Die Kunst der Gotik

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3 Der Grundstein in Frankreich

Ende des 10. Jahrhunderts konnte Hugo Capet den französischen Thron erringen und begründete damit eine neue königliche Dynastie. Die Krondomäne – also die Hoheitsrechte, die der König direkt über Vasallen, Bauern und Bürger ausübte, Liegenschaften sowie Einkünfte – beschränkte sich zunächst noch auf das unmittelbare Umland von Paris, die Île-de-France; doch konnten seine Nachfolger, König Ludwig VI. (1108–1137) und König Ludwig VII. (1120–1180) schon bald ihre machtpolitische Stärke ausbauen. Zu einer politischen Krise kam es, als der Herzog der Normandie und Graf von Anjou, Heinrich Plantagenet (1133–1189), die geschiedene Gemahlin König Ludwigs VII., Eleonore von Aquitanien (1122–1204), heiratete. Mit der Krönung Heinrichs Plantagenet zum König von England geriet ganz Westfrankreich – also auch die Besitzungen seiner Gemahlin (Normandie, Anjou, Poitou, Aquitanien, Maine, Touraine) unter englische Herrschaft. König Philipp II. Augustus (1180–1223) erzielte große innen- und außenpolitische Erfolge, wodurch er nicht nur die kapetingische Macht konsolidieren, sondern auch die Grundlagen für den Zentralstaat legen konnte. Es gelang ihm die Rückeroberung der reichen Westprovinzen, was die Vormachtstellung Frankreichs im Westen Europas stärkte. Im eigenen Land war es ihm gelungen, eine straffe Zentralverwaltung auszubauen. Zeitgenossen beschreiben den König als klugen Militäringenieur (machinis peritissimus); er ließ sich dabei von bürgerlichen Spezialisten beraten. Dem entsprachen die Gründung einer Universität in Paris und die Errichtung zahlreicher Festungsanlagen. Letztendlich setzte um 1200 ein unglaublicher Bauboom ein. Die Entwicklung von effizienteren Baumethoden, kostengünstigeren Herstellungsprozessen, die Entstehung von Bauhütten, das Aufkommen von maßstäblichen Plänen sind Kennzeichen der Zeit um 1200. Unter König Ludwig IX., dem Heiligen (1226–1270), kam es zu einer friedlichen Außenpolitik, vor allem durch den Ausgleich mit England, und einer stabilen wirtschaftlichen Situation. Er beteiligte sich an zwei Kreuzzügen (1248, 1269), die allerdings äußerst ineffizient verliefen. Sein Handeln war zutiefst religiös motiviert. Unter ihm etablierte sich eine verfeinerte Hofkultur (Pariser Hofstil), die maßstäblich für zahlreiche Königs- und Herzogshöfe in Europa wurde.

3.1 Skelettbau und Spiritualität: Saint-Denis und Abt Suger

Die Kirche von Saint-Denis, genauer der Chorbau der Kirche, gilt allgemein als „Gründungsbau“ der gotischen Architektur. Sie ist dem hl. Dionysius, dem Schutzpatron und ersten Bischof von Paris, geweiht und war ursprünglich die Abteikirche eines Benediktinerklosters in der Stadt Saint-Denis nördlich von Paris (heute ein Pariser Außenbezirk). Sie wurde 1966 zur

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Bischofskirche des Bistums Saint-Denis erhoben und ist eigentlich erst seither rechtens eine Kathedrale (cathedra heißt Sitz). Aber bereits unter den Merowingern war sie die Grablege der Herrscher (z.B. Grab Karls des Kahlen, gest. 877, und Hugos Capet, gest. 996) und hatte aufgrund zahlreicher Reliquienschätze besondere Bedeutung unter den Karolingern. Seit 1120 war sie der Aufbewahrungsort der französischen Kroninsignien, und in der Folge wurden fast alle französischen Könige und Königinnen dort bestattet.

