Die Kunst der Gotik

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Die Kunst der Gotik
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Barbara Schedl

Die Kunst der Gotik

Eine Einführung

2013

BÖHLAU VERLAG

WIEN KÖLN WEIMAR

Barbara Schedl ist Dozentin für Kunstgeschichte an der Universität Wien.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de.

Umschlagabbildung:

Gottvater als Architekt der Welt, Bible Moralisée, Österreichische Nationalbibliothek Cod. 2554, fol. 1 v

© 2013 by Böhlau Verlag GmbH & Co.KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig.

Außenlektorat: Volker Manz, Kenzingen

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: synpannier. Gestaltung & Wissenschaftskommunikation, Bielefeld

Druck und Bindung: AALEXX Buchproduktion GmbH, Großburgwedel

Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier

Printed in Germany

UTB-Band-Nr. 8525] Print-ISBN 978-3-8252-8525-8

ISBN dieser Ausgabe: ISBN 978-3-8463-8525-8

Über dieses eBook

Der Böhlau Verlag steht für Tradition und Innovation – wir setzen uns für die Wahrung wissenschaftlicher Standards in unseren Publikationen ein. So sollen auch unsere elektronischen Produkte wissenschaftlichen Anforderungen genügen.

Deshalb ist dieses eBook zitierfähig, das Ende einer gedruckten Buchseite wurde in Form von Text-Hinweisen kenntlich gemacht. Inhaltlich entspricht dieses eBook der gedruckten Ausgabe, auch das Impressum der gedruckten Ausgabe ist vorhanden.

Ein spezielles Editing-Team wirkt gezielt an der Produktion unserer elektronischen Produkte mit – dort wo eBooks technische Vorteile bieten, versuchen wir diese funktional nutzbar zu machen. Speziell für dieses eBook wurden die einfarbigen Abbildungen der Printausgabe – sofern entsprechendes Bildmaterial vorhanden war – durch farbige Abbildungen ersetzt. Motiv und Bildausschnitt blieben unverändert.

Begriffe, die im Glossar erläutert werden, sind bei ihrem ersten Vorkommen im Hauptkapitel verlinkt. Unangenehme Dopplungen wurden so vermieden.

Begriffe, die im Glossar erläutert werden, sind bei ihrem ersten Vorkommen im Hauptkapitel verlinkt. Unangenehme Dopplungen wurden so vermieden.

Ein verlinktes Register halten wir in diesem Studienbuch-eBook für unerlässlich. Es bietet Qualifizierung und Differenzierung gegenüber der Volltextsuche. Doch anders als bei der Volltextsuche wird der Suchbegriff, hier Zielstelle, nicht durch den eReader markiert. Die Orientierung findet analog der gedruckten Buchseite auf dem dargestellten Textausschnitt des Readers statt.

