Die Unbeirrbare

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Die Sippe und ihr Selbstbewusstsein

Eine katholische Familie demonstriert aristokratische Herkunft und liberale Gesinnung. Die Mutter erzieht ihre Älteste zu Enthaltsamkeit, zu kritischem Denken und Selbstbestimmung.

Während Fräulein Zimmermann an ihrem Stehpult Briefe schreibt, beobachtet sie heimlich den jungen Herrn Heinzelmann, und dieser wirft ihr beim Blättern im Kontobuch verlegene Blicke zu. Im Kontor der Strohfirma Oskar Bruggisser steht sein Pult dem ihren gegenüber, und die beiden können sich, beiläufig, auch geradewegs in die Augen schauen, das heißt, er muss leicht zum Fräulein emporblicken.

Zwischen ihren Stehpulten hängt von der Decke an einem langen Kabeldraht eine Glühbirne, deren Licht von einem schmucklosen Schirm gedämpft wird. Die Beleuchtung ist für beide Pulte gleich schlecht, und da zieht er die Lampe zu sich hinüber, kurz nur, scheinbar um im Kontobuch besser lesen zu können, freilich in der Absicht, dass die Beleuchtung am Kabeldraht zu ihr hinüber schwingt. Diese Lampe zupfen sie nun hin und her, er mittleres Kader mit kaufmännischer Ausbildung, sie Büroangestellte und Absolventin eines Töchterinstituts, er weltgewandt mit Sprachaufenthalten im Welschland und in Italien, in Brüssel und London, sie mit zusätzlichem Schliff aus der angesehenen Zürcher Koch- und Haushaltungsschule von Elisabeth Fülscher. Er wird, kaum volljährig, von der Firma auf Handelsreisen in den Nahen Osten geschickt, und sie ist im damals vorwiegend männlichen Bürobetrieb eine Ausnahmeerscheinung.

In Wohlen, dem einstigen Bauerndorf, das mit Stroh zu Reichtum kam, zupfen und schubsen die beiden so lange die Bürolampe, bis sie sich 1913 heiraten.

So oder ähnlich haben Familienmitglieder die Geschichte zum Besten gegeben, wie Bertha Zimmermann aus Wohlen und Hans Heinzelmann aus dem benachbarten Boswil einen Hausstand gründeten. Erzählt Gertrud Heinzelmann als Achtzigjährige die Geschichte ihrer Eltern, legt sie Wert darauf, dass die Lampe exakt in der Mitte zwischen den Pulten von der Decke hing und beide gleichermaßen daran zogen. Kein Wort, dass die Mutter den Vater um einen halben Kopf überragte. Bei der Heirat ist Franz Johann Heinzelmann, wie er mit ganzem Taufnamen heißt, 27 Jahre alt, Bertha Zimmermann ist ein Jahr älter und wird fortan Hausfrau sein. Für das Hochzeitsbild wählte der Fotograf den Bildausschnitt so, dass der Schemel nicht sichtbar ist, auf dem Hans gestanden haben muss. Von einem Brautschleier und ähnlicher Ausrüstung wollte Bertha nichts wissen. In hellem Kleid mit Spitzen und Rüschen steht sie Schulter an Schulter neben ihrem Mann, ihre ausladenden Achselpolster, die kunstvoll aufgesteckten Haare lassen ihn noch schmächtiger und vergeistigter wirken. Der Hochzeiter hat die Enden seines wilhelminischen Schnurrbarts sorgfältig gezwirbelt, doch sein Gesicht bestätigt nicht die Wehrhaftigkeit, die der Bart vorgibt.

Das junge Paar kauft sich schicke Möbel nach der damaligen Mode, Jugendstil, und nimmt sich im tonangebenden Neubauquartier am Dorfrand von Wohlen eine Wohnung. Es ist das Quartier des technischen Fortschritts und des neuen Reichtums, der Weltläufigkeit und Urbanität. In dessen Zentrum steht der Bahnhof, während die Kirche, der althergebrachte Mittelpunkt dörflichen Lebens, vom Bahnhof aus gesehen in die Ferne gerückt ist. Im Neubauquartier ragen die Türmchen der schmucken Villen der neuen Machthaber in den Himmel.