Unter dem bedeutenden Abt des Benediktinerklosters Suger (1081–1151) wurde die alte karolingische Kirche umgebaut bzw. renoviert. Suger wurde 1122 von der Klostergemeinschaft zum Abt gewählt. Er war einer der mächtigsten kirchlichen Würdenträger seiner Zeit und Vertrauter und Kanzler der französischen Könige Ludwig VI. und Ludwig VII. Seine außerordentlich gute Amtsführung stellte die wirtschaftliche Situation des Klosters auf eine sichere Grundlage. Aufgrund dieser Position konnte er ein ehrgeiziges und politisch bedeutsames Bauprogramm in Angriff nehmen. Um 1137 ließ er die alte Westfront erneuern, und ab 1140 wurde der Chor der Kirche errichtet. (Abb 2) Erst im 13. Jahrhundert wurde das Langhaus verändert. Das heißt, das bestehende alte – karolingische – Langhaus wurde sozusagen mit innovativen Bauteilen umschlossen. Zudem bemühte sich Suger um die Kirchenausstattung und vermehrte den Kirchenschatz.

Der Westbau wurde im 18. und 19. Jahrhundert stark beschädigt; er besaß ursprünglich eine Doppelturmfassade (die Kirche Saint-Étienne in Caen, Normandie, vermittelt einen guten Eindruck von einem solchen Bau). Der Westbau von Saint-Denis hat eine Tiefe von zwei Jochen und eine Breite von drei Jochen; er besitzt drei Portale, die den Zugang in die dreischiffige alte karolingische Kirche ermöglichen. Der Bau hat in seinen Obergeschossen, die von dicken Bündelpfeilern getragen werden, mehrere Kapellen und besitzt ein für die damalige Zeit modernes Kreuzrippengewölbe. Außen wirkt er sehr massiv: Er nimmt Elemente des Wehrhaften und Blockhaften (Zinnenkranz) auf und erinnert in dieser Form an karolingische Westwerke. Während in Saint-Étienne die Geschosse der dreigeteilten Fassade alle auf einer Höhe liegen, weisen die Seitenteile in Saint-Denis unterschiedliche Geschosshöhen auf. Die Geschosse sind in Saint-Étienne in Caen klar voneinander abgesetzt, in Saint-Denis ist die Mauermasse zugunsten großer Öffnungen reduziert.

Abt Suger ließ das Portal seiner neuen Abteikirche mit „Säulenfiguren“ der Könige, Königinnen und Propheten des Alten Testaments ausstatten. Die Figuren wurden 1771 entfernt, sind aber durch zeitgenössische Ansichten überliefert (Kupferstich nach Zeichnungen von Bertrand de Montfaucon, 1718/19). Die Darstellung der alttestamentarischen Figuren evozierte eine Verbindung zwischen den aktuellen und den biblischen Herrschern. Damit wurde das französische Königtum auf das Alte Testament zurückgeführt und folglich die Herrschaft legitimiert. Diese bildliche Demonstration hatte eine besondere politische Bedeutung und stand in Konkurrenz zum römisch-deutschen Kaiser (König), der seine Legitimation der Herrschaft auf die spätantike Kaiseridee und die Idee der Renovatio imperii, der Wiederherstellung des Römischen Reichs unter Karl dem Großen, zurückführte.

In einer zweiten Bauphase (ab 1140 bis 1144) wurde ein neues Sanktuarium errichtet.

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Abb 2 Saint-Denis, Kathedrale, Grundriss

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Abb 3 Saint-Denis, Kathedrale, Einblick in den Umgangschor

Der ursprüngliche Aufriss des Binnenchors ist nicht bekannt; vermutlich aufgrund statischer Probleme bei der Bauausführung und des raschen Bautempos mussten die Obergeschosse 1231 erneuert werden. Der erstmals doppelschiffig angelegte Umgangschor besticht durch seine außerordentliche Filigranität. (Abb 3) Die Wandfläche ist im Chorumgang kaum mehr zu sehen. Dünne Gewölbeträger (Dienste) verstellen den Blick. Die Fensteröffnungen reichen fast bis zum Boden, was zu einer unglaublichen Helligkeit des Raumes führt. Die Rippengewölbe sind über unregelmäßigen, komplizierten Grundrissformen konstruiert und scheinen fast zu schweben. Chorumgang und Kapellenkranz sind so zu einer Einheit verschmolzen und unterscheiden sich dadurch von den romanischen Kapellenkränzen, die in sich selbstständig dem Chorumgang angefügt sind.

