Die Kunst der Gotik

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Bereits in den Kathedralen von Soissons (1192–1212), Laon (1160–1210) und Notre-Dame, Paris versuchte man Pflanzendarstellungen möglichst naturalistisch in den Kapitellen darzustellen. Einen Höhepunkt dieser naturalistischen Darstellung von Blättern und Knospen in der Bauplastik des 13. Jahrhunderts bildet der Kapitellschmuck der Reimser Kathedrale. Hier lassen sich zumindest 30 verschiedene Pflanzen- und Blumenarten erkennen. Sie sind nicht allein als dekoratives Beiwerk zu verstehen. Die Pflanzen haben symbolischen Charakter, und sie können als Sinnbilder für Maria, Christus, Heilige und Märtyrer stehen. Die Darstellungen im Baudekor der Kathedralen des 13. Jahrhunderts sind Kennzeichen einer neuen Art der Naturbeobachtung; Einfluss gebend dafür waren die Schriften der Scholastiker, besonders von Magnus (De vegetabilibus libri septem) und Thomas von Aquin (De ente et essentia). Anderer­seits geht es auch um einen sinnlichen Aspekt: Der mittelalterliche Kirchenraum wurde so inszeniert, dass alle Sinne des Menschen angesprochen waren. Lichtstimmungen, Geräusche und Klänge, das Berühren und Kosten der Hostie, aber auch der Duft der Kerzen, des Weihrauches und der Blumenschmuck trugen dazu bei. Die Auswahl der dargestellten Pflanzen und Blumen entspricht der örtlichen Botanik; sie sind Teil und Zeichen einer Kulturlandschaft und somit einer gebändigten Wildnis.

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Abb 8 Reims, Kathedrale, Grundriss

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Reims gehört als Krönungskirche der französischen Könige zu den bedeutendsten Kathedralen, was sich offenbar auch auf die formale Gestaltung und die Anbringung des ikonografischen Programms auf die Portale im Westen, an der nördlichen sowie an der südlichen Querhausfassade auswirkte, deren Entstehungszeit zwischen 1252 und 1275 anzusetzen ist. Das südliche Querhausportal war der direkte Zugang vom Bischofspalais zur Vierung bzw. zum Presbyterium der Kirche; dieser Zugang war für den Erzbischof bestimmt – in der Art eines Privatzugangs – und war weniger aufwendig ausgestaltet.

Die Portalanlage am nördlichen Querschiff grenzt an den Bereich des Domkapitels, ist nicht öffentlich zugänglich, aber trotzdem prächtig geschmückt. Das östlichste Portal zeigt das Weltgericht mit Christus am Trumeau und an den Portalgewänden die Apostel. Der mittlere Eingang schildert im Bogenfeld lokalgeschichtliche Legenden der beiden heiligen Reimser Bischöfe Nikasius und Remigius, gerahmt von Kirchengelehrten und Bischöfen. An den Gewänden sind abermals die beiden Bischöfe angebracht und in deren Mitte – am Trumeaupfeiler – ist ein hl. Papst dargestellt. Hier könnte es sich um den hl. Sixtus, den legendären ersten Bischof von Reims, oder den hl. Calixtus, dessen Reliquien in der Kathedrale aufbewahrt sind, handeln. Die Wahl der Themen ist äußerst ungewöhnlich und steht im Zusammenhang mit der Funktion der Kathedrale von Reims als Krönungskirche. Mit dem Bezug der beiden heiligen Reimser Bischöfe –Remigius als Bekehrer des Heidenkönigs Chlodwig und Nikasius als Märtyrer, der in der Reimser Kirche von den Barbaren enthauptet wurde – auf die Apostel und das Papsttum soll die Bedeutung und das Recht des Reimser Bischofs demonstriert werden, die Krönung der französischen Könige zu vollziehen. Das Krönungszeremoniell ist auch so angelegt, dass der zu krönende König die Kirche durch diesen nördlichen Eingang betrat, während der Erzbischof vom Süden in die Kirche gelangte. Das südliche, wesentlich kleinere Portal fällt aus dem architektonischen Gesamtkonzept. Es ist mit der thronenden Muttergottes geschmückt; dieses Bildwerk dürfte noch vom Vorgängerbau stammen.

Vermutlich wurde die nördliche Querhausportalanlage bereits für die Krönungen König Ludwigs VIII. (1223) und / oder König Ludwigs IX (1226) errichtet. Charakteristisch für die Figuren ist deren stilistische Wiedergabe der Gewänder, die sich mit den stark durchgebildeten, gemuldeten Falten stark an antiken Vorbildern orientiert (Muldenfaltenstil).