«Strohbarone» werden sie genannt. Ihren Aufstieg verdanken sie der Industrialisierung, die aus vifen Geflechthändlern global operierende Fabrikbesitzer und Unternehmer gemacht hatte. Im Freiamt, einem lang gezogenen Landstrich, der zur Innerschweiz hin verläuft, war Wohlen einst ein armes Bauernnest. In kinderreichen Familien wurden in Heimarbeit aus Stroh, Rosshaar und Hanf Verzierungen für Sommerhüte geflochten, und die Händler brachten das Geflecht in Kutschen bis nach Sankt Petersburg. Nach 1860 beginnt ein schneller wirtschaftlicher Aufstieg, dicht gedrängt entstehen Fabriken, in denen Stroh gebleicht, gefärbt, zu Bändern und Bordüren geflochten und zu Hüten zusammengenäht wird. Bald folgt Wohlens Anschluss an die Südbahn, die geflochtenen Bänder werden in Waggons verladen und andernorts weiterverarbeitet. Kein anderes Dorf im Aargau geht derart mit der neuen Zeit, und als Zeichen dieses Fortschritts lassen sich die «Strohbarone» links und rechts der Bahngeleise nieder, umgeben ihre Anwesen mit kleinen Parks und viel Schmiedeeisen, und sie sorgen dafür, dass Wohlen auch bald ein eigenes Elektrizitätswerk und Telefonanschlüsse erhält.

Mit den «Strohbaronen» ziehen ihre oberen Kader ins Nobelquartier, Prokuristen, Kassierer und Handelsvertreter, Aufsteiger oder besseres Bürgertum, das dank kaufmännischer Ausbildung, Manieren und Mehrsprachigkeit die nötigen Voraussetzungen mitbringt, um in den Kontoren den weltweiten Handel abzuwickeln. Man lebt mit den «Strohbaronen» Tür an Tür, doch diese achten auf die nötige Distanz. Ihre Anwesen öffnen die Bruggisser, Isler, Walser und Dreifuss vorzugsweise für ihre ausländischen Handelspartner. Mit unternehmerischem Blick für die Zukunft bahnen sie Ehen untereinander an, oder sie führen von ihren Reisen Amerikanerinnen und Kubanerinnen nach Hause, und diese wiederum bringen ihre schwarzen Dienstmädchen mit. Die Herren knattern mit den ersten Autos durchs Dorf, ihre Frauen zeigen sich in der neusten Garderobe, und ein Dienstmädchen soll seinen Affen ausgeführt haben. Dieses mondäne Treiben erscheint den Bauern in den umliegenden Dörfern und Höfen wie das Pariser Leben, und Wohlen erhält den Übernamen «Chly-Paris». Mit Genugtuung beobachtet man da und dort, wie dieses Klein-Paris alle modernen Begleiterscheinungen aufweist, die man selbst verteufelt: aufmüpfige Arbeiter und gewerkschaftliche Regungen, freisinnige Vorherrschaft statt wie allgemein im Freiamt katholisch-konservative Verhältnisse, Luxus und Vergnügen statt Demut und Kirchenbesuch.

Blicken Hans und Bertha Heinzelmann-Zimmermann aus den Stubenfenstern, sehen sie direkt zum Bahnhofsgebäude hinüber, und sommers, bei geöffneten Fenstern, hören sie den Maschinenlärm aus der Parallelstraße, wo die größte Wohler Hutgeflechtfabrik steht. Ihr Direktor residiert in seiner Villa im französischen Rohbaustil gleich hinter dem Heinzelmannschen Mietshaus. In aufrechter Haltung, stets piekfein gekleidet sei Hans Heinzelmann aus dem Haus getreten und die Straße zum nahen Geschäftshaus von Oskar Bruggisser hinunter gegangen. Eine respektable Persönlichkeit sei er gewesen, die man höflich zu grüßen hatte, sagt Guido Strebel, der einstige Nachbarsjunge im Alter von Gertrud. Die Firma Oskar Bruggisser ist klein und angesehen und hat sich auf Bleichen und Färben spezialisiert. In Dresden, Hamburg oder London wird billiges Strohgeflecht aus Asien erworben, in Wohlen veredelt und dann gewinnbringend weiterverkauft. Vor allem die «Diamant-Bleiche», die in ganz Wohlen nur Oskar Bruggisser beherrscht, ist sehr gefragt. Die Strohhalme, von Natur aus goldgelb glänzend, werden mit chemischen Bädern behandelt, bis sie silbern schimmern.

