Netzwerke in pastoralen Räumen

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Robert Kesckes/Christof Wolf103 untersuchten in der Stadt Köln den Einfluss von Religion und Konfession auf soziale Netzwerke. Ihren Ergebnissen zufolge sind sozialstrukturelle Faktoren sehr wichtig für Größe und Dichte von Netzwerken. Je mehr auf die persönlichen, fluiden Netzwerkkontakte gesetzt wird, desto geringer ist der Anteil von Menschen aus den unteren Schichten. Weiterhin wurden ein positiver Zusammenhang zwischen Netzwerkgröße und Bildung sowie ein negativer Zusammenhang zwischen Netzwerkgröße und Alter diagnostiziert. Die Netzwerkdichte variiert wiederum positiv mit Alter und negativ mit Bildung.104 Auch die räumliche Ausdehnung der Netzwerke steigt mit Bildung und sozialem Status.105 Ebenso steigt mit der Bildung auch die Heterogenität (Alter, Konfession, Kirchgang, Religiosität) in Ego-Netzwerken.106 Die Autoren identifizieren zudem stärkere Homophilie unter Katholiken als unter Protestanten und Konfessionslosen.107 Zum Einfluss von Religiosität auf soziale Netzwerke stellen sie eine positive Korrelation von religiösem Wissen und Netzwerkgröße fest; d.h., je mehr religiöses Wissen vorhanden ist, desto größer ist auch das soziale Netzwerk – und umgekehrt. Religiöse Praxis korreliert leicht positiv mit der Netzwerkgröße und leicht negativ mit der Netzwerkdichte; umgekehrt wirkt sich die Teilnahme an religiösen Ritualen leicht negativ auf die Netzwerkgröße und leicht positiv auf die Netzwerkdichte aus.108

In einem sehr aktuellen, kurzen Beitrag hat Rainer Schützeichel eine organisationssoziologische Analyse zur aktuellen Organisationsform (vgl. 3.3) der Kirchen in Deutschland versucht, indem er in folgender These auch die Handlungskoordination des Netzwerkes hinzuzieht:

„Auf der einen Seite, nämlich nach ‚oben‘, finden wir eine Tendenz zu organisierter Religion. Hier geht es um Gedächtnisleistungen, Stabilisierungen über die Zeit hinweg, um Verwaltung, Infrastruktur, formale Mitgliedschaft und die Bereitstellung von Adressen für die gesellschaftliche Kommunikation. Auf der anderen Seite, nämlich nach ‚unten‘, fransen die Sozialformen als Netzwerke aus. Hier geht es um das ‚Believing without Belonging‘, um Glauben und Glaubenskonflikte.“109

Aktuell ist zu beobachten, dass netzwerkanalytische Aspekte zunehmend in etablierte Erhebungsinstrumente integriert oder ergänzend erhoben werden. So findet man in den Fragebögen des Religionsmonitors110 und in der EKD-Mitgliedschaftserhebung auch Abschnitte, in denen relationale Daten erhoben werden.111 Diese fließen dann als religiöse Ego-Netzwerkdaten in die Ergebnisse der Studien ein.

4.3 METAPHER ODER METHODE: DIE PASTORALTHEOLOGISCHE REZEPTION DES NETZWERKBEGRIFFES

4.3.1 ERSTE PASTORALTHEOLOGISCHE REFERENZEN AUF DAS NETZWERKKONZEPT

Seit Beginn dieses Jahrtausends setzt sich auch die Pastoraltheologie angesichts der von ihr festgestellten fundamentalen gesellschaftlichen Wandlungsprozesse und der nicht mehr passenden bereitgestellten religiösen Sozialformen mit neuen Möglichkeiten von Religiosität und ihrer Organisation auseinander.112 Dabei gewann besonders das Netzwerkkonzept in den letzten Jahren an Konjunktur. Seit der Jahrtausendwende haben sich einige PastoraltheologInnen mit Anwendungsmöglichkeiten des Netzwerkbegriffs im Hinblick auf die pastorale Praxis beschäftigt. Als Impulsgeber und Referenzpunkt für den aktuellen Diskurs können die Arbeit des niederländischen Theologen Johannes van der Ven, „Kontextuelle Ekklesiologie“113, und die Habilitationsschrift von Franz-Peter Tebartz-van Elst, „Gemeinde in mobiler Gesellschaft“114, ergänzt durch den Band „Gemeinden werden sich verändern – Mobilität als pastorale Herausforderung“115, angesehen werden.

