Keinen Seufzer wert

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März 1860

Die Frühlingssonne wärmt Res den Rücken, während er Pfähle, die er im Herbst zur Seite gelegt hat, spitzt. Er hat die düstere Stube gern verlassen. Wer kann, werkt nun im Freien und gönnt der winterbleichen Haut die Sonnenstrahlen. Aus der Ferne sind Menschenstimmen zu vernehmen, die heute harmlos klingen. Bevor Res das nächste Holz zur Hand nimmt, streckt er für einen Augenblick den Rücken. Mit dem Zaun will er warten, bis Wyssler da ist. Der sollte nächstens kommen und kann ihm zur Hand gehen. Zu zweit, mit einem, der den Pfahl gerade hält, und einem, der zuschlägt, geht die Sache schneller.

Res denkt jetzt ab und zu an Wyssler. Ausser der Mutter hat er nur wenige Menschen neben sich geduldet, aber auf den Wyssler freut er sich. Seine zutraulich blickenden braunen Augen, so einer wird nicht frech und verspottet einen nicht. Res wischt Schneereste vom Holz, bevor er den nächsten Pfahl in die Hand nimmt. Der Wyssler ist keiner, der aufbegehrt oder seinen Meister nicht kennt. Gut möglich allerdings, dass er im Glauben wenig standhaft ist. Allerorten nimmt der schädliche Einfluss zu, nicht nur in der Stadt, wo die Radikalen längst das Sagen haben. Auch in Signau unten ist die ­Sache bös.

Dem Wyssler jedenfalls, wenn er dereinst gekommen ist, kann Res im Glauben eine Stütze sein.

Meist ist es während der Arbeit, dass ihm der neue Gehausmann in den Sinn kommt, es gibt vieles, was vier Hände besser bewerkstelligen als zwei. Man weiss zwar nicht, was der Wyssler taugt, aber einen Taglöhner im Haus zu haben, wird die Sache vereinfachen. Res stellt sich vor, wie sie gemeinsam das Land abschreiten, um die nächste Arbeit zu besprechen. Das hat Res früher mit dem Vater gemacht, doch diesmal ist er der Meister.

Res lehnt die fertigen Zaunpfähle gegen die Schopfwand. Er muss sich an einem Holz verletzt haben, seine Knöchel sind aufgeschürft, Res wischt sich das Blut an der Hose ab. Zum Schluss liest er auf, was an Holzschnitzeln liegen geblieben ist. Das Bücken fällt ihm schwer, schon den ganzen Winter über hat ihn ein Ziehen im Bein geplagt. Noch ist es so kalt, dass die Späne im Schatten am Boden festgefroren sind.

Später, als Res sich im eisigen Brunnenwasser Harz von den Händen kratzt, kommt ihm der Wyssler grundlos in den Sinn. Er denkt an den Sommer und wie der Wyssler vielleicht neben ihm stehen wird. An einem warmen Sommertag, wie sie sich waschen hier am Brunnen, ihre verschwitzten Oberkörper und Gesichter.

Am Abend schliesst Res den Wyssler Jakob in seine Gebete ein.

Es ist Sonntag, und sonntags besucht Res die Versammlung auf der Mutten. Heute aber ist ein derart heftiger Sturm mit nassem Schnee und Graupeln über das Haus gefegt, dass er zu Hause geblieben ist. Er hat für sich alleine gebetet und leise seine liebsten Lieder gesungen. Seine Stimme klingt dünn und schmal in der Stille der Stube, aber ihm gefällt der dürftige Klang bald besser als die gelärmten Psalmen an der Versammlung. Res bleibt auf der Ofenbank sitzen, das Gesangbuch und Mutters Heft mit Belehrungen auf dem Schoss.

Seit bald dreissig Jahren geht er zum Gebetskreis auf der Mutten. Und doch trauert er manchmal dem Tannenthaler nach, dem Liechti Hansueli, dessen Versammlungen er als Bub besucht hat. Gmeinschaftli haben die Leute ihren Kreis um Liechti genannt, und so hat es sich auch angefühlt. Solange die Mutter lebte, ging man dorthin. Als sie starb und ein harter Winter folgte, meinte der Vater, für die kurzen Sonntage sei der Weg zu weit. Ohne die Mutter hätten die Schwestern jetzt viel zu tun. Stattdessen besuchte man forthin eine Versammlung von frommen Menschen auf der Mutten, was näher lag.