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Impressum

Über dieses eBook

Vorwort

1 Rahmenbedingungen

1.1 Annäherung an den Begriff „Gotik“

1.2 Struktur von Zeit und Ort

2 Lebensbedingungen, Vorstellungen und Konzepte der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen

2.1 Mensch, Technik und Umwelt

2.2 Geschichte und Politik, Kirche und Kloster

2.3 Wissen und Universität

2.4 Zusammenfassung: Neue Bild- und Raumformen

3 Der Grundstein in Frankreich

3.1 Skelettbau und Spiritualität: Saint-Denis und Abt Suger

3.2 Die gotische Kathedrale und ihre Strukturelemente: Chartres, Reims, Amiens

3.3 Effizienz und Bautechnik

3.4 Farbe und Licht – der Kirchenraum

3.5 Der Pariser Hof – Sainte-Chapelle und Buchkunst

4 Entfaltung – England, Italien und deutsches Sprachgebiet

4.1 Rivalität zum Kontinent: Gotik in England

4.2 Tradition und Innovation: Gotik in Italien (13. und 1. Hälfte 14. Jh.)

4.2.1 Friedrich II. – stupor mundi

4.2.2 Die Räume der Zisterzienser und Bettelorden

4.2.3 Konkurrenz der Kommunen

4.2.4 Das Atelier Pisano

4.2.5 Giotto und sein Umfeld – davor und danach

4.2.6 Der selbstbewusste Künstler

4.3 Rezeption und Synthese – Gotik im deutschen Sprachgebiet (13. und 1. Hälfte 14. Jh.)

4.3.1 Klosterkirchen, Bischofsitze, Pfalzkapellen

4.3.2 Liturgie und Inszenierung

4.3.3 Der Zackenstil

5 Neue Zentren, Formen und Funktionen (14./15. Jh.) – Spätgotik

5.1 Der Papst in Frankreich

5.2 Ressourcenmanagement nach den Katastrophen

5.3 Zentrum „Prag“

5.4 Luxus und Andacht

5.4.1 Bibliophile Kostbarkeit – das Stundenbuch

5.4.2 Das eigenständige Porträt

5.4.3 Retabel und Altar

5.4.4 Andachtsbilder – Frömmigkeitsformen

5.5 Globalisierung um 1400

5.5.1 Burgund und Berry

5.5.2 Böhmen

 

5.5.3 England

5.5.4 Deutsches Sprachgebiet

5.5.5 Oberitalien

5.5.6 Schöne Madonnen

5.6 Die neue Wirklichkeit – die altniederländische Malerei

5.7 Architektur im Wettbewerb

5.8 Farbe, Dramatik und Erzählfreude – Bildwerke nördlich der Alpen (2. Hälfte 15. Jh.)

5.9 Neue Medien

6 Resümee

Literaturhinweise

Literatur zu Kapitel 1: Rahmenbedingungen

Literatur zu Kapitel 2: Lebensbedingungen, Vorstellungen und Konzepte der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen

Literatur zu Kapitel 3: Der Grundstein in Frankreich

Literatur zu Kapitel 4: Entfaltung – England, Italien und deutsches Sprachgebiet

Literatur zu Kapitel 5: Neue Zentren, Formen und Funktionen (14./15. Jh.) – Spätgotik

Abbildungsverzeichnis

Glossar

Register (Personen, Orte, Werke)

Rückumschlag

Vorwort

„Die Geschichte der Gotik ist eine Geschichte der Emanzipation“

(Karl Brunner)

Dieser Band „Die Kunst der Gotik. Eine Einführung“ ist eng mit dem Studium der Kunstgeschichte an der Universität Wien verbunden. Schon seit Jahrzehnten beinhaltet unser Studienplan die Absolvierung einer, sich über vier Semester erstreckenden, zyklisch wiederkehrenden Vorlesung, deren Ziel es ist, den Studierenden einen Überblick über das Kunstgeschehen von den Anfängen der christlichen Kunst bis in die Gegenwart zu vermitteln.

Nach vielen interdisziplinär angelegten Forschungsprojekten zur mittelalterlichen Kunst an in- und ausländischen Forschungsinstituten und Universitäten war es für mich eine reizvolle Aufgabe und eine große Herausforderung, sozusagen mit dem Blick von außen, den zweiten Teil dieser traditionellen Vorlesungsreihe zu übernehmen. Angestrebt wurde eine knappe Darstellung – ein schlankes Konzept, das das Kunstgeschehen in überlieferter, klassischer Form darstellt, also Architektur und bildende Kunst in historischer Perspektive erläutert, andererseits aber auch kulturwissenschaftliche und mentalitätsgeschichtliche Aspekte berücksichtigt.

Ein derartiges Vorhaben braucht Mut, sich zu Lücken zu bekennen, nicht nur des Umfangs wegen, sondern auch, weil es kompetentere Spezialisten für so manchen Sachverhalt gibt. Nicht alle Kunstgattungen konnten in gleicher Dichte berücksichtigt, nicht alle Zentren und Protagonisten genannt werden. Randgebiete, wie das Kulturgeschehen auf der Iberischen Halbinsel oder im Norden bzw. Nordosten Europas, wurden gar vernachlässigt.