Johannes Van der Ven beschreibt als niederländischer empirischer Theologe116 in seinem Buch „Kontextuelle Ekklesiologie“ die Funktionen und Codes von Kirche in der aktuellen Gesellschaft. Hiermit will er zur Entwicklung der Ekklesiologie aus praktisch-theologischer Perspektive beitragen. Ziel seines Werkes sei „primär die Entwicklung der theologischen Theorie der Kirche im Kontext der westlichen Gesellschaft“117. Dabei macht er sich mithilfe der zu seiner Zeit aktuellen strukturfunktionalistischen soziologischen Modelle, vor allem Parsons’ Systemtheorie, Gedanken über die Rolle von Kirche unter dem Einfluss der Modernisierung (vor allem den Prozessen der funktionalen Differenzierung, Urbanisierung, Individualisierung, religiöser Diversifizierung).118 Das Netzwerk kommt bei ihm dezidiert als eine Perspektive auf Kirche vor, um die Integrationskraft als eine Funktion von Kirche beschreiben und bewerten zu können. Van der Ven beschränkt seine Netzwerkperspektive auf die Beziehungen zwischen lokalen kirchlichen Gruppen, zwischen denen über dieses Vehikel vor allem die Stärke und Dichte ihrer Beziehungen analysiert werden können. In seiner Darstellung der Netzwerkperspektive bezieht sich van der Ven auf sozialwissenschaftliche Erkenntnisse119

So unterscheidet van der Ven z. B. zwischen unterschiedlichen Netzwerkdichten in verschiedenen Gemeindeformen (Gemeindekirche vs. Passantenkirche) und wendet damit die Netzwerktheorie auf empirisches Erfahrungswissen an. Die frühe Übertragung des Netzwerkkonzeptes durch van der Ven ist zwar noch recht unspezifisch, bewegt sich aber innerhalb der Logik des soziologischen N etzwerkkonzepts.

Der Unterschied zu den Arbeiten von Franz-Peter Tebartz-van Elst120 wird schnell deutlich. Auf den lange tradierten Gemeindezentrismus postvatikanischer Prägung verweisend sucht er mithilfe des Netzwerkbegriffes einen Ausweg für eine zukunftsgewandte Pastoraltheologie. Ganz im Gegensatz zu van der Ven ist er nicht am Fortschritt ekklesiologischer Theoriebildung, sondern an der Neuausrichtung der kirchlichen Praxis orientiert. Dies zeigt sich schon allein daran, dass er als Referenz für Netzwerksoziologie praktisch ausschließlich das Werk des Sozial- und Gemeindepsychologen Heiner Keupp und seinem Kollegen121 sowie deren Erfahrungen in der „Beziehungsarbeit“122 heranzieht.

Zu diesem Zweck gebraucht er den Netzwerkbegriff in seiner Habilitationsschrift ausdrücklich metaphorisch.123 Dies zeigt auch folgende Grafik, die Tebartz-van Elsts Vorstellung von Netzwerk verdeutlichen soll. Auch wenn diese Darstellung aus Kreisen und Verbindungslinien besteht, so hat sie doch wenig mit dem soziologischen Konzept, das soziale Beziehungen grafisch darstellt, gemein.


Abb. 6: Netzwerkgrafik Tebartz-van Elst I 124

In seiner Weiterentwicklung beschreibt Tebartz-van Elst das Netzwerk nun ausdrücklich als Sozialform,125 der er die Eigenschaften Dezentralität, Interaktivität, Integration, Mobilität, Entfaltungsraum, Qualität (statt Quantität) von Beziehungen, Ressourcenaustausch, Verknüpfung von personalen und systemischen Anteilen zuspricht. Unter Bezug auf diese Attribute prognostiziert Tebartz-van Elst eine „neue Sozialgestalt von Gemeinde als Netzwerk“126. Theologisch gewendet versteht er dann Gemeinden als Communio-Netzwerke, in denen sich die Vernetzung vielfältiger Charismen im großen pastoralen Raum verwirklichen lasse,127 um in der Folge pastoralpraktische Perspektiven zu entwickeln.128


Abb. 7: Netzwerkgrafik Tebartz-van Elst II 129

Beide anerkannten Theologen, Johannes van der Ven und Franz-Peter Tebartzvan Elst, verweisen mit Nachdruck auf die Relevanz der Netzwerkperspektive für die Pastoraltheologie und pastorale Praxis und sind somit als Pioniere des Netzwerkgedankens für die theologische Anwendung zu betrachten. Die fachinterne Rezeption der Netzwerktheorie entwickelte sich allerdings nur langsam weiter.