Die Mutter hat manches vom Tannenthaler Gesagtes notiert, dessen Innigkeit im Glauben Res bis heute oft vermisst. Kein anderer konnte die Gewissheit vom Wunder, das Gott an den Menschen vollbringt, besser erklären als der Tannenthaler, der schliesslich vom Herrn dazu berufen wurde. Res stösst auf eine Stelle in Mutters Gebetsheft. Der grösste Fehler, liest Res dort nicht zum ersten Mal, sei, dass man zu wenig eingekehrt lebe. Dass man auch in den Versammlungen noch zu viel in den menschlichen Geschwätzen und Ansichten bleibe. Der Herr würde den weit grösseren Segen schenken, wenn man fester und eingekehrter wäre.

Res mag diese Stelle. Es erwächst nun einmal nichts Gutes daraus, wenn sich die Menschen zusammentun zu Oberflächlichkeit und unnützem Geschwätz. Selbst der Besuch von Versammlungen ist nicht wichtig. Seine einsam gesungenen Psalmen gelten gleichviel.

Der Sturm hat nachgelassen, und vom Dach rutscht nasser Schnee. Ab und zu ist aus dem Gebälk ein lautes Knacken zu vernehmen in der stillen Stube. Res holt das ­Rechenheft aus der Schublade, öffnet es und streicht es glatt. Er war gestern in Signau, der Berger schuldete ihm vom Korben. Res notiert den Franken fünfzig im Heft. Berger sagte, im Schangnau hinten sei ein Wolf bemerkt worden. Und der Föhnwind soll vor ein paar Tagen im Oberland derart heftig getobt haben, dass allerorten Ziegel durch die Luft geflogen seien. In Ringgenberg habe der Wind einen Einspänner mit drei Personen entführt und samt Inhalt auf einem benachbarten Feld abgesetzt. Leute seien umgeworfen worden und Kinder wie Kegel über die Strasse gerollt.

Bevor er Bergers Geld zum anderen in den Gänterlischaft gibt, rechnet Res aus, was er besitzt. Was er in den anderen Verstecken beiseitegelegt hat, weiss er im Kopf. Der Wyssler kommt Res in den Sinn und dass er dessen Familie noch nicht kennt. Er wird sich bessere Verstecke ausdenken müssen, bevor die Leute da sind. Der Amtsersparniskasse bringt er sein Geld nicht, auch wenn ihm mancher dazu rät.

Es ist kühl in der Stube und, obschon erst Nachmittag, wird es bereits wieder düster. Als Res sich mit Schuhen, die er putzen und fetten will, an den Tisch setzt, braucht er Licht. Gestern in Signau haben sie zudem von einem Mord bei Delsberg gesprochen. Eine Tochter fand am Morgen früh ihre Eltern tot in ihren Betten vor. Der Vater lag in seinem Blut, im Schlaf erschlagen. Die Mutter, die sich wohl noch verzweifelt gewehrt hat, erwürgt daneben. Und zwischen den toten Eltern das jüngste Kind, zweieinhalb Monate alt, mit Blut bedeckt, aber ­ruhig schlafend. Tausendzweihundert Franken seien geraubt worden.

Wenn er sich bloss im Wyssler nicht getäuscht hat, denkt Res und versucht, sich dessen Gesicht vorzustellen, das ihm nun nicht einfällt. Wenn er sich nur nicht geirrt hat, als er dem Wyssler Geld gab.

Als am Abend der Stall besorgt und die Türen verriegelt sind, fühlt Res sich schwach und krank. Er hat, wie so oft, zu essen und zu trinken vergessen. Beim Beten bittet er den Herrn, er möge ihn vor Schaden schützen, und denkt dabei an Wyssler.

Res notiert noch den Verlauf des Wetters, lässt dann Schuhputzzeug und alles auf dem Tisch liegen und kriecht hinauf in den Gaden und in sein Bett.

Es bäumt sich in der Nacht der Wind noch einmal auf, und heftige Sturmböen rütteln an Fenstern und Dach. Res wacht auf und stolpert in die Küche. Im Schopf draussen hat sich etwas gelöst, das jetzt gleichförmig gegen die Holzwand schlägt. Res, der nachts das Haus nie verlässt, öffnet für einen Augenschein die Küchentür. Sofort bläst ihm ein Windstoss das Licht aus und zerrt an den Kleidern.

Am nächsten Morgen bemerkt er als Erstes den vom Sturm entwurzelten Apfelbaum. Es ist der dritte, den er verliert. Schon im letzten Winter ist ein Birnbaum umgestürzt, und einen zweiten tat er um, weil er nur noch dürre Äste trug. Die Schwestern in Signau unten werden Äpfel und Birnen wünschen im Herbst. Damit wird nichts. Was es heuer an Äpfeln und Birnen gibt, bleibt bei ihm.