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Hier konnte durch eine Kombination von bereits bekannten Bauelementen wie Spitzbogen (burgundischer Bereich, z.B. Cluny) und Rippengewölbe (Normandie) über unregelmäßigem Grundriss ein richtungweisendes Raumkonzept verwirklicht werden. Das Rippengewölbe selbst war bereits vor dem Chorbau von Saint-Denis im 11. Jahrhundert in Oberitalien (Como, S. Abbondio, Apsis 1095; Mailand, S. Nazaro, um 1110), in Südwestfrankreich und im anglonormannischen Raum (Bayeux, Kathedrale, Nordturm, um 1075; Durham, Kathe­drale, 1093–1133) sowie am Ober- und Niederrhein (Speyer, Dom, um 1110; Worms, Dom, um 1130/40) verwendet worden, allerdings wurden dort ausschließlich rechteckige Räume mit einem Rippen­gewölbe überspannt. Die Verwendung von Rippengewölben in Chören mit kompliziertem Grundriss (also Kapellenkranz und Umgang) und unregelmäßigen Jochen eröffnete nun ungeahnte Gestaltungsmöglichkeiten.

Immer wieder verbindet man „den Beginn der gotischen Baukunst“ in Saint-Denis mit der programmatisch-künstlerischen Umsetzung einer Metaphysik des Lichtes, also Schaffung eines betont lichtdurchfluteten Raumes (Otto von Simson). Dies beruht darauf, dass im 12. Jahrhundert die theologischen Schriften des Pseudo-Dionysius Areopagita, eines angeblich gegen Ende des 5. Jahrhunderts wirkenden anonymen Philosophen, und seine Vorstellungen von Gott „als einem unfassbaren und unerreichtem Licht“ auch von Abt Suger im 12. Jahrhundert wieder aufgegriffen wurden. Das bedeutet aber nicht, dass die rezipierten Ansichten für die in (richtungsweisenden) gotischen Baukonstruktionen errichteten Neubauten im Westen und Osten der Abteikirche Saint-Denis verantwortlich seien. In Sugers Beschreibungen zu seinem Bauprojekt (Libellus de consecratione ecclesiae Sancti Dionysii und De rebus in administra­tionem sua gestis) geht es vielmehr um ein allegorisches Verständnis der Kirche Gottes. Apostel, Maria und Christus sind die lebendigen Steine, lapides vivi, der Bau selbst wird als neuer Salomonischer Tempel beschrieben und das Licht wird als Mittel zur Gotteserkenntnis eingesetzt.

 

In zeitgenössischer Sicht hatte der Bau von Saint-Denis unter Abt Suger eine politische legitimierende Dimension mit einem elitären Entstehungskontext und dürfte wohl von dem Rezipientenkreis – also den hohen Würdenträgern – so auch verstanden worden sein: eine Neuerrichtung der fränkischen Königsgrablegen als repräsentativer Ort für die Memoria des französischen Königtums und seines Hauptheiligen Dionysius. Die neuen Bauteile der Abteikirche von Saint-Denis, die östlich und westlich an das alte (karolingische) Langhaus angebaut wurden, sind nach Abt Suger kein Bruch mit der Vergangenheit, sondern deren logische Fortsetzung. Chor und Fassade hatten zur Aufwertung des alten Langhauses beizutragen; ganz im Sinne der politischen Intention bestärkten so einander Alt und Neu.

Der innovative Chorneubau von Saint-Denis darf nicht isoliert gesehen werden. Er gehört in ein gesellschafts- und wirtschaftspolitisches Umfeld, in dem neue technische bzw. architektonische Baulösungen bereits einige Jahre zuvor erprobt, jetzt aber in besonderer Weise kombiniert und ausgeführt wurden.

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3.2 Die gotische Kathedrale und ihre Strukturelemente: Chartres, Reims, Amiens

Die in Saint-Denis angewandte Konstruktion wurde fortan in Frankreich weiterentwickelt, wobei man besonders in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts sehr viel erprobierte und variierte. In dieser „Probierphase“, in der mit unterschiedlichen bautechnischen Innovationen und auch unterschiedlichen ästhetischen Lösungen experimentiert wurde, entstanden in Frankreich so wichtige Bauten wie Saint-Étienne in Sens (1140–1168), die Kathedrale Notre-Dame in Laon (ca. 1160–1210) oder die Kathedrale von Notre-Dame in Paris (1163–1200). Man erprobte unterschiedliche Grund- und Aufrisslösungen, setzte vier- oder sechsteilige Gewölbe ein und versuchte mit unterschiedlichen Gliederungselementen die Wand mehr und mehr zurückzudrängen – also die Wandmasse zu reduzieren. Gleichzeitig wurden die Bauglieder immer schlanker, stets mit dem Ziel, höhere und weitere Räume zu schaffen.