Michael Hochschild näherte sich dann um die Jahrtausendwende mit gleich drei ausführlichen Texten dem Netzwerkthema an.130 In seinem ersten Aufsatz131 versucht er, unter Heranziehung von netzwerktheoretischen Klassikern132 eine Zukunftsvision von Kirche als sozialem Netzwerk zu begründen. Das Netzwerk ist dort für ihn

„eine bestimmte Sozialform, deren Charakteristikum es ist, daß sie selbst wiederum aus verschiedenen sozialen Einheiten besteht, mit anderen Worten: daß sie sich als pluriform ausweist und sich dadurch dem diffusen religiösen Feld innerhalb des Christentums empfiehlt und angemessener ist als ein Entweder- Oder, als eine entweder Organisation oder Kommunikation beziehungsweise – einmal ins Pastorale verlängert – entweder Gemeindepastoral oder Sozialpastoral oder gar Kommunikationspastoral.“133

Und weiter:

„Unter einem sozialen Netzwerk versteht man eine Menge von sozialen Einheiten zusammen mit den zwischen diesen Einheiten bestehenden sozialen Beziehungen. Kurzum: Ein Geflecht mit mehr als einem Zentrum, bildlich gesprochen: eben der Art eines Flickenteppiches entsprechend, auf den ich bereits im Zusammenhang mit der aktuellen Herausbildung religiöser patchwork-Identitäten zu sprechen kam.“134

In seinen weiteren Ausführungen zu Kirche als sozialem Netzwerk nimmt Hochschild jedoch nur noch kursorisch Bezug auf netzwerksoziologische Grundlagenliteratur und begründet seine Thesen zu Plurizentralität135, Koordinations-notwendigkeit136, „hoher Integrationskraft“137, Pluriformität138 und „differenzierter Zugehörigkeit“139 nicht netzwerktheoretisch. Hinzu kommen zwei Missverständnisse in Bezug auf die Netzwerkforschung, die eine intensive Auseinandersetzung in diesem Zusammenhang bezweifeln lassen.140 Dennoch ist dieser Aufsatz als erstes Vordringen und ernsthafter Syntheseversuch von Netzwerkforschung und Pastoraltheologie zu würdigen.

 

Ein Jahr später141 unternahm Hochschild eine Spezifizierung dieser Idee, indem er in einer wiederum langen Abhandlung „Neue Geistliche Gemeinschaften“ als soziale bzw. religiöse Bewegungen sieht und diese als netzwerkförmig verbunden wissen will. In der nun anbrechenden nachkirchlichen Verfasstheit des Christentums als Organisation sieht er neue geistliche Gemeinschaften und Bewegungen als Prototyp seiner Vorstellung vom Katholizismus der Zukunft. Hier greift er im Wesentlichen auf netzwerktheoretische Literatur aus der sozialen Bewegungsforschung zurück.142 „Unter einer Neuen Geistlichen Gemeinschaft oder Bewegung als sozialem Netzwerk versteht man allgemein eine Menge von sozialen Einheiten zusammen mit den zwischen diesen Einheiten bestehenden sozialen Beziehungen. Kurzum: Ein Geflecht mit mehr als einem, aber auch nicht ohne Zentrum.“143 Hier beschreibt er das Netzwerk als plurizentral144, mit offenen Grenzen145 und weitgehend selbstorganisiert146. Allerdings macht er diese Attribute an der empirischen Beobachtung Neuer Geistlicher Gemeinschaften fest.

Zuletzt erschien 2001 Hochschilds Buch „Auf der Schwelle in die Zukunft“147, in dem er dem Gedanken „Kirche als soziales Netzwerk“ ein eigenes Kapitel148 widmet. Da es sich hierbei jedoch eher um Ratgeberliteratur handelt, bleiben wissenschaftliche Bezüge zur Netzwerkforschung vollständig aus. Die Definition von 1999 übernehmend, beschreibt er hier ausführlicher die von ihm schon in seinen beiden Aufsätzen dargelegten Netzwerkattribute. Leider schleichen sich abermals soziologische Missverständnisse oder Ungenauigkeiten ein, die sich auch in den von ihm präsentierten Grafiken zeigen.149