Am aufwendigsten ist jedoch der Skulpturenschmuck, aber auch die formale Gestaltung der westlichen drei Portale. Dort ist das Figurenprogramm auch auf die Innenseite der Anlage ausgedehnt. (Abb 9) Nach dem Krönungsakt verließ der gekrönte König die Kathedrale durch das westliche Portal und begegnete dort den dargestellten Heiligen und Märtyrern, ja wurde von ihnen geleitet. Die zahlreichen Register der Wand gliedern sich in dreipassförmig bekrönte Nischen, in welche jeweils eine Figur integriert ist. Diese Gestalten kommunizieren, teils auch über die Trennwände hinweg, miteinander, wodurch die gesamte Wand einen äußerst lebendigen Eindruck vermittelt. Die Konzeption der Westportalanlage dürfte nach 1252 und bis ca. 1275 erfolgt sein, nachdem Häuser in dem Bereich der zu errichtenden Westfassade demoliert worden waren. Der Stilbefund ist allerdings heterogen, sodass anzunehmen ist, dass bereits ältere Skulpturen in das aufwendige Portalensemble integriert wurden. Wie bereits erwähnt, wurden anstatt der Tympana Maßwerkfenster angebracht. Die an dieser Stelle bisher üblichen Themen (links Kreuzigung, Mitte Marienkrönung, rechts Weltgericht) wurden in die Giebelfelder der Wimperge verlegt. Die drei Eingänge des Westens sind wie zu einem Triumphbogen zusammengefügt.

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Abb 9 Reims, Kathedrale, Blick auf die innere Westwand

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Abb 10 Reims, Kathedrale, mittleres Westportal, rechtes Gewände, Verkündigung an Maria und Heimsuchung

Große kunsthistorische Bedeutung erlangten die Gewändefiguren des mittleren Westportals mit der Darbringung im Tempel links und der Verkündigung an Maria und der Heimsuchung (Visitatio) rechts. (Abb 10) Die innerhalb des Ensembles auftretenden stilistischen Unterschiede lassen sich auf ein Nebeneinander verschiedener Meister zurückführen: So wenden sich Maria und Elisabeth der Heimsuchungsgruppe einander zu. Die Gewänder legen sich in tief gemuldeten, harmonisch gerundeten Falten (Muldenfaltenstil) um ihre Körper und weisen damit auf antike Vorbilder. Im starken Kontrast dazu stehen die Maria der Verkündigung und der hl. Simon aus der Darbringungsszene am linken Gewände. Sie sind weniger beweglich; es wird das Vertikale betont. Der Stil wird abgeleitet von Vorbildern aus Amiens. Einem anderen Bildhauer, dem sogenannten „Josephsmeister“, werden der Joseph der Darbringung und die neben Simon stehende weibliche Figur zugeschrieben. Dazu gehört auch der Engel der Verkündigungsszene. Der Stil des „Josephsmeisters“ ist am fortschrittlichsten und für die weitere Entwicklung besonders wichtig. Zu den Neuerungen des „Josephsmeisters“ gehören die figürlichen Proportionen, wie sie an der Physiognomie des „Reimser Joseph“ ablesbar sind (kleiner, spitz zulaufender Kopf mit sehr schlankem, stark bewegtem Körper). Die Figur sieht augenzwinkernd und verschmitzt lächelnd auf den Betrachter herab und vermittelt dadurch psychische Präsenz. Das Gewand verselbstständigt sich gegenüber dem Körper, bietet die Möglichkeit reicher Faltenkonfigurationen und betont damit seine Plastizität.

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Nach einem Brand entschloss man sich 1220, auch in Amiens die Kathedrale neu zu errichten. Man begann den Neubau im Westen vor der alten Kirche. Der erste Baumeister, der namentlich bekannt ist, ist Robert de Luzarches; 1230/35 wird er von Thomas de Cormont abgelöst. 1233 wurde die Querhauskapelle am südlichen Seitenschiff gestiftet. 1241, als die alte Kirche St. Firmin weggerissen wurde, standen große Teile des Langhauses und das südliche Querhaus, wahrscheinlich alles noch ohne Einwölbung. Der Chor war bis auf den Kapellenkranz im Bau begriffen. Der Weiterbau des Querhauses wurde durch den Abbruch der alten Kirche ermöglicht; 1247 ist ein Begräbnis im nördlichen Querhaus belegt, und 1279 wurden die neuen Schreine der Heiligen Firmin und Ulphe in den Chor übertragen. 1288 wurde das heute in Kopie erhaltene Labyrinth mit den Baumeisternamen im Boden des westlichen Mittelschiffs angelegt.