Damit ist auch schon gesagt, was das Buch zu leisten vermag. Es ist ein Begleitband zu der Vorlesung und richtet sich darüber hinaus an all jene „Fachfremden“, die Interesse an dem Kulturgeschehen im Zeitalter der Gotik haben. Die Lektüre soll einen Überblick geben, soll Basiswissen vermitteln und dazu motivieren, das ein oder andere Thema eingehender zu studieren.

Dem entspricht auch der strukturelle Aufbau des Buches, mit einem Verzeichnis zu Überblickswerken und aktueller Forschungsliteratur, geordnet nach den behandelten Kapiteln, und einem ausführlichen Glossar, das fachspezifische Termini erörtert, um gezielte Mehrinformationen zu erhalten. Die in dem Band besprochenen Bild- und Bauwerke sind, gemessen an dem erhaltenen Bestand an gotischen Kunstwerken, zwangsläufig von geringer Zahl; diskutiert werden dabei jene Hauptwerke gotischer Kunst, die in ausgesprochen guter Fotoqualität im Internet dokumentiert sind. Dementsprechend ist auch der Abbildungsteil bewusst reduziert gehalten und bildet nur jene Werke ab, die schwer auffindbar sind.

Die Idee und die Anregung zu diesem Buchprojekt kamen von Ursula Huber vom Böhlau-­Verlag. Volker Manz übernahm das professionelle Lektorat des Manuskripts; Ralf Kapalla und

[<<7] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe

Franziska Creutzburg waren für die Herstellung verantwortlich. Ihnen allen möchte ich meinen Dank aussprechen.

Karl Brunner las mit unermüdlichem Einsatz und kritischem Auge mein Manuskript. Durch zahlreiche Gespräche steuerte er viele inhaltliche Anregungen bei und motivierte mich, dieses Unternehmen zu Ende zu führen. Für seine Unterstützung und Hilfestellung bin ich ihm sehr verbunden.

Daniela Tollmann gebührt ein großes Dankeschön für ihren beharrlichen Einsatz beim Korrekturlesen.

Rat, Hilfe, Aufmunterung und Zuspruch kamen von Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunden. Für die vielen anregenden Gespräche und spannenden Diskussionen möchte ich mich bei Marc Grellert, Eva Maria Hirsch, Rainer Hahn, Felicitas Hausner, ­Eveline Lackner, Thomas Meixner, Kurt Mitteregger, Michael Viktor Schwarz, Herwig Weigl und Franz Zehetner herzlich bedanken.

Barbara Schedl, Januar 2013

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1 Rahmenbedingungen
1.1 Annäherung an den Begriff „Gotik“

„Kunst der Gotik“ steht für jene Epoche, die gemeinhin mit jenem Kunst- und Kulturgeschehen bezeichnet wird, das gegen die Mitte des 12. Jahrhunderts zunächst in Frankreich zu beobachten ist und sich dann, bis in das frühe 16. Jahrhundert, in verschiedenen europäischen Land­strichen ausweitete. Humanistische Gelehrte „vor allem der italienischen Renaissance“ prägten diese Bezeichnung, als sie die Baukunst nördlich der Alpen beschrieben. Das heißt, dass zur fraglichen Zeit der Wortgebrauch „Gotik“ noch gar nicht existierte. Etymologisch leitet sich der Begriff von dem germanischen Volk der Goten ab, die in spätantiker Zeit oft in Konflikt mit den Römern standen.

So findet sich der Terminus „Gotik“ erstmals in der italienischen Ausgabe Della pittura libri tre 1435 von Leon Battista Alberti (1404–1472), und etwas später, 1440, unterscheidet Lorenzo Valla (1406–1457) zwischen gotischen und römischen Buchstaben, wobei alles Gotische in seinen Ausführungen als barbarisch bezeichnet wird. Ebenso spricht Giorgio Vasari 1550 u. a. von maniera tedesca oder maniera de’ Goti und Questa maniera fu trovata dai Goti, womit er ebenso seine Geringschätzung gegenüber der Kunst des Nordens zeigt, denn diese sei „etwas, dem jegliche Harmonie abgeht und das man am ehesten als Durcheinander und Unordnung bezeichnen kann“.