Wenige Wochen vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges kommt am 17. Juni 1914 Gertrud zur Welt, zwei Jahre später am 13. Juni Elisabeth. Die beiden Schwestern sind in mancher Hinsicht sehr verschieden, mit Gertrud Heinzelmanns Worten: «Es ist, als ob wir nicht aus demselben Kübel wären.» Gertrud ist die lebhaftere, die auf Bäume klettert, Pfeilbogen schießt, beim Puppenspielen den Männerpart übernimmt und sich auf dem Pausenplatz beschützend in der Nähe der Schwester aufhält. Die Gleichaltrigen nennen Gertrud «Heinz», und der männliche Vorname wird ihr die ganze Schulzeit hindurch bleiben. Obwohl sie wilder und kecker ist als viele, macht sie bei Streichen meist nicht als Anführerin mit, denn dazu ist sie wiederum zu pflichtbewusst und zu fleißig. Ihr Ehrgeiz gilt der Schule, und als 14-Jährige lässt sie den «lieben Onkel Päuli» in Brasilien wissen:

«Auf das Examen mussten wir immer sehr viel Hausaufgaben machen, so dass ich kaum an einem freien Nachmittag einige freie Stunden erbeuten konnte. (…) Beinahe hätte ich das Wichtigste vergessen nämlich: dass ich um 1 ganze Note das bessere Zeugnis habe als meine ärgste Nebenbuhlerin!»1

Die Mutter ist erleichtert, als sie von der Großmutter ein altes Lexikon bekommt, damit sie die Fragen ihrer Ältesten nachschlagen kann. Das «Trutli» ist anstrengend, will ständig argumentieren und noch mehr erklärt haben. Dagegen ist «Bethli», die Jüngere, ein pflegeleichtes Mädchen, dem Schulnoten und Wettkampf weniger bedeuten. Nach Brasilien schreibt Bertha: «Bethli ist eine gemütliche Seele – das Gegenteil von einem ‹Streberli›. Trutli muss gebremst werden & Beth gestossen – was Schulsachen sind!»2 Auch die Großtante bemerkt diesen Charakterunterschied, und obwohl sie im Aargau eine der ersten Volksschullehrerinnen ist, beobachtet sie Gertruds Streben mit Missbehagen und prophezeit ungute Folgen. Bertha an Paul: «Die Tante Lehreri in Boswil behauptete – s’Bethli sei viel s’Gescheitere – es bleibe gesund & die ander tüeg si gwüss nu überstudiere & werde krank – nei – mer wänds bei Gott nid hoffe!»


«Wenn man noch zwischen 20 + 30 steht, nimmt man s’Heiraten noch nicht schwer, & das ist schon ein Glück an sich.»

Bertha Heinzelmann-Zimmermann an Paul Zimmermann

Bertha, geborene Zimmermann, und Hans Heinzelmann, beide keine 30 Jahre alt, bei der Heirat 1913.

Für die Schulkolleginnen ist Elisabeth einfach das «Bethli», das man niemals «Heinz» gerufen hätte. Charakterlich sei sie die feinere gewesen und habe dem Vater geglichen, und Gertrud habe mehr der Mutter nachgeschlagen, sagt die Schul- und Spielkameradin Lotti Burri. Elisabeth ist ausgeglichener und anschmiegsamer, «von Morgen bis Abends lieb & gemütlich», und erfreut mit «goldenem Humor»3. Sie stickt und strickt und ist der älteren Schwester in traditionell weiblichen Arbeiten weit überlegen. Musisch begabt, fallen ihr Zeichnen und Malen leicht, später wird sie Landschaften aquarellieren und mit Kohle die Familienmitglieder porträtieren. Als sie mit 55 Jahren an Krebs stirbt, sagt Gertrud Heinzelmann an der Abdankungsfeier über ihre Schwester: «Als kleines Kind hatte sie schon eine besondere Liebe zu Käfern, Vögeln und Blumen, und ich erinnere mich, wie sie im weissen Sonntagsröckchen der damaligen Zeit sich am Sonntag morgen bäuchlings auf den Gartenweg legen konnte, weil ein goldschimmernder Käfer sie faszinierte. (…) Sie war ein Mensch des kultivierten künstlerischen Details.»

 

Elisabeth versucht körperlich mit der Ältern mitzuhalten, beginnt ebenfalls zu skifahren und zu klettern, ist aber auch hier weniger ehrgeizig. Am Klavier erteilt sie Gertrud, die eisern übt, böse Niederlagen, und Gertrud kontert mit Schulleistungen. Die schmerzhafteste Kränkung aber liegt für Gertrud auf weiblichem Gebiet. Sie sagt: «Ich hatte Schlitzäugli wie der Vater, ein wenig hängend, und meine Schwester hatte schöne, grosse Augen, die immer sehr bewundert wurden. Das war eigentlich ihr Schönheitszeichen. Ich musste aber zufrieden sein mit meinen Schlitzäugli, die mir aber gut gefallen haben.» Es demütigt sie, dass die jüngere Schwester überall wegen ihres Aussehens bewundert wird und wegen ihrer Liebenswürdigkeit wohlgelitten ist, hingegen sie selbst trotz ihrer Intelligenz weniger gilt, selbst bei der Mutter. In Gertruds Domäne behandelt Bertha ihre Töchter ungleich und bewertet die schlechteren Schulleistungen von Elisabeth besser: «Wenn mir die Kleine im Rechnen ein 5–6 heimbringt, so freut mich das mehr als Trutlis 6i, denn bei Trutli ist die beste Note selbstverständlich, – bei der Kleinen nicht, – die muss schuften bis alles eingeht!»4 Als Gertrud das beste Zeugnis ihrer Schulklasse nach Hause bringt, schreibt Bertha nach Brasilien: «Wir! bilden uns deshalb nichts ein, freuen uns aber dennoch am Erfolg.»5