Die Kathedrale wurde relativ rasch bis 1288 fertiggestellt. Trotz einiger Unterschiede in der Bauausführung, genauer gesagt im Dekor von Langhaus und Chor, kann von einer einheit­lichen, stringenten Planung ausgegangen werden, die auf Robert de Luzarches zurückzuführen ist. Er orientierte sich in der Grundrisslösung an Chartres – das Langhaus und das Querhaus sind dreischiffig, der Chor besteht aus fünf Schiffen, die einzelnen Joche sind viergeteilt – und in der Anordnung von Vierung, Umgang und Kapellenkranz an Reims, wobei die an den Chor anschließende Scheitelkapelle prominent hervorgehoben wurde. (Abb 11, Abb 8 und Abb 5) Die Bauausführung besticht durch hohe Rationalität und technische Innovation. Dies betrifft die Steinbearbeitung mit vereinfachtem Steinschnitt und die wirtschaftliche Organisation der Arbeitsprozesse. Von der Bauforschung wurde die Möglichkeit erwogen, dass diesem Baukonzept bereits maßstäbliche Pläne zugrunde lagen, die die einheitliche Bauausführung ermöglichten.

 

Die Kathedrale von Amiens ist noch größer als die von Chartres oder Reims und besticht durch eine schlanke Stützkonstruktion. Die Pfeiler im Langhaus sind extrem dünn und gewinnen dadurch optisch an Höhe. Im Unterschied zu Chartres und Reims erreichen die Arkaden die Höhe von Triforium und Lichtgaden gemeinsam. Das bewirkt, dass die Hochschiffwände von der Sichtachse der Kirchenbesucher – also vom Betrachterstandpunkt – weiter weg gerückt werden. Zudem sind sie von einer kräftigen, naturalistischen Blattwerkgirlande abgetrennt, die das gesamte Schiff umläuft. Sie erinnert an den jährlichen Brauch am Fest des Kirchenpatrons des hl. Firmins, die Kirche innen und außen mit Blumen und Laubwerk zu dekorieren. Man bezog sich dabei auf eine Legende, wonach Firmin mitten im Winter die Bäume zum Blühen gebracht habe. Blütenpracht und Blumenduft zielen auch hier auf eine symbolisch-sinnliche Wahrnehmung ab, beziehen aber auch das örtliche Brauchtum des Umlandes in den Kirchenraum mit ein.

Die Westfassade hat drei tiefe Trichterportale mit Figurenschmuck von gewaltigen Dimensionen. Besonders das mittlere Portal mit der Darstellung Christi „Beau Dieu“ am Trumeau erscheint deutlich monumentalisiert und gibt einen Höhenzug vor. Der Formenreichtum steigert sich von unten nach oben. Auf der Höhe des Betrachters – in der Sockelzone – wurden Flachreliefs u. a. mit Monatsdarstellungen und Tierkreiszeichen in Vierpässen angebracht. Danach folgt die Zone der Gewändefiguren, die zudem auch auf die Strebepfeiler ausgeweitet werden. Personen und Szenen des Heilsgeschehens spannen sich darüber und scheinen noch weiter entrückt. Sie zwingen den Betrachter gewissermaßen in eine Froschperspektive, die er auch – wie erwähnt – im Inneren der Architektur einnimmt.

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Abb 11 Amiens, Kathedrale, Grundriss

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Abb 12 Amiens, Kathedrale, Portal des Südquerhaus, Vierge Dorée

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Kunsthistorisch besonders bedeutend ist die Ausstattung des Portals des Südquerhauses um 1235/40. (Abb 12) Das Tympanon zeigt Szenen aus dem Leben des Amienser Bischofs Honoratius. Bedeutender jedoch ist die „Vierge Dorée“ („Vergoldete Jungfrau“) am Trumeau. Der Name bezieht sich auf die angeblich bis ins 18. Jahrhundert sichtbare Vergoldung der Madonna. Die Figur ist kleiner als die Gewändefiguren und steht auf einem hohen Sockel unter einem bekrönenden Baldachin; Schulter und Kopf überschneiden den Architrav des Portals. Das Gewand der Figur ist bewusst asymmetrisch gestaltet und dürfte in dieser Form den Blick des Betrachters auf das Kind gelenkt haben. Die Schräge der Zugfalten links dient als Hinweis auf das Kind, das am oberen Ende dieses Draperiebausches zu thronen scheint; es sitzt auf dem Unterarm der Madonna und korrespondiert mit ihr durch die gemeinsame Hinwendung. Die formale Gestaltung der Figuren (Kopf und Oberkörper der Gottesmutter sind zurückgenommen und gedreht) und der Blickkontakt sowie das Lächeln der Madonna vermitteln der Betrachterin und dem Betrachter eine persönliche, emotionale Beziehung.

