Netzwerke in pastoralen Räumen

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2.3 ZWISCHENFAZIT

Wie in der vorangegangenen Betrachtung gezeigt werden konnte, keimte der Gedanke, soziale Beziehungen als Forschungsgrundlage zu betrachten und analysieren, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Fachtraditionen und unterschiedlichen nationalen Forschungskontexten auf.

Seit Morenos einschlägigem Werk hat sich die Netzwerktheorie eng verknüpft mit ihrer Methodologie weiterentwickelt. Das führte mancherorts dazu, dass der Netzwerkforschung eine eigene Theoriebildung gänzlich abgesprochen wird. Für die weitere Betrachtung der Entwicklung dieses Forschungsstrangs ist es daher zweifellos angebracht, diese beiden Aspekte – Theorie und Methode – nicht getrennt, sondern zusammen zu betrachten.

3 THEORETISCHE NETZWERKSOZIOLOGIE

Heutige, allgemeine Grundlagen der Netzwerktheorie und -methode lassen sich relativ knapp darstellen. Die Grundannahme des Forschungsstranges lautet, dass soziale Beziehungen in Wechselwirkung mit individuellem und kollektivem Handeln sowie mit personalen, gruppenspezifischen und/oder gesellschaftlichen Outputs stehen. Je nach Fragestellung kann/können die soziale(n) Beziehung(en) demnach als unabhängige, abhängige, moderierende oder auch nur mediierende Variable in einem Forschungsdesign untersucht werden.

Akteure – ob einzelne Personen oder Kollektive – werden in Netzwerken als Knoten dargestellt. Sie besitzen einerseits, wie in jeder anderen Erhebung auch, Attribute (z. B. Alter, Geschlecht, Beruf usw.) und sind andererseits über soziale Beziehungen miteinander verbunden. Diese sozialen Beziehungen werden in Form von Kanten dargestellt. Kanten können unterschiedlichste Arten (E-Mailverkehr, Vertrauen, Treffen, gemeinsame Unternehmungen, Verwandtschaft, Zitation in Publikationen, Weisungsbefugnis, Hilfeleistungen usw.) und Stärken (Häufigkeit, Intensität, Dauer usw.) von sozialen Beziehungen darstellen. Sie können gerichtet sein, dann ist zwischen asymmetrischen und symmetrischen bzw. reziproken Beziehungen zu unterscheiden, oder ungerichtet.22


Abb. 1: Beispiel für ein Gesamtnetzwerk(eigene Darstellung)


Tab. 1: Entsprechende Ego-Netzwerke zu Abb. 1(eigene Darstellung)

Stellt man diese Knoten und Kanten für eine Gruppe grafisch dar, so erhält man ein Beziehungsnetzwerk. Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten, Netzwerke zu analysieren: zum einen als Gesamtnetzwerk, zum anderen als Egonetzwerke einzelner Akteure. Bei der zweiten Analysemöglichkeit werden je ein Knoten/Akteur und dessen direkte Kontakte untersucht.

Bis heute lässt sich in den verschiedenen Schwerpunktsetzungen und Weiterentwicklungen die disziplinäre Heterogenität innerhalb der Netzwerkforschung identifizieren. So betonen z. B. Simmels „Wechselwirkungen“ die Fluidität und Prozesshaftigkeit sozialer Beziehungen, während Radcliffe-Brown seine Netzwerke als feste Strukturen beschreibt. Ausgehend von diesen ersten Werken wurde die Netzwerkforschung in der Mitte des 20. Jh. verstärkt im angelsächsischen Raum vorangetrieben, was zunächst eine sehr strukturalistische Forschungstradition hervorbrachte, die erst in den letzten Jahrzehnten durch andere Perspektiven ergänzt wurde.