Noch ganz in der Tradition von Giorgio Vasari steht Johann Georg Sulzer (1720–1779) in seiner „Allgemeinen Theorie der Schönen Künste“ (1778). Erst Johann Wolfgang von Goethe stellt sich gegen diese allgemeine negative Auffassung in seinem Aufsatz „Von deutscher Baukunst“ (1772). Die damit einsetzende positive Würdigung erreicht in Franz Kuglers „Handbuch der Kunstgeschichte“ 1842 einen ersten Höhepunkt.

Damals setzen auch die ersten bauhistorischen bzw. denkmalpflegerischen Auseinandersetzungen mit den gotischen Bauten ein. Der Kunsthistoriker und Restaurator Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc (1814–1879) analysierte die Konstruktionsprinzipien der großen Kathedralbauten und hob den Fortschritt in Technik und Ingenieurwesen hervor. Seine umfangreichen und detaillierten Untersuchungen und Schnittzeichnungen, u. a. zur Kathedrale von Amiens, besitzen noch heute größte Aktualität. In den folgenden Jahren entstanden zahlreiche Kirchen, Schulen, Fabriken und Eisenbahnbauten, die neugotische Formen verwendeten und die, im Verständnis der damaligen Zeit, hochtechnisierten gotischen Konstruktionsprinzipien umsetzten. Man vollendete damals den bereits im 13. Jahrhundert begonnenen Kölner Dom. Auch am Weiterbau des Mailänder Doms im 19. Jahrhundert lernten viele europäische Architekten, z.B. der Erbauer des neugotischen Wiener Rathauses, Friedrich von Schmidt.

[<<9] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe

Neben der rationalistischen, bautechnischen Betrachtungsweise gotischer Baukunst setzte sich ein zweiter Standpunkt zur Analyse gotischer Objekte durch, der auf Bildsprache und -inhalt ausgerichtet war. Ein früher Vertreter dieses ikonografischen Denkmodells gotischer Kunst ist der französische Gelehrte Emile Mâle (1862–1954). Er betrachtete Kathedralen, als wären sie „Bücher aus Stein“, in denen man lesen könne, und versuchte dadurch die Bedeutung von deren Formenrepertoire zu erklären.

Wichtige Beiträge zur gotischen Kunst leisteten fortan im 20. Jahrhundert Georg Dehio, Hans Jantzen, Max Dvořàk, Hans Sedlmayr, Erwin Panofsky, Otto von Simson, Dieter ­Kimpel und Robert Suckale, wobei hier formanalytische sowie stilkritische und ikonografische bzw. ikonologische Aspekte im Vordergrund standen – also Betrachtungs- und Interpretations­modelle, die sich auf Form und Inhalt der Objekte konzentrierten. Dies änderte sich ab den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts, als unter dem Einfluss der französischen Schule der ­Annales auch funktionsgeschichtliche Aspekte der Bauten und Kunstgegenstände miteinbezogen wurden und damit eine Annäherung an die Lebenswirklichkeit aller Bereiche zur Grundlage des Forschungsinteresses gemacht wurde. Jacques LeGoff, Jean-Claude Schmidt und Michael Camille trugen hierzu wesentlich bei.

Diese kurzen Ausführungen lassen schon erahnen, dass es sich um ein äußerst mühsames Unterfangen handeln würde, „Gotik“ zu definieren, wurde doch dieser kulturelle Zeitabschnitt bereits von vergangenen Forschergenerationen aus völlig unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet und interpretiert. Ein gewisses Rahmengerüst ist allerdings notwendig, um Kunstwerke einordnen zu können bzw. sich mit deren geschichtlicher Entwicklung und Errungenschaften auseinandersetzen zu können.