3.3 Effizienz und Bautechnik

Frankreich errang im Hochmittelalter eine führende Rolle in der Entwicklung neuer Technologien. Dies betraf den Mühlen- und Wasserbau ebenso wie den Maschinenbau (Hebelwerkzeuge und Winden) und die Bauchtechnik (Baukran, Laufrad).Wilhelm von Sens (gest. 1180), Steinmetz und Baumeister, verwendete beim Bau der Kathedrale von Canterbury Winden und Hebelwerkzeuge, die er zuvor in Frankreich kennengelernt hatte und die von den Zeitgenossen als valde ingenioso beschrieben wurden. Mit dem französischen Kathedralbau setzten einschneidende Veränderungen in Bautechnik und -betrieb ein, die sukzessive weiterentwickelt wurden.

Hauptkennzeichen des vorromanischen und romanischen Mauermassebaues ist die Betonung der Mauer und der Horizontalen. Das Wölbesystem, wenn überhaupt vorhanden, hat eine geringere Bedeutung. Hier treten Druckkräfte außer bei dem Bogen (Kreuzgewölbe mit breiten Bandrippen in Nebenräumen) kaum auf. Fundamenttiefen oder -breiten wurden noch nicht konstruktiv bemessen, sondern es wurde auf Sicht gebaut. Beim Mauermasse- bzw. Quader­bau wurde Lehm, Kalk und Mörtel als Bindemittel verwendet. Die Verwendung von Fundamentvorsprüngen zur besseren Lastenverteilung und zum Abfangen des Gewölbedrucks, die Konstruktionen von Rippengewölben sowie die Verwendung von Spitzbögen sind Erfindungen, die der gotischen Skelettbauweise vorangehen.

Die gotischen Baukonstruktionen beruhten dabei allein auf Erfahrungswerten und nicht auf statischen Berechnungen; diese sind erst in der Neuzeit wesentlich. Von Bedeutung war eine intensive Materialkenntnis über die zur Auswahl stehenden Bäume für die Holzkonstruktionen (Baugerüste, Dachstuhl) sowie über die Qualität der Steine im Steinbruch. Mit dem durchgehenden Einsatz eines Wölbungssystems in allen Raumkompartimenten eines Sakralbaues veränderten sich jedoch die bautechnischen Herausforderungen. Die bislang gewohnte Bauweise änderte sich, indem fortan eine Planung der eigentlichen Bauausführung voranging. Diese Planungsprozesse zielten auf eine Rationalisierung des Bauvorganges ab. Damit einhergehend war eine serielle Vorfertigung der benötigten Bauteile (Steinquader, Profilstücke, Rippenstücke usw.) – auch im Winter in beheizbaren Werkstätten – möglich, die dann – in der

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warmen Jahreszeit – versetzt werden konnten. Eine witterungsunabhängige Organisation der Bauausführungen erhöhte die Effizienz und verringerte die Bauzeiten.

Die Organisation des Bauablaufes, die Koordination der Bauleute und Arbeiter, aber auch handwerkliche Tätigkeiten wurden in einem Werkstattgebäude (Bauhütte) durchgeführt, das direkt neben der Baustelle errichtet war. Die Bauarbeiter und Handwerker arbeiteten unter der Leitung eines Baumeisters. Die Baumeister waren die kreativen Köpfe der Großbaustellen und für Planung und Durchführung des Bauprojektes verantwortlich; es handelte sich bei ihnen um Maurer- oder Steinmetzmeister, die im Laufe ihres beruflichen Werdegangs auf Wanderschaft an zahlreichen Großbaustellen Erfahrungen sammelten und Kenntnisse erwarben.