3.1 STRUKTURALISTISCHE ANSÄTZE

Als eine der ersten empirischen Netzwerkforschungen ist wohl die Small World-Studie des Sozialpsychologen Stanley Milgram (1967) zu nennen. Milgram testete empirisch zwei sich widersprechende Thesen: Alle Menschen seien, erstens, miteinander verbunden und könnten sich gegenseitig über relativ wenige Zwischenstationen erreichen können. Zwischen Menschengruppen bestehen, zweitens, unüberwindbare Zwischenräume (gaps).23 Um herauszufinden, welche dieser Thesen (eher) zutrifft, händigte er einer willkürlich ausgesuchten Person in den USA einen Folder aus und gab ihr den Auftrag, diesen nur über jeweils Bekannte einer anderen willkürlich ausgesuchten Person zukommen zu lassen. Den Weg des Folders verfolgte Milgram nach und stellte dabei fest, dass dieser zwischen zwei und zehn Stationen variierte. Der Median lag bei fünf Stationen.24 In weiteren Studien testeten Milgram und seine Kollegen mit der Small World-Methode die Ergebnisse seiner ersten Studie experimentell25 und formulierten sich daraus ergebende weitere Fragen nach Verbindungen zwischen ethnischen Gruppen.26

Mit dieser Studie begründete Milgram eine Forschungsrichtung innerhalb der Netzwerkanalyse, die heute unter der Bezeichnung Diffusion Studies oder Flow-Netzwerke rangieren. Diese Studien untersuchen, wie schnell sich Dinge im Netzwerk verbreiten – zum Beispiel: Viren, Informationen/Gerüchte, Normen/Verhaltensweise, Innovationen, Geld usw. Bei der Gesamtbetrachtung des Netzwerks kann interessant sein, wie schnell sich etwas verbreitet, über welche Shortcuts Wege signifikant verkürzt oder durch das Herausnehmen eines Akteurs ganz unterbrochen werden können. Mit Blick auf den einzelnen Knoten im Netzwerk werden Fragen nach dessen Position, dessen Zugang zu oder Kontrolle über Flows relevant.27


Abb. 2:links: Netzwerk mit geringer Dichte;rechts: Netzwerk mit höherer Dichte (eigene Darstellung)

Ein weiteres frühes Maß für die Beschreibung von Netzwerken ist die Netzwerkdichte (Density). Die Dichte wird seit den frühen Aufsätzen von John Barnes aus dem Verhältnis aller möglichen Verbindungen im Netzwerk zu den real existierenden Beziehungen berechnet.28 Bis heute stellt diese Maßzahl, wahlweise für das gesamte Netzwerk, Ego-Netzwerke oder einzelne Subgruppen berechnet, eines der grundlegenden Indizes für die Geschlossenheit des Netzwerks dar.

Die vielleicht ältesten Netzwerk-Messkonzepte, die aus der Struktur von Netzwerken bzw. der Position einzelner Knoten in einem Netzwerk Handlung(soptionen) für die einzelnen Knoten oder das Gesamtnetzwerk ableiten, sind die Zentralitätsmaße. Zentralität bezeichnet die Position einzelner Knoten im Netzwerk im Verhältnis zu den anderen Knoten und geht von der Idee aus, dass Knoten, die an zentralen Positionen verortet sind, mehr Handlungsoptionen und Einfluss akkumulieren können als Knoten, die sich eher in der Peripherie befinden.29 Schon seit den 1940er Jahren wurden am Massachusetts Institute of Technology (MIT), beginnend mit den Forschungstätigkeiten von Harold Leavitt30 und Sidney Smith31, die Zentralität von Netzwerkknoten und deren Auswirkung auf das Verhalten von Akteuren einerseits und die Zentralisierung von gesamten Netzwerken andererseits untersucht. Robert L. Burgess fasste 1969 die Forschungsaktivitäten und Ergebnisse des MIT bezüglich des Verhaltens von Akteuren in Kommunikationsnetzwerken hinsichtlich ihrer Zentralität zusammen.32 Er stellte fest, dass die Forschungsaktivitäten von der Hypothese ausgingen, dass Zentralität in Kommunikationsnetzwerken zu größerem Einfluss führt, konnte diese These jedoch nicht eindeutig belegen.