So hat man seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Einordnungssysteme entwickelt, die sich auf die Betrachtung der Kunstwerke stützen, um (anonyme) Werke verorten und datieren zu können. Neben dem Terminus „Gotik“ etablierten sich besonders für die Kunstgattung der Architektur Unterkategorien wie „Früh-“, „Hoch-“ und „Spätgotik“, um eine zeitliche Differenzierung vornehmen zu können. Es gibt aber auch Begrifflichkeiten, die geografische Klassi­fizierungen in den Vordergrund stellen, wie etwa „Early English“ oder „Deutsche Sondergotik“ oder „Internationaler Stil“, und Termini, die Formen explizit beschreiben wollen: So steht „Zackenstil“ für die hartbrüchigen Faltenkonfigurationen in den Bildkünsten, die um 1300 auftreten. „Weicher Stil“ beschreibt schönlinige Oberflächen, die um 1400 in den Bildkünsten zu finden sind, „flamboyant“ steht für flammenartig ausgebildete Maßwerkformen, die ab 1370 auftreten, und „perpendicular“ bezeichnet die Geradlinigkeit von Schmuckelementen der spätgotischen, englischen Architektur. Daneben gibt es Bezeichnungen, die die Materialität der Bauten hervorheben, wie etwa der Terminus „Backsteingotik“. Bei all diesen Unterkategorien sollen jedoch nicht die übergreifenden Gemeinsamkeiten und Charakteristika der materiellen Ausdrucksformen aus den Augen verloren werden, die bereits in der Renaissance als vertikal, emporsteigend, illusionistisch und gebrechlich beschrieben wurden.

Es kann aber nicht allein bei der Analyse der Formen und einer Deutung verwendeter Symbole bleiben, es bedarf vielmehr auch eines mentalitätsgeschichtlichen Zugangs, der die massiven Veränderungen der Zeit und die Reaktionen der Menschen miteinbezieht. Denn es handelt sich bei der Epoche der Kunst des Spätmittelalters um ein gesamtheitliches Konzept, das sich über ganz Europa ausbreitet und den Alltag aller sozialen Schichten – vom Adel bis zu

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den Handwerkern, von den Tagelöhnern und den Reisenden bis zu den Mönchen und Nonnen – bestimmte. Dazu gehören Bau- und Gebetsleistungen ebenso wie die Gegenstände des täglichen Gebrauchs, die Kleidung jedes Einzelnen, wie der Schnabelschuh und ganz bestimmte Kopfbedeckungen, oder die bildlichen Darstellungen der Figuren, die in gotischer Tracht wiedergegeben und mit modischen Details ausgestattet wurden.

1.2 Struktur von Zeit und Ort

Die Struktur, die dieser Abhandlung zugrunde liegt, orientiert sich an der in der Forschungs­literatur allgemein gebräuchlichen chronologischen Einteilung der gotischen Kunst, bereichert und gegliedert durch die Lebensbedingungen der damaligen Menschen.

Politische Konstellationen, umwelthistorische Bedingungen, demografische Entwicklungen sowie wirtschaftliche und wissenschaftliche Errungenschaften beeinflussten Denkweise, Betrachtung und Lebensmodelle der Menschen. Die Auseinandersetzung mit der Natur und der Umwelt, mit Gott, dem Tod, die Positionierung der eigenen Bedeutung in Form von Repräsentation und Öffentlichkeit sowie die internationale Vernetzung (Handel, Kommunikation) hatten Auswirkungen auf das kulturelle Schaffen. Die Kunstwerke und die Architektur sind vor diesem Hintergrund zu sehen. Auch wenn es nicht gelingen wird, sich in eine andere historische Epoche hineinzuversetzen, soll dennoch versucht werden, Bilder, Skulpturen und Architektur aus dem Blickwinkel der Personen zu betrachten, für die sie angefertigt bzw. von denen sie geschaffen wurden. Was war in den Köpfen der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen? Das ist ein Zugang, den diese Publikation geben soll. Der andere Zugang ist aus der Perspektive der Kunsthistorikerin und des Kunsthistorikers des 21. Jahrhundert zu verstehen und soll mit dem möglichen und nötigen Abstand eine stilistische Entwicklung zeigen, d. h. Zentren aufzeigen, in denen Spitzenleistungen künstlerischen Schaffens erbracht wurden, die weitreichende „Bedeutung“ hatten.