Ausgehend von der Kathedrale von Sens (ab ca. 1140), die – auf das Querschiff verzichtend – mit einfachem Umgang in Fortsetzung der Seitenschiffe gestaltet wurde, entstanden die ursprünglich ebenso querschifflos errichtete Kathedrale Notre-Dame in Paris (ab 1163) und die Kathedrale von Bourges (ab 1195). Notre-Dame in Paris hatte aber im Gegensatz zu Sens einen doppelten Umgang und sieben apsidiale Kapellennischen. (Abb 4) Diese aufwendige Umgangshalle wurde bei der Errichtung der Kathedrale von Chartres verändert übernommen. (Abb 5) Die Lösung war, dass der Umgangschor an ein Querhaus anschloss und mit fünf Radial­kapellen versehen wurde, wie z.B. in Senlis (ab 1155), Soissons (ab 1190), Troyes (ab 1208), Reims (ab 1211) (Abb 8) usw. Und eine weitere Lösung bestand in einem Sieben-Zwölftel-Abschluss des Umgangchores, dem sieben Radialkapellen angesetzt wurden. Diesen Typus findet man bei der Zisterzienserkirche Longpont (ab 1212) und in den Kathedralen von Royaumont, Beauvais und Amiens (ab 1232) (Abb 11).

Genauso unterschiedlich gestaltete sich die Wandgliederung. In Sens entstand ein dreigeschossiger Aufriss mit Arkadenzone, Scheinempore und Obergaden. In der Kathedrale von Noyon (1185–1200), im Südquerarm der Kathedrale von Soissons (ca. 1180/90) und in der Kathedrale von Laon (ca. 1160–1210) ist der Wandaufriss viergeschossig mit Arkaden, Empore, Triforium und Lichtgaden. Uneinheitlich ist auch die Wölbung, die vier- oder sechsteilig gestaltet werden konnte. Sechsteilige Rippenwölbungen finden sich in den Kathedralen von Sens, Noyon, Laon und Notre-Dame in Paris.

Es muss hier bedacht werden, dass mehrere Generationen hindurch zwei architektonische Formensprachen nebeneinander existierten: eine, die traditionelles, romanisches Bauvoka­bular bevorzugte, und die andere, innovative Richtung, die die neuen Baukonstruktionen und Elemente der Gotik verwendete. Wohl abhängig von Auftraggeber, Funktion und Rezipientenkreis entschied man sich für die eine oder andere Variante. Gegenüber der Kathedrale Notre-Dame in Paris, die – wie bereits erwähnt – ab 1163 nach gotischen Kriterien errichtet wurde, entstand am linken Ufer der Seine zur gleichen Zeit die Kirche St. Julien le Pauvre. St. Julien gehörte einst dem Domkapitel, wurde aber dem Kloster Longpont der Zisterzienser geschenkt, die hier ein Priorat einrichteten. In den Jahren 1170 bis 1225 wurden die Gebäude erneuert; die Apsis war bereits 1175 fertiggestellt und zeigt traditionelle Formen, wie z.B. die in zwei Reihen angeordneten rundbogigen Fenster, die in die Mauer eingeschnitten sind. Im Gegensatz zu der schlichten, traditionellen Gesamterscheinung des Baues stehen aber zwei modern anmutende

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Einzelkapitelle mit figürlichem Zierwerk, die einen naturalistisch gestalteten Greifvogel sowie zierliche Köpfchen abbilden. Solche Überschneidungen der Stile finden sich immer wieder in ganz Europa.


Abb 4 Paris, Kathedrale Notre-Dame, Grundriss

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Gleichzeitig wurde also am gegenüberliegenden Seineufer an der Kathedrale Notre-Dame gebaut. (Abb 4) Hier wurde ein einheitlicher wie ungewöhnlich monumentaler Bau im neuen Stil errichtet, dessen hoher Rang als Kathedrale der königlichen Residenzstadt Paris im Baukonzept zum Ausdruck kommt. Der repräsentative Bau war so angelegt, dass er die parallel errichteten Kathedralen Sens und Laon bei Weitem übertreffen sollte. 1163 legte Papst ­Alexander III. den Grundstein, 1177 war fast die Hälfte des fünfschiffigen Kathedralbaues fertiggestellt. 1182 wurde der Hochaltar – nach Ausführung der 33 Meter hohen Gewölbe und des Chorgestühls – geweiht. 1196 war das Langhaus bis auf das westliche Joch vollendet und bis 1225 wurde die Westfassade fertiggestellt. Das fünfschiffige Langhaus verweist auf Alt St. Peter in Rom und stellt damit einen Bezug zum Papsttum her, während der doppelte Umgang Verbindungen zur radialen Umgangshalle der Kathedrale von Saint-Denis und damit zum Königtum erkennen lässt.