Abb. 8:Netzwerkillustrationen Hochschild 150

Zusammenfassend kann zur pastoraltheologischen Adaption des Netzwerkbegriffs durch Hochschild festgestellt werden, dass dieser sich als einer der ersten TheologInnen intensiver – mit Blick auf die soziologische Literatur – mit dem Netzwerkkonzept und den praktischen Konsequenzen dieser Perspektive auf Kirche auseinandergesetzt hat. Allerdings bleibt er die theoretische Konkretion, empirische Belege oder aber die praktische Ausformulierung seines Netzwerkverständnisses schuldig. Die vorschnelle Anwendung ohne theoretisch fundierte Konkretion führt leider zu Missverständnissen hinsichtlich der soziologischen Grundlagen. In den Teilen, in denen es konkreter wird, scheint „Netzwerk“ bei Hochschild einerseits mehr eine Aspirationsmetapher mit den oben genannten Zuschreibungen als ein methodisches Instrument zu sein. Andererseits schließt er, obwohl er auch die Notwendigkeit der Netzwerksteuerung oder -leitung erwähnt,151 auch nicht an die unternehmenssoziologische Debatte an, da er Netzwerke marktförmig beschreibt: „Kirche als soziales Netzwerk sieht Tauschbeziehungen zwischen verschiedenen sozialen Unternehmern vor – ob von Personen oder Organisationen untereinander oder als Interaktion zwischen Person und Organisation. Nur so erreicht das Netzwerk seine Vitalität.“152

Die ersten Versuche einer Verwendung des Netzwerkbegriffes vonseiten deutscher Pastoraltheologen sind also eher als assoziative, theologische Begriffsaneignung denn als Integration eines sozialwissenschaftlichen Konzeptes für die theologische Theoriebildung und Praxis zu sehen. Doch könnte sich die Pastoraltheologie auf einige konzeptuell und methodologisch ausgezeichnete netzwerkanalytische Studien im kirchlichen Bereich berufen. Da gibt es z. B. die wegweisende Arbeit von White und Kollegen, die anhand einer auf Freundschaftsnetzwerken beruhenden Studie mithilfe einer Blockmodellanalyse die Austrittswelle eines Klosters und dessen folgenden organisationalen Zusammenbruch erklärten.153 Auf Grundlage dieses Datensatzes führten Whites Schüler weitere Analysen durch. So wurde u. a. die Blockmodellanalyse zur Identifizierung von ähnlichen Beziehungsstrukturen in Netzwerken entwickelt. Nancy Hermann konnte später die Ergebnisse von Sampson und White in ihrer eigenen Netzwerkanalyse einer anglikanischen Kirchengemeinde reproduzieren.154 Studien solcher Art haben bis heute leider kaum Beachtung gefunden.

In der Zwischenzeit sind auf Grundlage dieser Vorarbeiten einige pastoraltheologische Auseinandersetzungen zum Netzwerkthema entstanden. Im Folgenden sollen daher die Arbeiten zum Thema Kirche und Netzwerk, die dem Begriff des Netzwerks eine zentrale Stellung einräumen, kritisch gewürdigt werden.

4.3.2 EINZELNE BEITRÄGE AUS DER PASTORALTHEOLOGIE: NETZWERK ALS METAPHER


Abb. 9: Zitationsnetzwerkpastoraltheologischer Aufsätze zur Netzwerkthematik (eigene Darstellung)

Im Anschluss an diese ersten Arbeiten von van der Ven, Tebartz-van Elst und Hochschild wurde der Netzwerkbegriff in der Pastoraltheologie und -praxis populärer und breiter diskutiert. Zwischen 2001 und 2013 entstanden mehrere kürzere pastoraltheologische Aufsätze zum Netzwerkkonzept (s. große schwarze Knoten in der Grafik). Sie verbindet, dass sich all diese Texte immer wieder gerne der Begrifflichkeiten aus dem strukturalistisch-netzwerkanalytischen Reper- toire, wie „Knoten“, „Cluster“, „Bridges“ usw., bedienen. Nach einem ersten groben Überblick wird schnell klar, dass es sich in diesem Bereich weder um eine einheitliche Verwendung noch meist um einen umfassend reflektierten Umgang mit diesen Begrifflichkeiten handelt. Dies wird schon dadurch ersichtlich, dass die pastoralsoziologischen Arbeiten nicht an spezifische theoretische oder praktische Debatten der Netzwerkforschung anknüpfen. Die Referenzliteratur (in Abb. 9 als kleine graue Knoten dargestellt) beschränkt sich uneinheitlich auf Überblickswerke oder Lexikonartikel zur Netzwerksoziologie (Quadrate);155 zudem wird auch hier eher populärwissenschaftliche Ratgeberliteratur (Dreiecke)156 zur Ausführung der Argumente herangezogen. In diesen Texten geht es wohl nicht um die Anwendung eines spezifischen Netzwerkverständnisses und seine Konkretisierung für die pastorale Praxis. Vielmehr dient der Netzwerkbegriff in diesem Bereich als Sammelbecken sämtlicher Aspirationen in Bezug auf die Erneuerung pastoraler Praxis. Auf der Suche nach einem neuen Modell von Kirche in der Zukunft scheinen die mit dem Netzwerk verbundenen Attribute ein neues „Ideal“ pastoraler Praxis zu sein.