Im traditionellen Bereich weiblicher Schönheit, Elisabeths Domäne, behandelt Bertha ihre Töchter hingegen gleich. Sie kauft für die Garderobe der Mädchen denselben Stoff, von bester Qualität an vornehmster Zürcher Adresse, und die Hausschneiderin Ida Rüegg näht daraus Kleider, für beide exakt dieselben. «Das hat mich wütend gemacht. So haben uns die Leute in Wohlen von Weitem gesehen. Dann hiess es, ‹ah Du bist also die Schwester von Beth›. Ganz schlimm war es an der Fastnacht. Ich wollte eine möglichst hässliche Maske anziehen, und meine Schwester wollte lediglich schön sein. Sie wollte keine Maske tragen oder höchstens bei den Augen. Und ich», so Gertrud Heinzelmann im Rückblick, «musste immer nachgeben. Immer war ich die Ältere, die vernünftig zu sein hatte.»

Ida Rüegg, die während vier Jahrzehnten die Sonntags- und Werktagsröcke, die Sommer- und Winterkleider der Familie Heinzelmann nähte, notiert als Rentnerin auf einem Blatt 1971 einige Erinnerungen. Warum sie dies tat, ob aus eigenem Antrieb oder auf Wunsch von Gertrud Heinzelmann, die als Gymnasiastin beginnen wird, die Familiengeschichte zu dokumentieren, das geht nicht aus dem Schreiben hervor. Die unterschiedlichen Charaktere der Schwestern skizziert Ida Rüegg so:

«Betli hatte von jung auf einen ausgesprochenen Schönheitssinn, es interessierte sich für die Königsfamilien, wie es dort zu- u. herging. Seine eigenen Bedürfnisse wählte es immer schön u. gut; es wählte den grossen Rahmen. Gertrud war dagegen sehr bescheiden in ihren Ansprüchen. Der Intellekt stand bei ihm im Vordergrund. Während ihren Studienjahren war sie sehr darauf bedacht, ihren Eltern nur die nötigsten Ausgaben zu machen.

Frau Heinzelmann sagte oft im Gespräch zu mir, Gertrud sei äußerst bescheiden für sich. Wenn es etwas Nötiges anschaffen müsse, suche es sich etwas im Ausverkauf, so dass sie ihm zu Hause ‹der billige Jakob› sagten.»

Die Zurücksetzung durch die unterschiedliche Bewertung von Intellekt und Schönheit, die Kränkung durch den familieninternen Spott, wenn sie beim Einkaufen das Billigangebot nutzte, schlägt bei Gertrud Heinzelmann manchmal in Geringschätzung gegenüber der Schwester um. Im hohen Alter sagt Gertrud Heinzelmann: «Meine Schwester war eine ‹Gluschteva›.» Damit meint sie eine Frau, die wie Eva zu verführen versteht und ihre Lust nicht beherrschen kann. Elisabeth sei am Tisch der Erwachsenen betteln gegangen und habe von den Tellern immer das Stück bekommen, das sie wollte. Für sie selbst dagegen sei Betteln unter jeder Würde gewesen. Um sich von der jüngeren Schwester abzugrenzen, demonstriert sie erst recht Eigenwilligkeit und Unabhängigkeit. Als betagte Frau sagt sie über sich: «Ich habe die Leute sehr gerne. Es gibt Leute, die ich schätze und so weiter, aber dieses Anlehnende von Elisabeth war bei mir nicht drin.»