Allgemein fand die Phase des Probierens neuer gotischer Errungenschaften und ihrer bautechnischen Kombinationen gegen Ende des 12. Jahrhunderts ihren Abschluss. Mit den Neubauten der Kathedralen von Chartres (ab 1194), Reims (ab 1211) und Amiens (ab 1220) setzte nun eine sogenannte zweite Phase ein, die von der Forschungsliteratur (Hans Jantzen) als das Zeitalter der „klassischen Kathedralen“ bezeichnet wurde. Die Bauten sind allesamt zur Zeit König Ludwigs IX. des Heiligen entstanden. Sie bilden eine geschlossene Gruppe und entfalten jene Architekturkonzepte, die in der Folge stilprägend für den Kirchenbau des 13. Jahrhunderts waren:

• Die Grundrisse zeigen ein dreischiffiges Querschiff mit angeschlossenen Chorumgang und Kapellenkranz.

• Ab nun wurde vorwiegend eine dreiteilige Aufrissgestaltung mit Arkadenzone, Triforium und Lichtgaden eingesetzt, verbunden mit einem queroblongen, vierteiligen Rippengewölbe im Mittelschiff. Sie bilden mit den quadratischen Seitenschiffjochen einschließlich der Gewölbe, Strebebögen und Strebepfeiler eine konstruktive Einheit (Travée). Erst diese konstruktive Lösung ermöglichte zusammen mit dem Strebewerk eine weitere Vertikalisierung und eine wesentliche Vergrößerung der Fensterflächen. Die vormals oft eingesetzten Rundstützen im Erdgeschoss werden von da an als kantonierte Pfeiler ausgebildet.

• Ein weiteres Merkmal der klassischen Kathedrale ist die Doppelturmfassade mit einem aufwendigen Portalskulpturenschmuck. Die Fassaden sind zumeist dreiteilig angelegt. Die Fensterzone im Obergeschoss nimmt zumeist die Dreiteilung auf und betont die mittlere Achse durch die Fensterrose. Die Fassaden der Querschiffe werden fortan ebenfalls mit Portalanlagen versehen und reich mit Bauplastik ausgestaltet.

Mit dem Neubau der Kathedrale von Chartres erlangten die skizzierten Merkmale vorbildliche Wirkung, sowohl im Raumkonzept als auch in der Verwirklichung der Ausstattung mit den bunten, großen Glasfenstern und dem Skulpturenschmuck an den Portalfassaden im Westen, Süden und Norden.

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Abb 5 Chartres, Kathedrale, Grundriss

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Die Bischofskirche von Chartres besaß seit karolingischer Zeit eine wichtige Reliquie, nämlich das Hemd, das Maria bei der Geburt Jesu getragen haben soll. Diese so wichtige Reliquie machte Chartres zu einem bedeutenden Marienwallfahrtsort, was einen wichtigen Wirtschaftsfaktor für die Stadt darstellte, aber auch dem Bischof große Geldeinnahmen brachte. Nach einem Stadtbrand, bei dem große Teile des romanischen Baus vernichtet worden waren, entschloss man sich 1194 zu einem Neubau. Der Bischof und das Kapitel dürften hier den Großteil der Baulast getragen haben, aber es dürften auch Beiträge der Bürgerschaft erfolgt sein, wie die Bilder der Glasfenster mit Darstellungen unterschiedlicher Berufsgruppen zeigen. (Abb 7) Krypta und Portale waren unbeschädigt geblieben und man integrierte diese Bauteile in den gotischen Neubau.