Die Bedeutung des Netzwerkkonzepts als Aspirationsort der Pastoraltheologie wird ebenso an seiner begrifflichen Ungeklärtheit deutlich. Keiner der pastoraltheologischen Autoren nimmt eine Definition seiner Begriffsverwendung vor. Hingegen verschwimmt der Begriff des soziologischen Netzwerkes in manchen Texten unreflektiert mit dem der sozialen Netzwerke in den Social Media157 und dem umgangssprachlichen „Networking“ oder auch „Klönen“158 – wobei sich die TheologInnen hier uneinig sind, ob nun die Gemeinde159, die Pfarrei160, der pastorale Raum oder die fusionierte Pfarrgemeinde161 oder gar die Kirche an sich162 zum „Netzwerk werden“ soll. Entsprechend werden mal einzelne Personen, mal ehemalige „geschrumpfte Gemeindeformen“163 als Knoten im Netzwerk beschrieben.

Angesichts dieser unspezifischen und uneinheitlichen Verwendung des Begriffes der sozialen Netzwerke muss davon ausgegangen werden, dass der Netzwerkbegriff hier kaum als analytisches Konzept, sondern eher als Metapher für eine Metastruktur steht, die im Zusammenhang mit neuen oder zukünftigen pastoralen Entwicklungen im Kontrast zu gegenwärtigen verkrusteten Strukturen164 gedacht wird. Die Attribute, für welche die Metapher des Netzwerkes stellvertretend steht, werden im Folgenden kurz ausgeführt.

Integration pluraler Formen

„Netzwerk“ steht in der pastoraltheologischen Rezeption für eine Meta-Struktur, die sehr unterschiedliche Gelegenheiten und Formen religiösen Lebens miteinander verbinden und integrieren soll. Auf der Basis von Thesen der Individualisierung und Diversifizierung modernen Lebens gehen die PastoraltheologInnen davon aus, dass sich auch die religiösen Vergesellschaftungs- und Vergemeinschaftungsformen pluralisieren. Das Netzwerk könne demnach dazu dienen, diese Pluralität organisatorisch zu erfassen und zu fördern.165 Darüber hinaus wird den Netzwerken die Hoffnung entgegengebracht, die Kooperation bzw. „gegenseitige Befruchtung“166 der verschiedenen Sozialformen zu gewährleisten (Pilger, Projekte, kleine christliche Gemeinschaften etc.).

Dezentrale Organisation

Des Weiteren unterliegt die Netzwerkmetapher dem Postulat der Dezentralität,167 die als Gegenbild zu traditionell hierarchischen Organisationsstrukturen der Kirchen in Deutschland beschrieben wird. Interessanterweise gehen die pastoralsoziologischen AutorInnen davon aus, dass Netzwerke selbstverständlich a priori dezentral organisiert sind; ganz im Gegensatz zur empirischen Netzwerkforschung, die anhand der Zentralitätsmaße168 von Knoten in Netzwerken deren Macht- und Kontrollpotenziale berechnet. Aus dieser Zuschreibung lässt sich das Bedürfnis nach einem Umbau der stark zentralisierten kirchlichen Strukturen ablesen.

Mobilität und Flexibilität

Die Zuschreibung von Mobilität und Flexibilität an ein Netzwerk169 rührt ebenfalls aus dem Bedürfnis nach einer Modernisierung der Pastoral. Als neue Sozialformen religiösen Lebens werden neuerdings auch Projekte, Events, Bewegungen erwartet, deren Präsenz als zeitlich instabil und räumlich mobil gilt. Zur Einbettung dieser Formen in eine kirchliche Struktur bedarf es daher einer Organisation, die mit diesen Inkonsistenzen umzugehen weiß. Das Netzwerk wird hier zum Projektionsort für diese Bedürfnisse nach Mobilität und Flexibilität.