Gertrud besucht die erste oder zweite Schulklasse, als sie, mit grüner Gärtnerschürze ausstaffiert, auf Wohlens Dorfstraßen Rossmist für den Garten einsammelt, sich zum Mist in den Leiterwagen setzt und den Kirchenrain hinunterrumpelt. Dies gehöre sich nicht für eine wohlanständige Bürgerstochter, findet die Großmutter Barbara Bertha Müller, verheiratete Zimmermann. Rossmistsammeln sei die Beschäftigung der «Fabrikler», die Enkelin solle ihre Zeit mit schicklicheren Tätigkeiten verbringen. Die so genannten «Fabrikler», Wohlens arme Leute, verdienen in den Strohfabriken oder in Heimarbeit zwölf Rappen auf die Stunde und müssen beim Bäcker für ein Pfund Brot den Lohn von zwei Stunden Flechtarbeit hinlegen. Mutter Bertha sieht nichts Unanständiges in Gertruds Vergnügen und lässt die Tochter gewähren. Soll sie den Kirchenrain, Wohlens steilste Abfahrt, hinunterkesseln, das will sie ihr nicht nehmen, allerdings, die Tochter hat rechtzeitig abzubremsen, bevor an der Bünzstraße das großelterliche Haus in Sicht kommt, und darf sich keinesfalls mit ihrer Wagenladung erwischen lassen.


«An Ostern hat uns der Osterhase wacker ‹gleit›: 1 grosser ‹Tschutball› (was schon lange unser sehnlichster Wunsch gewesen ist), ferner jedem ein Paar handgestrickte Strümpfe von der Grossmutter (die sie schon zu Weihnachten begonnen hat, sie waren aber so hart gestrickt, dass wir eine volle halbe Stunde brauchten, bis wir glücklich drin waren), dann jedem 1 Chocoladen- und ein Nougatei.»

Gertrud Heinzelmann an Paul Zimmermann

Elisabeth, die jüngere Schwester, und Gertrud Heinzelmann (ii), um 1922.

Die Großeltern mütterlicherseits sind Lehrersleute, nicht vermögend, auch nicht arm wie die «Fabrikler», mit bürgerlichem Klassenbewusstsein, das sich nach unten deutlich abzugrenzen weiß. Dabei reichte einst der Lohn von Lehrer Franz Josef Zimmermann nirgends hin, um seinen vier Kindern eine solide Ausbildung zu ermöglichen. Damit die Söhne Max, Franz und Paul eine kaufmännische Lehre machen konnten und Bertha nicht bis zur Verheiratung Kartoffeln schälen musste, arbeitete er, assistiert von seiner Frau, abends und am Wochenende als «Agent der Schweizerischen Mobiliar-Versicherungsgesellschaft». Die Kunden kamen zu ihm nach Hause und wurden ins Büro geleitet, wo schwarz gerahmt ein Pergament hing, auf dem eine Tiara mit zwei gekreuzten Schlüsseln prangte, und darunter stand: «Unterzeichneter Hauptmann Comandant der Schweizergarde Sr Päpstlichen Heiligkeit Pius IX. ertheilen hiemit dem unter Matrikel No 297 eingeschriebenen Halbardier Zimmermann Joseph seinen absoluten Abschied. Eingetreten als Halbardier den 1sten Weinmonat 1866. Ausgetreten den 1sten Herbstmonat 1868.» Unter dem Fluidum des päpstlichen Arbeitszeugnisses verkaufte der ehemalige «Halbardier», ein mit Hellebarde ausgerüsteter Schweizergardist, den Bauern und «Fabriklern» Lebensversicherungen und verhandelte Schadensfälle. Möglich, dass er dabei in der militärischen Haltung des einstigen Gardisten hinter seinem Pult saß. Auf dem Gruppenbild der Wohler Lehrerschaft präsentierte sich keiner derart stramm und energisch dem Fotografen wie er. Die päpstliche Urkunde vermerkte bei den Personalangaben: «Grösse: 5’5’’. Mund: klein. Haar: kastanienbraun. Kinn: spitzig. Stirne: mittel. Gesicht: oval. Augen: grau. Profession …» Josef Zimmermann war dem Papst gewissermaßen zugelaufen, Brotberuf hatte er keinen, denn er war aus dem Kloster ausgerissen, wo er nach dem Willen der Familie hätte Ordensbruder werden sollen.

Seine Frau Barbara Bertha hätte gerne ein Klavier gehabt, doch Josef Zimmermann stand der Sinn nicht nach Hausmusik, er fand, sie habe mit der Versicherung und den vier Kindern mehr als genug. Seine musikalischen Bedürfnisse gingen über Gardisten- und Trinklieder nicht hinaus. Auch im Alter, er ist längst im Ruhestand, singt er seiner Enkelin am liebsten den Reim von der bezahlten oder nicht bezahlten halben Maß Bier vor: «Garibaldi zahl mir eine Halbi, und zahlst Du mir die Halbi nicht, bist Du der Garibaldi nicht.» Er erzählt Gertrud abenteuerliche Geschichten aus seiner Italienzeit, auch, dass er für Papst Pius IX. ins Feld gezogen sei. Der Gegner war Giuseppe Garibaldi, der mit seinen Freischaren Rom stürmen wollte, weil sich der konservative Papst gegen einen selbständigen Nationalstaat wehrte und auf der Unterordnung unter seine Hoheit beharrte. Klein-Gertrud erzählt Josef, es seien bloß Scharmützel gewesen, die Schweizer hätten auf dem Schlachtfeld in die Luft geschossen. Im Herzen seien sie für den Fortschritt, für staatliche Souveränität und für Garibaldi gewesen, auch wenn sie den Sold beim Papst bezogen hätten. Trotz aller Liebe schlugen sie Garibaldis Truppen mit französischer Hilfe. Auf der Urkunde im Büro an der Wohler Bünzstraße stand unter «Bemerkung»: «Mit dem silbernen Kreuze vom Feldzug des Jahres 1867 decorirt.»