Vor dem Haus liegen Schindeln am Boden. Obwohl sich der Wind noch nicht ganz gelegt hat und trotz der Nässe holt Res die Leiter und steigt, mit einem Hammer und Nägeln ausgerüstet, aufs Dach. Nach ein paar vorsichtigen Schritten auf dem glitschigen Untergrund verspürt er Schwindel. Es ist das Alter, sein Gleichgewicht ist nicht mehr gut. Res lässt sich auf die steifen Knie sinken, die schmerzen. Schlimmer ist, dass Hände und Beine zu zittern begonnen haben. Langsam und vorsichtig schiebt er sich zur Leiter zurück, achtsam, die Schindeln nicht aus ihrer Verankerung zu lösen. Als er endlich mit dem Fuss die Leiter berührt, stösst er sie versehentlich weg. Sie kippt ein Stück zur Seite, und einen Moment lang befürchtet Res, dass sie fällt. Unter Verrenkungen bringt er sie mit dem Fuss zurück in eine gerade Position. Jetzt bräuchte er einen, der unten hält. Warum ist der Wyssler nicht hier? Für so etwas bräuchte er den Wyssler. Vom dem aber hat er seit Wochen nichts gehört.

Zitternd klettert Res Sprosse um Sprosse hinunter. Als er unten ankommt, ist er dankbar und wütend zugleich. Er hat noch nicht einmal feststellen können, wo das Dach beschädigt ist. Und wenn er sich in diesem Wyssler getäuscht hat? Er hat ihm Geld gegeben. Und nun seit damals keine Nachricht.

Die Schwestern Schlatter erschienen auf Citation im Untersuchungsrichteramt. Sie deponierten auf Befragen, was sie zum Schafberg wussten. Von Untersuchungsrichter Ingold zu Wyssler einvernommen, sagte Schlatter Maria, was ihr an diesem nicht gefiel: Man habe den Wyssler früher nämlich nicht gekannt. Im Frühling sei derselbe, welcher der Schwiegersohn einer Schwester ihres Vaters sei, erstmals zu ihnen gekommen und wollte zum Bruder auf den Schafberg. Beim Zurückgehen habe er gesagt, es gefalle ihm auf dem Schafberg sehr – zumal seien dort auch viele Sachen, habe er gemeint. Kurz, er habe nicht genug zu rühmen gehabt. Es sei ihr aufgefallen, dass Wyssler viel von Schlatters Sachen sprach.

Schlatter Maria betrachtete die Sache von Anfang an mit Argwohn: Dem Res sei nicht zu trauen und von dem Wyssler wisse man zu wenig. Als Schlatter später kam, er habe Akkord geschlossen und Wyssler Geld gegeben für den Kauf von Geissen, sei nicht nur sie überaus verwundert gewesen. Was brach­te er just Wyssler, einem Hungerleider, so viel Vertrauen entgegen?

 

Einige Zeit später, an einem Morgen im späten März, kommt die Schlatter Anna auf den Schafberg. Als Res die Schwester über die Wiese auf das Haus zukommen sieht, rechnet er fest damit, endlich Nachricht von Wyssler zu erhalten. Die Übersiedelung, geplant auf Anfang April, ist fällig, und noch immer ist ihm kein Datum ­genannt worden. Aber die Anna kommt nur, um nach ihrem Pflanzland zu sehen. Als sie verneint, Nachricht von Wyssler zu haben, schwellen die Adern an Res’ Schläfe zornig an, sein Kopf verfärbt sich rot. Die Anna kennt das und macht sich schnell davon.

Res bebt, als er ihre Gestalt davoneilen sieht. Er hat diesem dahergelaufenen Wyssler, dem doch von Weitem der Hungerleider und Vagant anzusehen ist, vertraut. Hat ihm blindgläubig alles überlassen, was er diesen Winter mit Holzen verdient hat. Was nützt da ein Akkord, den er auf Wysslers Hausrat abgeschlossen hat, wenn dieser sich nicht zeigt? Was nützt ihm ein Bürge im fernen Ursenbach?

Ein fauler Baum kann unmöglich gute Früchte tragen. Mit mehr Kraft, als es die steifen Glieder vermuten lassen, tritt Schlatter nach einem Brett. Ein Huhn, das dahintersass, fliegt erschrocken auf. Das Geld wird er nicht wieder sehen, den Wyssler auch nicht.