In dieser Vorstellung eignet es sich zudem gut für den Umgang mit fluideren Formen, da das soziologische Netzwerk im Gegensatz zur Gruppe oder Organisation als analytische Form keine klaren Grenzen hat.170 Empirisch oder netzwerktheoretisch betrachtet, können Netzwerke, z. B. bedingt durch ihre Dichte, mehr oder weniger flexibel und ihre Akteure mehr oder weniger mobil sein.

Innovation und Kreativität

Als letzter Aspekt der Netzwerkmetapher in der pastoraltheologischen Rezeption ist der Aspekt der Kreativität und Innovation zu nennen. Die PastoraltheologInnen erwarten, dass durch diese Meta-Struktur verschiedene Arten der Erneuerung entstehen. Christian Bauer benennt es in seinem Aufsatz sogar dezidiert als „schöpferisches Netzwerk“171.

Netzwerke setzten „Kreativität frei“172, sie „können nämlich auf inhaltlicher, organisatorischer und vor allem auf kommunikativer sowie sozialer Ebene innovatives und kreatives Potenzial wecken“173. Wie genau das passiert (und dazu gäbe es in der Netzwerktheorie einige AnsprechpartnerInnen174), wird nicht näher ausgeführt. Darüber hinaus impliziert die Netzwerkmetapher auch eine Art Selbsterneuerung: „Das soziale Netzwerk bildet sich also gerade aus einer Reihe von Begegnungen, die zu vertikalen (biographischen) und horizontalen (thematischen) Überschneidungen führen, und stellt so die Möglichkeitsbedingung bereit, sich immer wieder neu zu aktualisieren.“175

Wie ein solches Netzwerk entstehen soll, darüber gibt es hingegen wenige Auseinandersetzungen: Ob es Steuerung braucht176 oder selbstorganisiert entsteht, ist nicht klar.

4.3.3 HELMUT EDER (2012): VERSUCH EINER SPEZIFIKATION

Helmut Eder veröffentlichte 2012 seine Dissertation mit dem vielversprechenden Titel „Kirche als pastorales Netzwerk – Chancen und Konsequenzen einer operativen Kirchenkonzeption“177. Darin reflektiert er zunächst ausführlich den Gebrauch des Netzwerkbegriffs in ganz unterschiedlichen Forschungs- und Praxiskontexten (Hirnforschung, Social Media, Ökonomie und Wirtschaftswissenschaften, soziale Bewegungen und schließlich auch Soziologie sowie Kybernetik).178 Um dem Ziel seiner Arbeit – der „Analyse, wie Veränderungen der bzw. in der Kirche möglich sind, ohne dass diese dadurch ihre Identität und Tradition verliert und dennoch für heutige und künftige Generationen einladend, hoffnungsvoll und ein Zeichen für Gottes heilsame Gegenwart bleibt“179 – näher zu kommen, entwirft er den Begriff der operativen Netzwerke.

 

„Operativ bedeutet soviel wie: mit bestimmten Maßnahmen unmittelbare Wirkung erzielend, es meint einen Eingriff ebenso wie einen bestimmten und aktuellen Arbeitsvorgang (Kommunikation oder Organisation). […] Durch den operativen Netzwerktyp lassen sich Netzwerkdenken und Netzwerkmodelle letztlich dynamisch verstehen […], weil zwischen den Knoten mehr oder weniger ständiger Austausch stattfindet. Netzwerke (bestehende oder zu konzipierende) haben Auftragscharakter und symbolisieren eine Dynamik gegenüber einer festen bzw. fixen Struktur. Netzwerke machen in diesem Verständnis erst dann Sinn und entwickeln ihr eigentliches und veränderndes Potenzial, wenn sie zu Taten oder zu Handlungen anleiten bzw. Anregung dafür geben“180.