Seine Kinder erzog Josef Zimmermann mit vaterländischer Begeisterung, und den Söhnen pflanzte er männliche Wehrhaftigkeit ein. Ein Bild davon, wie Josef Zimmermann seine Knabenklassen unterrichtet haben mag, gibt der «Wohler Anzeiger» im Nachruf auf den redegewandten Dorflehrer: «Als urchigem Schweizer war ihm auch der Geschichtsunterricht Herzenssache. Da hingen Aug und Ohr an seinem Munde, es ballten sich insgeheim die jungen Schweizerfäuste, es blitzten die Augen, und erleichtert atmeten sie auf, wenn in der weiteren geschichtlichen Darbietung der Sieg sich an die Waffen der Eidgenossen heftete. Freudiger und trutziglicher klangen dann wieder die alten Schweizer Weisen.»6

Josefs Söhne Franz und Paul, der Jüngste, dienten im Ersten Weltkrieg in der Schweizer Armee, während Max, der Älteste, wegen zu kleinem Brustumfang als dienstuntauglich abgewiesen wurde. Er arbeitete für die Wohler Strohindustrie in Brüssel, und als seine Kollegen die belgische Hauptstadt verließen und zur Generalmobilmachung in die Schweiz zurückreisten, schrieb er nach Hause: «Es waren über 100 Schweizer, die via Lille & Paris der Heimat zu eilten. Heute gehen nochmals so viel fort. Nur die Alten, die Landstürmler und die Untauglichen bleiben da. Ich habe mich meiner Lebtagen noch nie so geschämt, wie gestern auf dem Bahnhof, als mir alle Kameraden zuriefen: Kommst Du nicht? und ich sagen musste, nein. Weiss ich, was für eine Ausrede ich gestammelt.»7

Noch am selben Tag besetzten deutsche Truppen das neutrale Belgien, und Max, in seinem Männerstolz verletzt, meldete sich als Freiwilliger bei der belgischen Armee. «Wir stammen vom Waldstätter See her, wo das Rütli grünt und haben den Geist, die Gesinnung dieses Landes von vielen Generationen her geerbt und bewahrt»8, schrieb ihm darauf sein Vater anerkennend, doch Josef Zimmermanns Brief erreichte ihn nicht mehr. Max, später als verschollen gemeldet, fiel im Kampf, möglicherweise ertrank er auch in den Feldern, die von den Belgiern überflutet worden waren, um die Deutschen am Vormarsch zu hindern. Nach dem Krieg ließ sich Franz in London nieder und passte seinen Vornamen an; Paul lernte das Ledergerben, ging für den Schweizer Schuhhersteller Bally zuerst nach Argentinien, dann nach Brasilien.

 

Der alte Mann mit seinem mächtigen, weißen Bart imponiert Gertrud, und sie ist ungemein stolz auf die päpstliche Urkunde, die in Wohlen einzig in der Stube ihres Großvaters hängt. Denkbar, dass er auch den Nationalstolz seiner Enkelin weckte, die später als Frauenstimmrechtlerin patriotische Gefühle zeigen und beim Kampf um politische Gleichberechtigung mit legalen Mitteln ihrem Land die Treue halten wird. Als Josef Zimmermann stirbt, ist sie zwölf Jahre alt. Sie habe es kaum ertragen, als man bei der Wohnungsräumung den schwarzen Bilderrahmen mit der Urkunde von der Wand genommen und das päpstliche Pergament herausgeschnitten habe, sagt sie.


«In der Ewigen Stadt trat er anno 1866 als Halbardier der Schweizergarde in den Dienst Papst Pius IX., machte anno 1867 den Feldzug gegen die Garibaldianer mit und verdiente sich das silberne Ehrenkreuz. Doch das fremde Soldatenleben, das einen Teil seiner Schaffenstriebe stillzulegen drohte, behagte ihm nicht, und damit reifte sein Entschluss: Er wollte Lehrer werden.»

«Wohler Anzeiger»

Grossvater Josef Zimmermann (1846-1926) mit Gertrud Heinzelmann, um 1918.