Die Anna ist längst zurück im Tal, als Res, noch immer zitternd vor Zorn, in den zugigen Keller geht. Er hebt ein paar Kartoffeln auf und dreht sie nach allen Seiten um. An ein Aussetzen ist vorläufig nicht zu denken, die Erde ist viel zu nass dazu. Und nun drohen die Kartoffeln ein zweites Mal zu keimen, Res flucht vor sich hin. Kaum ein paar Wochen ist es her, dass er Stunden damit zugebracht hat, die Keime abzubrechen.

Auch für das Kartoffelsetzen hat Res auf Wysslers Hilfe gehofft. Den Mist hat er bereits alleine ausgetan, eine elende Arbeit ohne Ross. Ein solches besitzt er nicht, und sowieso liegt der Acker heuer an einer steilen Stelle.

Res’ Zorn ist so gross, dass er Mühe hat zu atmen. Seine Wut gilt dem Wyssler, von dem er sich Hilfe versprach. Ein jeder Baum an seiner Frucht erkannt, laut verflucht Res den Wyssler mit harten Worten.

Es wird Abend, bis Res sich beruhigt. Er setzt sich an den Tisch und hält Gott um Gnade an. Man soll sich dem Herrn treu überlassen. Meine Schwäche hält die Sache nicht auf. Endlich findet Res zu trostreichen Gedanken und zur Ruhe, nach der er sich sehnt. Schliesslich dankt er dem gütigen Gott, dass er ihn bis dahin an Seele und Leib bewahrt hat, und bittet um Erkenntnis und Reue über die begangenen Sünden. Manchmal lässt er sich ablenken in seinen Gedanken an Gott. Wenn ihn die Wut packt, ist es am schlimmsten. Res betet mehrmals am Tag, nur nicht immer innig genug, wie heute Nachmittag, als er zornig war. Es kann ihm auch passieren, dass er während des Gebets an seiner Wirtschaft herumstudiert oder am Geld. Und manchmal überfällt ihn die Masslosigkeit. Er hätte Anken verkaufen können, statt ihn selbst zu brauchen. Sei mir um Jesu Willen gnädig und verzeihe.

Schliesslich denkt Res, dass er, wenn Gott das so will, den Wyssler doch noch dem Herrn zuführen kann. Res weiss, dass es immer Gnade braucht, damit ein Sünder Einkehr hält. Wenn nur der Wyssler endlich käme, er hat das Logis doch so dringend gewollt? Warum bloss erhält er seit Wochen keinen Bescheid? Res glaubt wieder daran, bei Wyssler gute Anlagen erkannt zu haben. Ganz bestimmt spürt Wyssler die Sehnsucht nach Erlösung, die jeder Mensch in sich trägt, der auf sein Herz hört.

Behüte mich diese bevorstehende Nacht vor allem Übel. Amen. Res steht auf, um Stall und Tenn zu verschliessen.

Maimonat 1860

Die Abreise Wysslers verzögert sich um etliches. Zuerst sind dringende Schulden zu begleichen, sodass das von Schlatter vorgeschossene Geld bald nicht einmal mehr für den Umzug reicht. Jakob muss neues Geld auftreiben. Mehr als einmal kommt Notiz von Schlatter, es ­solle Bescheid gegeben werden, wann man übersiedle. Jakob antwortet nicht. Den ganzen Frühling über bangt er, ob der Umzug gelingt.

Als er gegen Ende Mai das Geld für die Reise beisammenhat, ist an eine Geiss nicht mehr zu denken. Es ist ein armseliges Zeug, was er auf dem Fuhrwerk zusammenzurrt, damit möchte keine Braut durchs Dorf fahren. Und trotzdem sieht Jakob nicht unzufrieden auf seine Ware, die doch immerhin ein Hausrat ist. Ein Tisch, das Bett, die Wäschetruhe, Körbe und Säcke ragen hoch über den Wagen hinaus. Verena und Jakob Wyssler und auch die zehnjährige Annelies laufen neben dem Fuhrwerk her. Die beiden Jüngsten sitzen hinten auf dem Karren und halten sich fest. Die Wege sind schlecht.

Es ist der 24. Mai, der Donnerstag vor Pfingsten. Sie übersiedeln viel später als erhofft.