Die unterschiedlichen Bautechniken waren von Generation zu Generation überliefertes Handwerkswissen. Aber auch durch ständige Wanderschaft und Reisen der Baukünstler und Steinmetze konnten Erfahrungen an anderen großen Baustellen gemacht werden. Generell war die Mobilität mittelalterlicher Baukünstler, Werkmeister und Baumeister sehr hoch. Wettbewerbe wurden ausgeschrieben, um die besten Architekten engagieren zu können. Baumeister wurden von anderen Baustellen abgeworben, und je nach Auftragslage reisten Fachleute quer durch Europa, um an den Großbaustellen mitzuarbeiten. Dies betraf fast alle Baukünstler, die an einer Kirchengroßbaustelle tätig waren: Steinmetze, Glasmacher, Bildhauer, Maler usw.

Notizen, Entwürfe und Zeichnungen wurden in Skizzen- bzw. Musterbüchern festgehalten. Eines der bekanntesten bzw. das früheste erhaltene Skizzenbuch ist das des Villard de ­Honnecourt (Paris, Bibl. Nat. ms.fr.19093), das zwischen 1220 und 1240 entstanden sein dürfte und das heute in 33 Blättern vorliegt. Es zeigt eine beachtliche Bandbreite gesammelten Wissens zur Baukunst und zu technischen Innovationen, Figurenstudien, Tierdarstellungen, ebenso aber auch liturgische Geräte. Villard war vermutlich als Werkmeister (­artifex) tätig und fertigte seine Zeichnungen auf Reisen u. a. nach Cambrai, Meaux, ­Vaucelles, Reims, Laon, Chartres, Lausanne und Ungarn an und stellte diese nachträglich zu einem livre zusammen, das so weit wie möglich thematisch geordnet und teilweise von Villard selbst mit erklärenden Texten beschriftet worden war. Aus dem 15. Jahrhundert sind die Werkmeisterbücher der Baumeister Matthäus Roriczer (1486), Hanns Schmuttermayer (1485) und Lorenz ­Lechler (1516) bekannt.

Für die Planung und Bauausführung wichtig wurden nun auch maßstäblich genaue Bau- und Nivellierungspläne, an die sich die ausführenden Bauleute bei der Errichtung der Fundamente und Gewölbeträger orientierten. Diese maßstäblich genauen Pläne (Aufrisse, Grundrisse) wurden von dem eine Bauhütte leitenden Baumeister konstruiert. Als Vorstufe ihrer Erstellung dienten zunächst einfache Handzeichnungen für konstruktive Überlegungen oder Skizzen bestimmter Bauglieder und deren Überarbeitungen für die Gestaltfindung von Detailformen. Diese waren für den internen Gebrauch bestimmt. Daraus folgten Gesamtdarstellungen durch Grund- und Aufriss ganzer Bauabschnitte oder bestimmter Einzelheiten für die Vorlage beim Bauherrn, der seine Änderungswünsche durchaus auch mitteilte. Diese aufwendigen, großformatigen Repräsentationszeichnungen sollten die hervorragende Qualität des geplanten Baues sowie die besonderen Fähigkeiten seines Entwerfers hervorheben. Sie waren vor allem für die Vorlage bei den Auftraggebern bestimmt und sollten die Genehmigung zur Ausführung des Baues bewirken. Hatten doch diese die erforderlichen Geldmittel aufzubringen, die vielfach aus frommen Stiftungen stammten. Im Laufe des Genehmigungsprozesses konnten auch Varianten erforderlich

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werden, da der Baumeister oft einer Gruppe von Entscheidungsträgern gegenüberstand, die manchmal unterschiedliche Auffassungen vom Auftrag hatten.

Ab dem 13. Jahrhundert häuft sich der erhaltene Bestand an Bauskizzen und Planmaterial. Planrisse, auf mehreren Pergamentblättern gezeichnet, waren sehr klar lesbar und hatten eine gewisse Maßstäblichkeit, die auf dem Duodezimalsystem beruhte. Das Maßsystem ging von der Körpererfahrung aus, das Grundmaß war der Fuß, der etwa zwölf Daumenbreiten (= Zoll) entsprach; d. h., 1 Fuß sind 12 Zoll. Von der Straßburger Münsterfassade haben sich einige große Risse und Vorentwürfe erhalten, zum Beispiel der um 1260/70 entstandene älteste Straßburger Riss A für einen Teilaufriss des Münsters oder der Riss B um 1275 und Riss D um 1277/80. Eindrucksvoll ist der große, um 1285 entstandene Riss F für die Fassade des Kölner Doms. Auf dieser Grundlage konnte der Dom nach 400-jähriger Bauunterbrechung im 19. Jahrhundert fertiggestellt werden.