Gertrud Heinzelmanns Jugend im Wohler Bahnhofsquartier ist wohlbehütet. Vermutlich nimmt sie als Kind wenig von den Auseinandersetzungen zwischen den aufbegehrenden Arbeitern und den «Strohbaronen» wahr, die keine besseren Löhne zahlen und die Gewerkschaft nicht anerkennen wollen. Dieses historische Wissen wird sie sich erst später angeeignet haben oder die Eltern erzählen es ihr im Nachhinein. Sicher sind ihr aber die äußeren Unterschiede zwischen der eigenen Familie und den «Fabriklern» in ihren schäbigen Kleidern aufgefallen. Doch zu Hause orientiert man sich nach oben, die Eltern pflegen Kontakt mit dem einen oder anderen Familienmitglied der «Strohbarone» Bruggisser und sind mit Wohlens reichem Mühlebesitzer befreundet. Die Kontaktpflege geschieht im Bewusstsein, dass die väterliche Herkunft nobel ist. Was dies zu bedeuten hat, wird Gertrud und Elisabeth während der Schulferien im Nachbardorf bleibend vor Augen geführt.

Boswil liegt unterhalb des Lindenbergs, wo sich die Moore ausdehnen, durch die das Flüsschen Bünz nach Wohlen hinunter fließt. An klaren Tagen sieht man vom Dorfrand aus am Horizont die ersten Häuser von Wohlen, sehr zum Ärger von Gertrud, dennoch erscheint ihr der Ferienort unvergleichlich. Hier gehören die Heinzelmanns selbst zu den Landhausbesitzern, während sie in Wohlen von ihrer Mietswohnung aus zu den Villen der «Strohbarone» hinüberblicken. Zwar wirkt das Haus aus der Biedermeierzeit verglichen mit dem Eigentum der «Strohbarone» schlicht und unscheinbar, aber für Boswiler Verhältnisse ist es auch in Gertrud Heinzelmanns Kindheit ein feudaler Sitz. Im Dorf gibt es keine Fabrikschlote, keine schmucken Anwesen und keine Besuche ausländischer Unternehmer, stattdessen dominiert seit alters der Kirchturm über den Bauernhäusern, und aus der Ferne mahnt das Kloster Muri. Da fallen standesgemäße Extras ins Gewicht. Die Scheune, in der einst Pferde und Kutsche untergebracht waren, ist nicht wie bei einer Bauernbehausung an das Wohnhaus angebaut, sondern steht vornehm auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Zum weiteren Komfort des Hauses zählt in der Küche ein imitierter, antiker Brunnen mit fließendem Wasser. Auf dem Zwischenstock im Treppenhaus steht seit seiner Erfindung ein Wasserklosett. Hier gibt es keine dieser «senkrechten Kegelbahnen», wie Gertrud Heinzelmann die Holztoiletten nennt, die sich bei der Nachbarschaft im Hinterhof befinden. Im Frühling wachsen im Garten hinter Buchseinfassungen Spargeln, damals eine seltene und wenig bekannte Delikatesse. Im Herbst hängen in der Küche Rehe und Hasen aus der Jagd am Lindenberg, und im Glaskasten im oberen Stockwerk sind die Trophäen ausgestellt, besonders prächtige und seltene Vögel, die einst die Vorfahren in den Mooren geschossen hatten. – Soweit einige Annehmlichkeiten des gehobenen Lebensstils, der seinen Charme noch in Gertrud Heinzelmanns Jugend verbreitet.

Die Instanz im Boswiler Anwesen ist Großtante Salesia Rietschi. Auch im Alter von sechzig Jahren ist sie eine gepflegte Erscheinung von schlichter Eleganz, großgewachsen und schlank, mit stets sorgfältig hochgesteckten Haaren. Im Familienkreis heißt es viel sagend: «Sie hat das Dröhtli.» Das bedeutet, sie zeigt aristokratische Haltung und trägt den Kopf majestätisch erhoben, als hätte sie zur Verstärkung einen Draht im Hals. Kein Vergleich mit Babeli Christen von Hinterbüel, ihrer Magd, die bei ihr ein Leben lang dient, Haus und Garten bestellt und von der harten körperlichen Arbeit immer gebückter wird. Salesia Rietschi ist die leibhaftige Summe einer familiären Vergangenheit, die glanzvoller war als die Gegenwart, und dem Abstieg hält sie die geistigen Werte früherer Generationen entgegen.


«Haus Boswil mit Salesia Rietschi + Barbara Christen (‹Magd› lebenslänglich, ‹Familienstück›, sehr geliebt), Mitte Jagdhund ‹Herta›.»