„Die entscheidende Funktionsweise operativer Netzwerke ist der Modus des aktiven Operierens und nicht so sehr der Verfestigung von Strukturen. Erst die dynamische und konkrete Umsetzung bzw. Verwirklichung des Austausches innerhalb [des] Netzwerkes im Hier und Jetzt entspricht dem operativen Modus.“181

Mit diesem Begriff will Eder „implementierte und funktionierende Netzwerke analysieren, ihre spezifischen Wirkmechanismen verstehen und pastoraltheologisch verorten, um Impulse für die Pastoral zu gewinnen“182. Eine konkrete Fragestellung, die dieses Interesse in einen wissenschaftlichen Diskurs einordnet und den dortigen Erkenntnisstand vorantreiben will, entwirft er allerdings nicht. Aus der netzwerktheoretischen Literatur leitet er „Konturen und Prinzipien für die Funktionsweise operativer Netzwerke ab“183. So beginnt er mit der Beschreibung von Schlüsselpositionen und -personen, die für seine operativen Netzwerke relevant sein könnten. Leider wird der Autor in den nachfolgenden Abschnitten des zentralen Kapitels seiner Arbeit bei der Beschreibung von Heterogenität und Macht, Dezentralität und Gleichberechtigung usw. recht unkonkret und verfehlt die spezifische Anwendung dieser Faktoren auf sein theoretisches Konstrukt. Ohne die Darlegung von Argumenten werden operativen Netzwerken bestimmte Netzwerkeigenschaften (z. B. Dezentralität, Gewinn für alle Beteiligten) zugeschrieben, die in ihrer Unvermitteltheit gleichsam willkürlich wirken. Leider gelingt Eder in diesem Kapitel nicht die Entwicklung eines Analyseinstruments, mit dem er, seinem Forschungsziel entsprechend, empirische kirchliche Kontexte auf die Existenz und die Funktionsweise operativer Netzwerke untersuchen könnte.

In seiner breiten kirchengeschichtlichen Darstellung verschiedener und verschiedenartiger kirchlicher Netzwerkstrukturen (Briefkorrespondenznetzwerk des Paulus; Beziehungen religiöser Orden im Mittelalter, Beziehungskonstellation während des Zweiten Vatikanischen Konzils etc.) zeigt er, wie Netzwerke in kirchlichen Kontexten untersucht werden können.184 Dabei zeugt seine weite Ausführung von breitem historischem Wissen. Seine Darstellung der Netzwerkstrukturen bleibt allerdings deskriptiv. So bezeichnet er etwa das Zweite Vatikanische Konzil als „Musterbeispiel für die Umsetzung und Verwirklichung eines solchen Prozesses“185, ohne dies wirklich zu belegen.

Für seine pastoralpraktischen Anwendungen in Kapitel 4 entwirft Eder verschiedenartige Netzwerktypen für die unterschiedlichen Aufgabenfelder der Kirche (Lernende Organisation, Kommunikationsgemeinschaft, Metaorganisation, Caritas). Hier dient ihm das Netzwerk nicht mehr als theoretisches Modell, sondern wird auf den Status einer Metapher bzw. eines Bildes186 herabgestuft. Sein „Konzept für das Handeln und die Praxis der Kirche“187 leitet er aus zeitgenössischen theologischen Schriften ab. Das Netzwerkkonzept entspricht in diesem Abschnitt bis auf wenige Ausnahmen der oben dargestellten Metaphernbeschreibung.188

Schlussendlich bleibt festzuhalten, dass Eders zu Anfang sehr breit und wissenschaftlich interdisziplinär sowie umfassend angelegtes Projekt am Ende das wenig konkrete Analyseinstrument zum Verhängnis wird, sodass das ambitionierte Ziel, Wirkmechanismen funktionierender pastoraler Netzwerke zu identifizieren, um Veränderungsmöglichkeiten innerhalb der Kirche aufzudecken, nur oberflächlich gelingt. Gerade zum Ende hin wird der Begriff der sozialen Netzwerke wieder zunehmend metaphorisch gebraucht und mit unbelegten, euphemistischen Attributen versehen.

4.3.4 THOMAS WIENHARDT (2005/06): NETZWERK ALS METHODE

Thomas Wienhardt untersucht in seinen beiden netzwerkanalytischen Veröffentlichungen, einem Aufsatz189 und seiner Dissertation190, wie christlich-sozialethische Prinzipien (Personalität, Subsidiarität, Solidarität und Nachhaltigkeit) über Netzwerkstrukturen sichtbar (gemacht) und so für die Organisation von Entwicklungszusammenarbeit genutzt werden bzw. sogar deren Effektivität vorhersagen können.191 Er verknüpft hier in innovativer Weise ethische Ansprüche der katholischen Soziallehre, die ihm als Heuristik dienen, mit Netzwerktheorie und -methode, genauer: der Burt’schen Handlungstheorie.192 In seinem Aufsatz kann er mit diesem theoretischen Modell die Prozesse zweier Projekte in Entwicklungsländern nachvollziehen und gemäß dem christlichen Anspruch Qualitätskriterien und Handlungsrichtlinien für erfolgreiche Projekte „mit dem Ziel der ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘, bei der auch auf Partizipation geachtet wird“193, entwickeln.