Verena hat ihren Vetter Res zum letzten Mal gesehen, als sie ein Kind war, und sie hat ihn nicht gemocht. Dann aber ist Wyssler mit seinen Berichten gekommen, und er hat nur Gutes erzählt. Egal, was die Leute sagten, er könne nichts Ungerades finden am Schlatter. Ihr Mann ist ein Fantast und viel zu arglos, aber froh ist Verena doch, das elende Leben in Ursenbach hinter sich zu lassen. Sie freut sich auf eine eigene Stube und dass sie sogar einen Obergaden haben werden.

Inzwischen ist der Sommer im Anzug. Viel zu lange hat Schnee gelegen. Man begann, sich vor Überschwemmungen zu fürchten und auch, dass die Saat Schaden nehme. Jetzt aber steht alles prächtig, und die Bäume sind in voller Blüte. Das Maiwetter ist sonnig und warm.

Die Gegend um den Schafberg wirkt freundlich in der Frühlingssonne, wie die Verheissung von einem friedvollen Leben. Rund um die verstreut liegenden Höfe blühen unzählige Apfelbäume. Jakob sagt, sie werden fünf Obstbäume nutzen können und Pflanzland sowieso. Sogar die Jüngste, die immer wieder weint wegen des groben Gerüttels auf dem Wagen, spürt die Vorfreude, als das Fuhrwerk beim Altschloss die Höhe erreicht und in Richtung Schafberg wendet.

Nur eines bleibt, der Wyssler muss Arbeit finden, denkt Verena. Am Willen fehlt es ihm nicht, und auch als Schuster taugt er durchaus. Er ist nicht faul, nur verschafft sich Jakob keine Geltung. Ein anderer hätte längst etwas gefunden, auch wenn es viele sind, die Arbeit suchen. Es mangelt ihm an Entschlossenheit, und mehr als einer hat für erhaltenes Schuhwerk nie bezahlt. Aber wenn Verena sieht, wie gut der Jakob die Annelies mag, die doch nur seine Stieftochter ist, ist sie versöhnt. Es gibt nicht viele, die ein fremdes Kind bei sich behalten würden. Selbst wenn sie kaum über die Runden kommen und öfter hungrig bleiben, noch nie ist ihr Jakob damit gekommen, die Annelies zu verdingen.

Die letzten Meter müssen sie zu Fuss gehen. Der breite Weg endet vor einem abschüssigen Graben, den man auf einem schmalen Pfad durchquert. Direkt dahinter befindet sich das Haus. Die Tür ist zur Hälfte geöffnet, als sie sich über den Vorplatz nähern.

Schlatter Res erwartet sie in der Küche, stehend. Zögernd treten Wysslers ein. Schwer zu sagen, ob der säuerliche Geruch vom alten Mann oder von der Küche ausgeht. Es riecht nach abgestandener Fleischbeize und ranziger Milch. Die kleinen Kinder verstecken sich hinter Verenas Röcken, und Annelies bleibt in der Nähe der Tür. Verena hat kaum Erinnerungen, aber der Vetter ist alt geworden. Dabei ist er nur um wenige Jahre älter als sie selbst. Er mag auf die fünfzig zugehen, ist mager und bleich und scheint vor Erregung leise zu zittern. Dem finsteren Blick, mit dem er sie aus seinem aufgebracht und wirr wirkenden Gesicht anstarrt, kann sie nicht standhalten. Sie tritt zur Seite und ist froh, als Schlatter und ihr Mann die Küche verlassen, um nach den Pferden zu sehen und den Wagen abzuladen. Draussen herrscht Res ihren Mann an, der etwas Begütigendes erwidert. Nun ist sie froh um den nachgiebigen Charakter ihres Mannes, der sich lieber unterzieht, als Streit zu riskieren.

Verena sieht sich um. Es stinkt. Sie geht durch die Küche, an Schlatters Stubentür vorbei. Die Küche ist ekelhaft dreckig. Kessel und Pfannen, Herd, Tisch und Wände sind mit klebrigem Schmutz und Russ überzogen. In einer verbeulten Pfanne, halb voll mit Mus gefüllt, tummeln sich die Fliegen. Mit einer matten Armbewegung scheucht Verena sie fort. Fliegen hat es überall, aber jetzt im Mai schon so viele, der Herd ist übersät mit toten ­Insekten. Langsam betritt sie die Stube, wo Staub liegt. Wenigstens ist der Raum gross, etwas Sonne scheint her­ein und beleuchtet ein Quadrat auf dem Boden. Verena setzt sich auf den kalten Trittofen. Annelies kommt, die zwei kleinen Kinder vor sich hertreibend, herein.

