über dessen Anwalt. Er litt unter der Trennung von Eltern und Geschwistern, am schlimmsten aber war, dass der Vater ihn kurzhielt und er zeitweilig nicht wusste, wovon er seine Miete und sein Frühstück bezahlen sollte. Was noch nicht mal das Schlimmste war, denn er konnte zur Not im Wald schlafen und sich von den Früchten eines Rübenackers oder von den Maulbeeren auf dem Friedhof ernähren. Aber was war mit seiner Frau und dem Baby? Und mit Godwin, dem er vor Monaten schon ein üppiges Darlehen zugesagt hatte? Shelleys neuerliche Neigung, sich nur kurz in der Skinner Street aufzuhalten, um, so schnell es ging, entweder mit Mary oder Jane oder mit beiden in die Umgebung zu entfliehen, hatte ihre Gründe nicht nur darin, dass er Klatsch vermeiden wollte. Er ging auch Godwin aus dem Weg, dem er zwar schon eine gewisse Summe hatte zukommen lassen, der aber noch auf den Großteil des Geldes wartete – und ihn beständig daran erinnerte. Über den väterlichen Anwalt hoffte er, nun weiteres Geld lockerzumachen. Aber es kam zu keiner Einigung, und so trottete Shelley bedrückt zu seinem Bankier, von dem er wusste, dass er ihm aushelfen würde. Der älteste Sohn eines begüterten Barons erhielt überall Kredit auf lange Frist – wenn auch zu abenteuerlichen Zinsen.

 

Mary wusste, dass ihr Vater auf Geld von Shelley wartete – er brauchte dringend Bares, denn die Gläubiger standen bei ihm Schlange. Nachts, wenn der Schlaf sie floh, und sogar in ihren Träumen sah Mary ihren Vater vor sich, wie er die Hand ausstreckte und Percy ihm ein paar Goldmünzen hineinzählte – das war ein schönes und zugleich bedrückendes Bild. Was konnte sie selbst tun, um die finanzielle Lage ihrer Familie zu verbessern? Als Gouvernante in Stellung gehen? Davor grauste ihr. Sie wollte noch so vieles wissen, ihre Zeit sollte Studien gewidmet sein. Doch sie konnte die immer lauter vorgetragenen Ansprüche der Stiefmutter an ihre Arbeitskraft in Laden und Haus nicht einfach wegschieben. Alle mussten das Ihre tun und das wollte auch sie.

Aber da war der Vater, der ihr Hausaufgaben in Latein und englischer Literatur gab, und da war Percy, der nichts lieber zu tun schien, als mit ihr gemeinsam Texte zu lesen und zu erörtern und der, wenn auf dem Friedhof niemand mehr zu sehen war, ihre Hand ergriff. Mary hielt ihr Herz fest, denn, was immer Shelley ihr erzählte, er war verheiratet und hatte ein Kind und wohl bald noch ein zweites – sie konnte, sie durfte sich ihrem Gefühl der Sehnsucht nach Nähe zu ihm, zu ihrem »Elfen«, wie sie ihn für sich selbst nannte, nicht hingeben. Aber es war inzwischen längst so weit, dass sie sich ein Leben ohne diese Besuche, diese Gespräche, dieses Beisammensein nicht mehr vorstellen mochte. Mit Befremden sah sie, dass es Fanny und Jane ähnlich erging. Auch sie stellten ihre innere Uhr nach der Stunde des möglichen Erscheinens von Percy Bysshe Shelley. Und wenn er kam, scherzte er mit Fanny oder ging mit Jane aus dem Haus, um Pilze zu sammeln oder Bier zu holen, oder er lockte Willy in den Garten, um mit ihm pyrotechnische Experimente zu machen. Mary zweifelte manchmal daran, dass wirklich sie es war, der seine intensivste Aufmerksamkeit galt. Aber wenn sie ihm beim Abschied Ort und Zeit eines möglichen Treffens zuflüsterte, etwa morgen Nachmittag im Studierzimmer, während Mrs Godwin mit Fanny auf dem Wochenmarkt einkaufte, dann war sein Blick so leuchtend und voller Andacht, dass sie ihre Zweifel vergaß.

Das Studierzimmer der Mädchen lag im Obergeschoss; Shelley sprang die Stufen hinauf, klopfte an und trat ein. Er blieb stehen, um sich an dem Anblick zu freuen: Mary stand am Bücherbord und schob die lateinische Grammatik hinein.

»Milton«, rief Shelley, »lass alle anderen Bücher liegen und lies immer nur Milton!«

Mary suchte kurz und zog Das verlorene Paradies aus dem Regal. Sie zeigte Shelley ihre Anstreichungen und deklamierte: »Lieber in der Hölle herrschen, als im Himmel dienen.«

»Was für eine Wucht hat dieses Gedicht!«, rief Shelley. »Wenn man es gelesen und wieder gelesen hat, begreift man das Gebot der Stunde: Widerrede leisten, in Zweifel ziehen, zum Aufstand blasen! Mein allerschönstes Mädchen, wie glücklich bin ich, dass du das verstehst. Satan hat den Schöpfergott herausgefordert, er ist der gefallene Engel und der wahre Engel. Er ist unser aller Vorfahr.«