Abb 6 Chartres, Kathedrale, Blick in Chor und Querschiff

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1220 war die Wölbung von Chor und Langhaus fertiggestellt, um 1260 dürfte der Bau abgeschlossen worden sein. Die Türme wurden erst im 15. Jahrhundert vollendet. Die Mittelzone besitzt ein dreigeteiltes Portal (vom Vorgängerbau, vor 1140). Darüber liegt eine zweireihige Fensterzone mit einer gigantischen Fensterrose (um 1200) im oberen Bereich. Die Geschossgliederungen der Seiten bzw. der Türme sind uneinheitlich und nehmen nicht die horizontale Gliederung des Mittelteils auf. An diesen dreischiffigen Vorbau schließt das dreischiffige Langhaus, ein mächtiges dreischiffiges Querhaus und schließlich ein fünfschiffiger Ostteil, der den Chor und einen doppelten Umgang aufnimmt. (Abb 5) An diesen Umgang hängen sich drei Chorkapellen. Die Gewölbe sind vierteilig. Der Querschnitt der Kathedrale entspricht einem basilikalen Bauschema Der innere Wandaufriss ist dreigeschossig gegliedert. (Abb 6) Das Arkadengeschoss wird jetzt massiv erhöht; ebenso das Fenstergeschoss, der Lichtgaden. Beide Geschosse besitzen annähernd die gleiche Höhe. Zwischen diese schiebt sich eine schmale Triforienzone. Die massiven Stützen (ihr Durchmesser betrug mehr als 3 Meter) variieren zwischen oktogonal und rund und sind von vier Diensten begleitet, die ebenfalls oktogonale oder runde Formen aufweisen.

 

Zur Zeit ihrer Errichtung war die Kathedrale von Chartres die größte und in ihrer Baugestaltung und ihren Bauformen die massivste und monumentalste aller gotischen Kirchen; selbst am Außenbau wirkt Chartres wie ein monumentales Denkmal, hervorgehoben durch die massiven, Stärke symbolisierenden Strebepfeiler.

Untrennbar mit der Architektur verbunden ist der figürliche Schmuck der Portalanlagen. Bereits um 1145–1155 wurden die drei Westportale der Kathedrale von Chartres mitsamt dem Skulpturenschmuck errichtet, sie blieben, wie erwähnt, vom Brand verschont und wurden 1194 in den Neubau integriert. Gleich wie bei dem Bauprojekt von Suger in Saint-Denis wurde das Alte, das Vergangene, nicht abgelehnt, weggerissen oder zerstört, sondern bewusst in die Gegenwart miteinbezogen. Auch wenn in der Gestaltung der Portalanlage steinmetztech­nische Unregel­mäßigkeiten im Versatz auftreten, handelt es sich um ein einheitliches, äußerst komplexes ikonografisches Programm, das sich über die drei Portale erstreckt. Die Gewändefiguren zeigen Könige und Propheten des Alten Testaments. In der Höhe der Kapitelle läuft ein waagrechtes Band mit zahlreichen neutestamentarischen Schilderungen (Leben Mariens, Leben Christi). Die Darstellungen beginnen in der Mitte, laufen nach rechts, setzen sich auf der linken Seite fort, um wieder in der Mitte zu enden. Darüber, in den Bogenfeldern der Portale, der Tympana, sieht man am linken, nördlichen Portal Christus in Begleitung von sechs Engeln, im mittleren Portal Christus als Weltenrichter, und das rechte, südliche Portal zeigt Christus am Schoß ­Mariens. Die ikonografische Interpretation der Skulpturen wird in der Forschung unterschiedlich diskutiert, hat aber wohl mit der christlichen Eschatologie zu tun, wobei das linke, nördliche Portal für die Vergangenheit, das rechte, südliche Portal für die Gegenwart und das mittlere Portal für die Zukunft steht. Die in den Archivolten des rechten, südlichen Portals dargestellten Allegorien der sieben freien Künste sowie klassische Schriftgelehrte (z.B. Aristoteles) bezeugen, dass wohl Gelehrte der Chartreser Domschule für dessen Konzeption verantwortlich waren.

Ob der mittelalterliche Laie, der die Kirche besuchte, das vielschichtige Programm auch lesen konnte, bleibt fraglich. Doch ist generell zu sagen, dass Gerichtsverhandlungen im Früh- und Hochmittelalter vor Kirchenportalen stattgefunden haben. Erst später gab es dafür in den

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Städten eigene Gebäude. Jedenfalls dürfte sich der mittelalterliche Laie von Christus als Richter angesprochen gefühlt haben, dessen tief eingemeißelte Gesichtszüge freudig strahlen und dessen Blick auf dem das Tor durchschreitenden Betrachter bzw. dem darunter tagenden Gericht ruht. Mit dieser physiognomischen Änderung unterscheidet sich die Chartreser Skulptur am auffallendsten von ihren romanischen Vorgängern, die das Bildmotiv des Weltenrichters an den Eingangsportalen ebenfalls kannten (z.B. Moissac, ehem. Abteikirche Südportal, 1120–1135).