In seiner Dissertation untersucht Wienhardt dann mithilfe desselben theoretischen Modells am konkreten Fall der christlichen NGO Misereor im Bistum Augsburg, „ob Misereor durch gezielte [Netzwerk-]Gestaltungsmaßnahmen wieder mehr Solidarität auftauen kann. Bei einer Veränderung der Netzwerkkonstellation, in die Misereor in den Pfarreien eingebettet ist, müsste sich dann auch eine Veränderung einstellen“194. Auf der theoretischen Basis der Synthese von Burts struktureller Handlungstheorie und den aus der katholischen Soziallehre stammenden Heuristiken leitet Wienhardt gemäß seiner Forschungsfrage des Einflusses von Netzwerkkonstellationen auf Solidarität drei empirisch überprüftare Hypothesen ab:

1. „Netzwerke bilden für Misereor ein kapitalisierbares Potential.“

2. „Misereor kann Netzwerke strategisch einsetzen.“

3. „NGOs können durch gezielte Netzwerkgestaltung die Implementation von Solidarität unterstützen.“195

Mithilfe von strukturierten Interviews mit Gemeindevertretern erhob Wienhardt die Affiliationsnetzwerke von 150 Gemeinden der Diözese Augsburg Netzwerk für den Bereich Eine-Welt/Umwelt, in der er sowohl die Ereignisse/Aktivitäten in diesem Bereich als auch die beteiligten Akteure aufnahm.196 Und mithilfe von Regressionen und Korrelationsanalysen konnte er seine Hypothesen dann bestätigen. In einem letzten Kapitel leitet er schließlich allgemeine relationsbezogene Hinweise für NGOs zur strategischen Aufstellung ab.

Schlussendlich entwirft Wienhardt kein allgemeines Modell für Kirche im 21. Jahrhundert, wie es die anderen pastoraltheologischen AutorInnen schon ihren Titeln nach anstreben. Vielmehr untersucht er mit seiner Forschungsarbeit einen sehr begrenzten geografischen und thematischen Bereich kirchlicher Arbeit. Allerdings gelingt Wienhardt im Gegensatz zu seinen Kollegen mithilfe empirischer Methodologie und theoretischen Kriterien, Erfolgsfaktoren für funktionierende Netzwerke und Netzwerkarbeit zu identifizieren und zu belegen.

Die pastoraltheologische Auseinandersetzung mit dem Netzwerkkonzept changiert zwischen der gerne gebrauchten und hoch assoziativ anschlussfähigen Metapher und der Anwendung einer wissenschaftlich fundierten, dafür manchmal etwas trockenen, in bestimmten Bereichen begrenzten und auf komplexen Verfahren beruhenden empirischen Methode. Die begriffliche Nähe zu biblischen Gleichnissen, Bildern aus der Handarbeit, Nautik und dem Social MediaBereich werden gerne angewendet und für Hoffnungen an neue Kirchenentwicklungen in Anspruch genommen. Diese Netzwerkmetaphern mögen zwar rhetorisch sehr ansprechend und mitreißend sein, sind aber für den analytischen Blick und die konkrete praktische Arbeit wenig wertvoll, da ihnen die Konkretisierung fehlt. Die formale Netzwerkanalyse hingegen wirkt in einzelnen Arbeiten (wie z. B. bei Wienhardt) thematisch eng gefasst und ob ihrer mathematischen Formeln und theoretischen Konstrukte und Hypothesen zunächst abschreckend. Allerdings bietet sie die Möglichkeit, aktuelle Verhältnisse und Prozesse in Gemeinden, Institutionen oder Gruppen sehr genau zu beschreiben und zu analysieren, woraus dann konkrete Bedarfe und Maßnahmen abgeleitet werden können. Für die zwischen wissenschaftlich-theologischer Forschung und praktischer kirchlicher Arbeit vermittelnde Disziplin der Pastoraltheologie sehe ich hierin eine wesentliche Aufgabe und Herausforderung. Diesem Fach sollte es gelingen, wissenschaftlich fundierte Forschung zu Beziehungsstrukturen in der Kirche zu betreiben und diese dann ansprechend zu kommunizieren, ohne dass dabei den Ergebnissen die Prägnanz verloren geht.