Als Grundlage der geometrischen, zeichnerischen Ausführung dienten einfache Figuren wie Kreis, Quadrat oder Dreieck. Besondere Bedeutung kam der seit der Antike bekannten Konstruktionsweise der „Quadratur“ oder „Triangulatur“ für die Proportionsfindung zu. Damit bezeichnet man jenes zeichnerische Verfahren, in dem einem Quadrat oder einem gleichseitigen Dreieck eine entsprechende Figur diagonal einbeschrieben ist, also jeweils mit entsprechend kleineren Seitenlängen. Wichtigstes Prinzip war es, aus den Vielecken das richtige Maß und die Proportionen von Längen, Breiten und Höhen zu finden. Die Konstruktionen wurden mittels Zirkel und Winkel zunächst am Pergament mit dünnen Einkerbungen (Blindrillen) vorkon­struiert und dann mit Tinte ausgezogen.

Neben diesen großformatigen Repräsentationszeichnungen, die als Vorlage beim Auftraggeber und Bauherrn dienten, gab es Zeichnungen, in denen diese „Masterpieces“ für die Handwerker sozusagen übersetzt wurden. Der Parlier zeichnete davon die entsprechenden Baudetails heraus, wie z. B. Rippenprofile. Diese im Maßstab 1:1 angefertigten „Schablonen“ halfen dem Steinmetz, sein Werkstück zu bearbeiten, das der Versetzer dann an entsprechender Stelle im Bau einfügte.


Abb 13 Schablonenzeichnung für Dienstvorlage, Adlertorvorhalle, St. Stephan in Wien, 1467–1476, ­Kupferstichkabinett der Akademie der Bildenden Künste in Wien, HZ 16.854v

 

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Im Kupferstichkabinett der Akademie der Bildenden Künste in Wien, das eine der größten Planrisssammlungen des europäischen Mittelalters beherbergt, findet sich eine Beispiel für eine 1:1-Schablone eines Rippenprofils für die Adlervorhalle der Wiener Stephanskirche. Oft stellte man diese Schablonen in Holz her bzw. übertrug sie in sogenannte Reißböden. (Abb 13) Dabei wurden Mörtel bzw. Gipsflächen am Boden aufgetragen und die Form eingeritzt. Erhalten sind derartige Reißböden in Narbonne, Clermont-Ferrand oder in York.

Bevor man zu dieser Detailarbeit kommen konnte, waren umfangreiche Vorbereitungen notwendig; denn neben dem Entwurf und der Zeichnung waren vor allem das Baugelände und seine Beschaffenheit von Bedeutung. Ganz besonders aber musste man die Auswahl und die Beschaffung sowie den Transport des geeigneten Steinmaterials bedenken. Der Transport war grundsätzlich sehr teuer, deshalb entschied man sich, Steinbrüche in der Nähe zu wählen. Ebenso benötigte man Eisen für die Verankerung (Dübel, Ketten und Eisenstangen). Entsprechend arbeiteten neben dem Baumeister auf der Baustelle der Parlier, Steinmetze, Schmiede, Glaser, Versetzer sowie zahlreiche Hilfskräfte. Diese Großbaustellen stellten einen wichtigen wirtschaftlichen Faktor für die Stadt dar, waren doch zahlreiche Menschen unterschiedlicher Berufszweige aus vielen Ländern an der Errichtung der Bauwerke beteiligt (Unterkünfte, Versorgung). Sie sicherten auch die irdische Existenz der Arbeiter, Kaufleute, Händler usw.

Aber genauso wichtig war die Sicherung des eigenen Seelenheils. Das gemeinsam errichtete gottgefällige (Bau)Werk war ein Mittel zur Jenseitsvorsorge. Es wurde zu Sammlungen aufgerufen; oft auch durch eine Rundreise der Reliquien. Und Sündennachlässe wurden nach entsprechender Almosenabgabe gewährt. Viele stifteten ihr gesamtes Vermögen und ihre Hinterlassenschaft dem Kirchenbau mit der Bitte, dass nach ihrem Tod an bestimmten Tagen für sie gebetet und eine Messe gelesen werden solle (Memoria). Schon in Anbetracht dessen, dass das Leben im Mittelalter sehr kurz war, konzentrierte man sich sehr auf das Jenseits und versuchte schon zu Lebzeiten, mit guten Taten, Spenden und Stiftungen für die Aufrechterhaltung seiner Memoria und für die Erlangung des Seelenheils vorzusorgen.

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