Dazu kommt, dass jetzt der Körper Christi organischer durchgebildet ist; die Rundungen von Knien und Schultern werden sichtbar. Stilistisch bedeutend sind auch die Gewände­figuren des Westportals in Chartres, die gemeinsam mit den Säulen aus einem Block gehauen sind. Sie besitzen eine zylindrische Gestalt sowie eine geschlossene Kontur. Die Säulenhaftigkeit wird durch die Gewandgestaltung zusätzlich unterstrichen; die linearen Falten vermitteln den Eindruck, mit einem Kamm gezogen zu sein („Chartreser Feinfaltenstil“). Bei den weiblichen Figuren lassen sich Details aus der zeitgenössischen Mode feststellen, wie enge, in Fältelungen auslaufende Oberteile, ein aus dem Ausschnitt weich hervorblinkendes Untergewand oder lange, weite Ärmel und Schmuckborten. Die genaue Darstellung schmückender Einzelheiten (z.B. Gürtel mit Perlen) dokumentiert zudem den fortschreitenden erzählerischen Reichtum.

Nicht restlos geklärt ist die Frage, wann in Chartres der Plan entstand, sowohl die Südquerhaus- als auch die Nordquerhausfassade mit dreiteiligen Portalanlagen zu versehen. Im Jahr 1204, als Chartres das Haupt der hl. Anna geschenkt wurde, dürfte mit der Planung bzw. Errichtung der Portale am nördlichen Querschiff begonnen worden sein. Der Mittelpfeiler, der sogenannte Trumeau des mittleren Portals am Nordquerhaus, wurde mit einer Figur der hl. Anna geschmückt und weist damit auf den Besitz der bedeutenden Reliquie hin. Die Trumeaufiguren sind eine Neuerung der Gotik; in romanischer Zeit war dieser Mittelpfeiler hauptsächlich ornamental geschmückt. Das mittlere Portal der Südquerhausfassade, das einige Jahre nach dem Nordportal entstand, besitzt einen derart geschmückten Trumeaupfeiler. Analog zur Figur der hl. Anna am Nordportal bildet im Süden der „Christus super aspidem“ die Trumeaufigur. Das heißt, Christus ist als Triumphator über das Böse dargestellt und steht segnend auf den Untieren. Ähnlich wie bei der hl. Anna fehlt auch Christus weitgehend die Körperlichkeit. Sogar seine erhobene Rechte ist so angeordnet, dass sie hauptsächlich die Vertikale des gesamten Portals unterstreicht. Auch hier ist ein klares vertikales und gleichzeitig auf die Mittelachse hin angelegtes, auf die Trumeau-Figur bezogenes Schema feststellbar.

Parallel zum Baufortgang entstand die Ausstattung im Kircheninneren, wobei den Glasfenstern eine besondere Bedeutung zukam. Durch die neue Bautechnik war es möglich, die Wandflächen immer mehr zu reduzieren. Die großen Fensteröffnungen boten nun Platz für figürliche Szenen und übergreifende Rahmenwerke. Die Buntglastechnik war dabei grundsätzlich keine Neuerfindung der Gotik; sie erhielt jedoch jetzt einen großen Aufschwung. Bis gegen Mitte des 12. Jahrhundert hatte der Glasmaler kaum Möglichkeit für die künstlerische Gestaltung eines Fensterbildes. Die Glasfenster kamen mit wenigen Figuren und Einzelszenen aus. In der romanischen Kirche hebt sich das Licht stark von der schweren, düsteren Mauer ab. Die gotische Wand scheint dagegen durchlässig zu sein. Die farbigen Glasfenster wirken wie leuchtende Wände, womit ein neuer Raumeindruck, geprägt von einer besonderen Lichtstimmung, entsteht.