«Sie haben vom Mus genommen», sagt Annelies.

Verena zuckt mit den Schultern. «Sieht man’s?»

Annelies schüttelt den Kopf. «Man muss die Küche put­zen.»

Verena reagiert nicht, sondern schaut zu den beiden Kindern hinüber, die schüchtern bei der Tür stehen geblieben sind. Sie geht an den Kindern vorbei hinaus, um den Männern beim Abladen des Hausrats zu helfen. Je eher man den Kutscher entlässt, umso weniger muss man ihm geben. Annelies nimmt einen Reisbesen und macht sich daran, zuerst ihre neue Stube und dann die Küche zu fegen.

Danach lädt Schlatter die Neuangekommenen in seine Stube ein. Er wirkt besänftigt, auch wenn er sie nicht willkommen heisst, jedenfalls nicht mit Worten.

Befangen und steif sitzen Wysslers in seiner engen Stube um den Tisch. Das mittlere Kind drängt sich auf der Eckbank gegen die Mutter, und Annelies hält die Jüngste auf dem Schoss. Die Kleinen sind übermüdet von der langen Reise.

Bisher hat Schlatter nur mit Jakob gesprochen, ganz so, als ob die Frau und die Kinder nicht da wären oder als ob er mit deren Ankunft nicht gerechnet hätte. Verena ist deshalb überrascht, als Schlatter die erste Frage an das Mädchen, an die Annelies, richtet.

«Ihr werdet wohl im Gaden schlafen?», fragt Schlatter die Zehnjährige mit Blick auf das müde Kind auf deren Schoss. Annelies wagt nicht zu antworten, und auch die anderen Kinder sehen ihn nur lange und schüchtern an.

«Wir haben bloss ein Bett, das für die Stube. Der Schwager wird uns später eines überlassen, er will’s dann bringen», antwortet Wyssler für das Mädchen. Jakob weiss, dass im gemieteten Gaden ein Bett steht, das dem Schlatter gehört, wagt aber nicht, geradeheraus darum zu bitten.

«Es hat im Gaden ein Bett. Ihr könnt es brauchen, für diese Nacht», sagt Schlatter.

Annelies nickt, erhebt sich mit den beiden Kleinen und verschwindet, um die Kinder schlafen zu legen. Verena und Jakob sehen sich aus den Augenwinkeln an. So ist denn das gelöst, und Zudecken für die Kinder werden sich finden. Den ganzen Winter über mussten sie mit nur einem Bett ausgekommen. Es wird ihnen gut gehen hier.

Verena hätte einen Schluck Milch vertragen oder auch Schotte oder gar ein Glas Gebranntes, aber Res bietet ihnen nichts an. Stattdessen spricht er von ihren ­Effekten und dass er davon eine Liste erstellen wolle. ­Offenkundig haben die beiden Männer vorhin, als sie draussen beim Wagen waren, etwas besprochen wegen der Schulden, die sie beim Schlatter haben. Dann kommt Schlatter aufs Melken zu reden. Wyssler Verena soll das übernehmen, für zwei Mass Milch die Woche.

Verena nickt. Heute Abend schon will Res sie einweisen. Mehr wird nicht gesagt. Steif sitzen Wysslers am Tisch, und als das Schweigen fortdauert, erheben und bedanken sie sich und gehen hinüber in ihre eigene Stube.

So ist die erste Begegnung mit dem einsamen Sonderling recht günstig vonstattengegangen! Nur sei hier angemerkt, was namentlich auch Richter Ingold schon bald zu Ohren kam: Es führte der Schlatter Res wirklich eine höchst unreinliche und unordentliche Knabenwirtschaft! Dem Haushalt fehlte die Magd, die Wirtschaft lag im Argen. Zwar zahlte Res die Zinsen akkurat, indes liess er das Heim verkommen.

Kann man, die Frage sei gestattet, an einem solchen Orte beieinander friedvoll hausen ohne Zwist?

Es wird wenig gesagt, während Wyssler den Hausrat in ihre Wohnung trägt und Annelies und Verena die Küche putzen. Später hilft Verena Res im Stall und lässt sich ­erklären, wie sie fortan das Melken zu besorgen hat. Schlatter steht hinter ihr und beobachtet sie, während sie die Milch aus den Zitzen zieht und in den Kübel zwischen ihren Knien schäumen lässt.