Notiz von Gertrud Heinzelmann auf der Rückseite der Fotografie

Grosstante Salesia Rietschi (ii) vor dem Familiensitz im aargauischen Freiamt, um 1930.

Im Biedermeierhaus saßen im Salon einst die Vornehmen und Gebildeten aus der Region und tranken Tee aus feinem Porzellan. Im unteren Stockwerk befand sich die Praxis und die Apotheke des Hausherrn, des weltgewandten Bezirksarztes Johann Huber, der in der feuchten Umgebung der Moore und im nahen Kloster Muri viel zu kurieren hatte. Im Doktorhaus verkehrten die politisch Fortschrittlichen, Liberale und Freisinnige, die während des Machtkampfes zwischen modernem Staat und katholischer Kirche auf staatlicher Seite gekämpft hatten und wegen ihrer Gesinnung aus der Innerschweiz ins Freiamt flüchten mussten. Häufiger Gast war auch Niclaus Rietschi, ein Sprössling aus der Luzerner Stadtaristokratie, der zum Missfallen der Kirche das erste städtische Seminar für Töchter gegründet hatte und nach liberalen Vorstellungen leitete, bis er vertrieben wurde. Zurück ließ er Hab und Gut, in Kastanienbaum am Vierwaldstättersee die lauschige Villa Krämerstein, einst die Mitgift zu seiner Vermählung mit der florentinischen Aristokratin Salesia Falcini. Einer der Söhne fand im Boswiler Doktorhaus an einer Huber-Tochter Gefallen, und so heirateten sich Blaublütigkeit und der Name Rietschi ins Freiamt ein. Diese Ehe brachte zehn Kinder hervor, darunter Gertrud Heinzelmanns Großmutter Sophie und Großtante Salesia. Der wirtschaftliche Niedergang hatte mit der Vertreibung der Rietschi-Falcini begonnen, und die Tuberkulose, die im Doktorhaus wütete, tat ihr übriges.

Die Großtante und ihr älterer Bruder Theodor sind die letzten, die den Namen Rietschi tragen. Im Dorf verkehrt Salesia nicht mit Krethi und Plethi, und sie legt großen Wert darauf, dass im Kreuzgang der Luzerner Hofkirche die Grabplatte mit den Namen ihrer noblen Vorfahren gut lesbar bleibt. Sie heiratete nie und verdiente ihren Lebensunterhalt als Dorflehrerin. Auf dem Klassenfoto von 1910 erhebt sie ihr Kinn stolz über der Kinderschar, und an ihrer Seite hockt artig Jagdhündin Herta. «Mit etwas aristokratischem Einschlag»9 umschreibt die Boswiler Chronik das «Dröhtli», das nach dörflichem Verständnis als verstiegenes Gehabe erschienen sein mag. Die Dorfjugend setzte der ersten Gemeindelehrerin zu, und sie musste die mittleren Klassen aufgeben, übernahm die Schulanfänger, «wo sie ihre Autorität durchsetzen und wo ihr einwandfreier Unterricht Erfolg bringen konnte», so die Dorfchronik. Ihre Großnichten waren noch nicht auf der Welt, als sie vorzeitig vom Schuldienst zurücktrat. Boswil ernannte seine ehemalige Lehrerin zur Ehrenbürgerin, und die Chronik schilderte sie als «pflichtgetreu, edelgesinnt» und bei Not hilfsbereit.

Ihren Nichten erzählt Salesia aus dem Leben der Vorfahren, als wären es Märchen, und Gertrud bekommt vom Fragen nicht genug. Im Gymnasium oder in den ersten Studiensemestern beginnt sie sich politisch an den väterlichen Vorfahren zu orientieren, die mütterliche Seite interessiert sie kaum. Bei ihren Besuchen im Doktorhaus setzt sich Salesia im Salon auf die Bank des Kachelofens, kramt ein vergilbtes Foto der blaublütigen Falcini hervor, und die Nichte schreibt auf feine Bleistiftlinien in ihr Ahnenbuch: «Die Falcini. Florentiner-Aristokraten, entstammten einem Schloss der Toscana. Aus politischen Gründen mussten sie auswandern.» Dann wechselt sie von schwarzer Tinte zu roter und fügt hinzu: «Sie waren freisinnig.» Zum Foto von Salesia Falcinis Ehemann, dem liberalen Luzerner Stadtaristokraten, notiert sie (schwarze Tinte): «Niclaus Rietschi wirkte als Seminardirektor in Luzern.» Dann in roter Tinte: «Er war freisinnig.» Fortsetzung in Schwarz: «Als in Luzern die konservative Richtung die Oberhand gewann, musste er sein Amt niederlegen.»