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Abb 7 Chartres, Kathedrale, Glasfenster mit unterschiedlichen Berufsgruppen in der nordwestlichen ­Chorkranzkapelle, Detail

In der Kathedrale von Chartres waren sowohl Mittelschiff als auch die breiten Querschiff-Fassaden von großen Lanzettfenstern und darüber liegenden Rundfenstern durchbrochen, die farbiges Licht im Raum erzeugten. Die Glasmalereien in Chartres bestechen durch dunkle, kräftige Farbtöne, wie dunkles Rot oder Saphirblau, die wie leuchtende Edelsteine wirken. Die zahlreichen figürlichen Szenen konzentrieren sich nicht nur auf Darstellungen der unterschiedlichen Heiligenviten. Die Dynastie der Kapetinger ließ ihre Genealogie in den Glasfenstern ebenso abbilden wie der niedrige Adel des Umlandes. Man findet aber auch, wie bereits erwähnt, Darstellungen der unterschiedlichen Berufsgruppen (Bäcker, Schuhmacher) und Handwerker (Steinmetz, Steinbrecher, Bildhauer), die jeweils für den Bau der Kathedrale gespendet und gearbeitet haben. (Abb 7) Offensichtlich stifteten alle sozialen Schichten vom hohen Adel bis zu den in Zünften organisierten Handwerkern, was auf ein gewisses gesteigertes gesellschaftliches Ansehen der Fachleute und Spezialisten hindeutet. Die Präsenz der Stifter im Kirchenraum und deren Einbindung in das tägliche Gebet durch die Kleriker, also die Aufrechterhaltung der ­Memoria, dürften wohl motivierend für das ikonografische Programm der Glasbilder gewesen sein.

Mit dem Neubau der Kathedrale von Reims wurde der imposante Kathedralbau von ­Chartres wieder vonseiten des Königtums übertrumpft: Die Kathedrale war seit jeher die Krönungs­kirche der französischen Könige. (Abb 8)

Nach einem Brand im Jahr 1210 begann man ab 1211 unter der Leitung des Baumeisters Jean d’Orbais (1175–1231) mit dem Neubau. Sein Name ist durch Inschriften bezeugt, die in Form eines Labyrinths in den Westjochen der Kirche angebracht waren, allerdings im 18. Jahrhundert entfernt wurden. 1221 war der Chorumgang fertiggestellt, 1241 schließlich Chor, Querhaus und die vier östlichen Langhausjoche. Bis ins 14. Jahrhundert zog sich der Ausbau des Langhauses.

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Während der Bauarbeiten fanden 1223 bzw. 1226 die Krönungen von König Ludwig VIII. und König Ludwig IX., dem Heiligen, in dem noch nicht vollendeten Chor statt. Und dieser musste für dieses wichtige politische Zeremoniell, das ja auch eine höchst bedeutende liturgische Handlung war, entsprechend adaptiert werden.

Die Struktur der Reimser Fassade wirkt weitaus plastischer als etwa die der Kathedrale von Laon (1160–1210). Wie in Laon, so wurde auch hier die Portalzone trichterartig vorgezogen und mit monumentalen Skulpturen geschmückt. Diese finden sich an der gesamten unteren Zone, aber auch an den Strebepfeilern. Statt der sonst üblichen (figürlich geschmückten) Tympana im Portal gibt es hier nun Maßwerkfenster. Mittels Wimpergen und Fialen versuchte man weiters die Geschosse zu überspielen bzw. zu verbinden.

Der Bau hat ein dreischiffiges Langhaus, an das ein dreischiffiges Querhaus und die Choranlage anschließen. Die Gewölbe sind vierteilig. Der Aufriss des Langhauses ist dreigeschossig und gliedert sich in Arkaden mit kantonierten Pfeilern. Darüber setzen das Triforium und die Fensterzone an. Im Gegensatz zu Chartres, wo Rund- und Polygonalpfeiler alternierend vorkommen, wurden in der Reimser Arkadenzone ausschließlich runde Pfeilerkerne mit Diensten umstellt. Gegenüber Chartres haben sich nun die Proportionen des Wandaufrisses verändert: Die Arkaden sind höher und entsprechen bereits der Höhe der beiden oberen Geschosse (­Triforium und Fensterzone) zusammen – eine Tendenz, die bei der Kathedrale von Amiens nochmals eine Steigerung erfahren wird. Von besonderer Bedeutung ist die Fensterlösung der Kathedrale von Reims, denn hier wurde das erste Mal ein Maßwerkfenster verwendet: In Chartres wurden zwei Lanzettfenster und eine bekrönende Rose noch einzeln in die glatte Wand eingeschnitten. In Reims hingegen hat man diese Elemente zu einer Einheit verbunden. Das Fenster nimmt die Jochbreite jetzt vollständig ein, gegliedert durch Maßwerk und Dienstbündel.