Alles in allem, auch wenn der Schlatter nicht gerade freundlich war, so scheint er doch anständig, denkt Ve­rena, als sie sich schliesslich abends in ihre neue Stube zurückzieht. Zu Annelies, die eifrig Wasser in die Küche geschleppt und geputzt hat, benahm er sich beinahe nett. Die Annelies hat ihre Scheu vor dem alten Mann am schnellsten verloren, die beiden scheinen sich gewogen. Nur als sie sich daranmachte, Holz in die Küche zu bringen, hat Schlatter sie unerwartet grob angeherrscht, er wolle das selber besorgen. Niemand hat begriffen warum, aber Annelies liess sich von seiner heftigen Art nicht beeindrucken.

 

Mit Erleichterung schlüpft Verena unter die Laken zu ihrem Mann, hungrig zwar, aber voller Zuversicht. Umso mehr, als sie seit ein paar Tagen weiss, dass sie in Hoffnung ist. Mit einundvierzig muss es das Letzte sein, der Wyssler soll sie fortan in Ruhe lassen. Gottlob kann sie dem Kind, das unterwegs ist, nun ein Heim bieten. Die Wiege wird in der Stube stehen, wo die Eltern schlafen. Die anderen Kinder können sich das Bett im Gaden teilen. Mit der Milch von Schlatters Kühen, der Ernte aus der Pflanzung und den vielen Äpfeln werden sie gut über die Runden kommen. Wyssler wird Arbeit finden, und was er dann noch verdient, kann man zur Seite legen für nötige Anschaffungen. Warme Decken für die Kinder, bevor der nächste Winter kommt, und bessere Kleider.

Der erste Morgen auf dem Schafberg beginnt bös. Schwaches Tageslicht dringt durch die Fenster in die Stube, es mag fünf Uhr in der Früh sein, als Verena erwacht. Schlatter geht in Holzböden in seiner Stube umher. Er murmelt leise vor sich hin. Manchmal wird er etwas lauter, und ab und zu klingt es nach Gesang. Noch ohne richtig wach zu sein, weiss Verena, dass es ein Fehler war, hierherzukommen. Alle haben sie vor Res gewarnt. Was für ein unheimlicher Mann, wenn er nur den Kindern nichts antut. Sie hat den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als es im Gaden über ihr rumpelt und die Jüngste durch das Bodenloch überm Ofen gestrauchelt kommt.

Das erst zweijährige Kind ist mit Hunger aufgewacht und will durch das Loch zu den Eltern in die Stube hinunterklettern. Dabei rutscht es aus, und Verena sieht zu, wie das Mädchen auf den Ofen fällt und von dort aus auf den Stubenboden. Augenblicklich ist sie auf den Beinen. Das Kind schreit, es blutet. Verena packt es und hastet in die Küche, das Kind am Arm wimmert, aber Verena findet sich in der finsteren Küche nicht zurecht. Alles, was sie angreift, fühlt sich klebrig an, vielleicht wegen des Bluts der Kleinen. Da öffnet sich Schlatters Tür. Er hat in seiner Stube Licht.

Sie legt das Kind auf Schlatters Ofenbank, während er ihr zündet. Die Kleine hat eine Platzwunde am Kopf, klammert sich an Verena und weint. Endlich kommt Jakob, er bringt Wasser und bettet das Kind auf seinen Schoss. Es ist Jakob, der das Kind beruhigen kann, während Verena die Wunde mit Wasser reinigt und schliesslich den Kopf mit einem Stück Tuch von Schlatter verbindet.

Jakob wiegt weiter beruhigend das Kind, während Verena sich erschöpft an Schlatters Tisch setzt. Die dumpfe Angst vor Res beim Aufwachen – jetzt war sie froh um ihn. So langsam kommt Verena zu sich. Was für ein schlechter Anfang auf dem Schafberg, dieser Sturz, wenn nur dem Kind nichts bleibt. Plötzlich bemerkt ­Verena die aufgeschlagene Bibel, die auf dem Tisch liegt, und sie begreift. Res hat gebetet. Sein Gemurmel vorhin, es waren Gebete. Der alte Mann hält morgens Andacht. Sie hat gemeint, er spreche mit sich selbst. Sich um den Herrgott zu kümmern, ist nichts Schlechtes. Man weiss, Res ist ein Stündeler. Die Stündeler mag niemand, schon gar nicht solche, die anderen Vorschriften machen. Aber ihr gilt es eigentlich dasselbe, ob einer nun in der Kirche betet oder zur Versammlung geht. Und ein bisschen mehr an den Herrgott zu denken, schadet nicht, auch ihr nicht und den Kindern.