Zeitlich versetzt und in einer unterschiedlichen länderspezifischen Ausbreitung spricht man von einer frühgotischen, einer hochgotischen und einer spätgotischen Stilrichtung und avanciert zu Recht die Architektur zur Leitkategorie – dies aufgrund des Erhaltungszustandes (speziell für das 13. Jahrhundert) und aufgrund der Tatsache, dass die Bauhütte um und nach 1200 der zentrale Ort ist, an dem sich alle Handwerker und Künstler zusammenfinden, um an einem Gesamtkunstwerk – der Kathedrale – zu arbeiten. Architektur, Skulptur, Glas- und Wandmalerei sind hier ebenso erfasst wie Goldschmiede- und Textilkunst.

Am Beginn stehen die baulichen Aktivitäten Abt Sugers von Saint-Denis (ab 1140) in Frankreich. Aus historischer Perspektive betrachtet, stellt der damalige Umbau der Abteikirche und königlichen Grablege den Anfang für jene innovativen Bauprinzipien dar, die bezeichnend für die gotische Kunst wurden – den Spitzbogen und das damit kombinierte Kreuzrippengewölbe. Es darf aber nicht übersehen werden, dass zu Lebzeiten des bauwilligen Abtes der Fortschritt dieser Baukunst noch nicht absehbar war.

Von Frankreich breiteten sich diese neuen Ideen und Konzepte im 13. Jahrhundert nach Italien, auf die Iberische Halbinsel, nach England (Early English) und ins deutsche Sprachgebiet aus und wurden in den jeweiligen Ländern spezifisch umgesetzt. Technische Errungenschaften,

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wirtschaftliches Wachstum, Handel und Geldwirtschaft ließen Städte wachsen, prägten ein neues Selbstbewusstsein der damaligen (städtischen) Gesellschaft und etablierten damit neue Ausdrucksformen – sowohl in der architektonischen als auch in der bildlichen Umsetzung (Profanbauten in den Städten, Illusionsräume und Naturdarstellungen).

Große Einschnitte, besonders was die personellen und materiellen Ressourcen betraf, brachte das 14. Jahrhundert. Zahlreiche Naturkatastrophen, Hungersnöte und Epidemien änderten die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Lebensbedingungen, was sich auch auf das Kunstschaffen nachfolgender Generationen auswirkte, z.B. in einer elitären Hofkunst oder einer zunehmenden Verflechtung des Kunstschaffens in den Bildkünsten (internationaler Stil), in der Schaffung neuer Bildthemen und Frömmigkeitsformen oder im Wettstreit bei der Errichtung der Kirchtürme.

Im 15. Jahrhundert avancierte das „Zweidimensionale“ zur Leitkategorie. Hervorzuheben ist die Tafelmalerei, die fortan verstärkte Aufmerksamkeit erfuhr. In Italien hatte sich damals um die Mitte des 15. Jahrhunderts die Renaissance durchgesetzt; im Norden entstanden in den Nieder­landen neue Kunstzentren, deren Errungenschaften die Bildkünste in den Nachbarländern prägten. Und in weiten Teilen Mitteleuropas wurde weiterhin gotisch gebaut. Am Ende der Ausführungen steht dann die Zeit um und knapp nach 1500, also das Ende des Spätmittelalters, und es wird der künstlerische Einsatz der neuen Drucktechniken thematisiert.

Literatur zu Kapitel 1, Rahmenbedingungen

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