Das Mädchen ist vom Weinen müde geworden. Unter nassen Wimpern hält es die Augen geschlossen und reibt das feuchte Näschen an Jakob, der es nun in ihre Stube zurückträgt. Res zieht sich indessen den Tschopen an und geht ins Tenn, Verena folgt ihm mit dem Melkkübel. Um den Stall zu öffnen, muss Res durch die Futterlöcher hindurch eine Latte lösen. Auf den Zehenspitzen seiner mageren Beine stehend, beugt er sich weit nach vorne, auf zitternden und verkrampften Gliedern. Verena fürchtet jeden Moment, dass er kopfüber in die Krippe fällt. Bei solchen Verrenkungen kann sie ihm nicht helfen, anfassen will sie ihn lieber nicht.

Res wartet einen knappen Schritt hinter Verena auf die Milch. Sie stemmt ihre Stirne gegen den warmen Kuhbauch und versucht, ihn zu vergessen, während sie ruhig den Milchstrahl abwechslungsweise von links und von rechts in den Kübel lenkt.

Res, überlegt sie, der etwas älter ist als sie, lernte den Hunger gewiss schon in der Wiege kennen. Im Jahre 1816, erzählt man sich doch, war die Not der Leute besonders schlimm. Die Ernten blieben gänzlich aus, die Menschen assen Gras statt Brot. Res’ Geiz wird dannzumal entstanden sein, wie auch sein sonderbares Wesen. Er wird für alle Zeiten den Hunger im Bauch behalten haben.

Auch später war Res ein ausgesprochen magerer Bub von ungesunder Farbe. Zudem bewegte sich der Vetter seltsam steif und war sehr langsam im Begreifen, erinnert sich Verena. Ob sein Gehör schon damals schlecht war? Die Natur habe Schwächen in ihm angelegt, darunter einen Groll auf alle und den Jähzorn, hiess es von Res. Jedenfalls war der alte Schlatter nicht glücklich über seinen Sohn. Dass Res die Schule ordentlich besuchte und lesen und schreiben lernte, verdankt er seiner Mutter.

Res wuchs gewiss freudlos und abgesondert auf. Dass er darüber etwas komisch wurde, verwundert nicht. Ob es wohl stimmt, dass er bisweilen anderen unzugängliche Dinge hört und sieht? Auch das sagte man von ihm.

Kaum ist Verena mit Melken fertig, wird ihr der Kessel von Res entrissen. Im Schopf verteilt er die Milch auf eine Bränte für die Käserei und einen grossen Krug.

Ein leeres Glas in der Hand kommt Jakob dazu und berichtet, die Kleine sei eingeschlafen. Während Schlatter Res noch mit Umschütten beschäftigt ist, taucht Jakob sein Glas in die Milch und trinkt es gierig leer. Auch Verena hat seit ihrer Ankunft nichts gegessen und würde es gerne ihrem Mann gleichtun. Als sie aber Schlatters Gesicht sieht, lässt sie es bleiben.

Hastig hievt sich dieser die Bränte auf den Rücken und verschwindet, in den Händen den Krug, an den Schultern die Bränte, im Keller. Die schwere Käsereimilch trägt Res somit die Treppe hinunter und wieder hoch. Verena und Jakob sehen sich an. Er will nichts bei ihnen stehen lassen ohne seine Aufsicht.

«Hast du den Verstand verloren? Dich einfach so zu bedienen?», fragt Verena Jakob, «du hättest fragen müssen. Es ist seine Milch.»

«Aber gemolken hast bereits zweimal du. Die Abrede ist, dass wir dafür Milch kriegen. Er kann ja das Glas abziehen von den zwei Mass Milch für uns.»

«Er wollte die Milch messen, bevor du nimmst. Noch draussen, halb im Stall, zugreifen. Das gehört sich nicht. Nicht vor ihm. Hättest warten können.»

«Du kannst dir ja vorstellen, dass ich Hunger habe.»

Verena nickt. Sie kehrt ins Haus zurück und ruft nach Annelies, die sich noch nicht aus der Stube gewagt hat. Das Mädchen soll Feuer machen. Später muss Jakob dürre Äste aus Schlatters Wald holen, damit sie eigenes Holz haben. Res wird wohl nichts dagegen haben, dass sie vorläufig die nötigen Scheiter von seiner Beige nimmt. Schliesslich kommt ihm die Glut im Ofen zugute, wenn er von der Käserei zurückkehrt und frühstücken will. Verena geht hinaus zum Brunnen, um den Melkkübel zu waschen.

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