Erst später nahm Linton Freeman in seinem wegweisenden Aufsatz „Centrality in Social Networks: Conceptual Clarification“33 eine Systematisierung und Vereinheitlichung von insgesamt neun Zentralitätsmaßen vor, die sich alle graphentheoretisch berechnen lassen und von denen er jeweils Implikationen für die Handlungsoptionen der Akteure ableitete. Freeman identifizierte die Degree-basierte Zentralität, die aus der absoluten Anzahl von direkten Verbindungen eines Knotens berechnet wird und damit als Indikator für dessen Kommunikationsaktivität(spotenzial) gilt. Des Weiteren beschrieb er die Betweenness-basierte Zentralität, welche die Häufigkeit misst, in der ein Knoten auf der kürzesten Verbindung zwischen zwei anderen Knoten liegt. Diesem Maß attestierte er die potenzielle Kontrolle über Kommunikation. Drittens entwickelte er works 1 (1978/79), S. 215–239. die Closeness-Zentralität. Sie misst die Nähe zu jedem anderen Punkt im Netzwerk und damit nach Freemans Modell die relative Unabhängigkeit eines Knotens bzw. die Möglichkeit, Kommunikationskontrolle durch andere Knoten zu umgehen. Jedes dieser drei Zentralitätsmaße lässt sich absolut oder relativ zu den anderen Knoten im Netzwerk berechnen. Zudem lassen sich aus allen drei Zentralitätsmaßen Zentralisierungsindizes für Gesamtnetzwerke ableiten und berechnen. Mit diesem Aufsatz hat Freeman einige Klärung in die Diskussion um die Zentralität in Kommunikationsnetzwerken gebracht. Bis heute werden seine Berechnungskonzepte auf Netzwerkgraphen angewandt.34

Empirische Untersuchungen, die Thesen von Freemans Zentralitätskonzepten in Tauschnetzwerken testeten, konnten diese jedoch nicht (immer) bestätigen.35 Philip Bonacich36 fand z. B. heraus, dass in Tauschnetzwerken nicht nur die Zentralität eines Knotens, sondern auch die Macht der mit ihm direkt verbundenen Knoten ausschlaggebend für seine eigenen Möglichkeiten ist. Er entwickelte ausgehend von dieser theoretischen Annahme das Eigenvektormaß, das die Zentralität von Knoten im Netzwerk unter Einfluss der Zentralität der direkt verbundenen Knoten misst.37

Maßgeblich für die Entwicklung einer graphentheoretischen Netzwerktheorie war Mark Granovetters 1973 veröffentlichter Aufsatz „The Strength of Weak Ties“38. Er problematisierte die bisherige Forschungspraxis, die sich hauptsächlich auf die Untersuchung starker Verbindungen (strong ties) zwischen Individuen in Ego-Netzwerken fokussiert habe, indem er die potenziellen Vorteile schwacher/loser Verbindungen (weak ties) für Individuen in Gesamtnetzwerken betonte. Starke Verbindungen verweisen hier auf eine hohe Kontakthäufigkeit bzw. großen Informationsaustausch oder auch emotionale Nähe zwischen zwei Knoten und werden meist in durchgezogenen, breiten Linien dargestellt. Schwache Verbindungen hingegen bezeichnen eine geringe Kontakthäufigkeit und eher seltene Kommunikationshandlungen. Meist werden sie durch unterbrochene oder schmale Linien dargestellt. Ausgehend von der These relativer Homogenität in eng verbundenen Gruppen wies Granovetter auf die besondere Rolle schwacher Bindungen hin.39 Diese schwachen Verbindungen können zu Brücken (bridges) zwischen in sich stark verbundenen Gruppen werden, über die dann heterogene Informationen (z. B. über offene Stellen) zwischen den Gruppen ausgetauscht werden können.40 In der Regel bilden sich solche Brücken zwischen zwei in der Organisationsforschung sogenannten Liaison-persons, die Granovetter als „Individuals with many weak ties“ identifiziert. Mit diesem Aufsatz leistete Granovetter zudem einen Beitrag zur allgemeinen Debatte um die Verknüpfung von Mikroperspektiven und Makrostrukturen in der soziologischen Theorie:

 

„The major implication intended by this paper is that the personal experience of individuals is closely bound up with larger-scale aspects of social structure, well beyond the purview or control of particular individuals. […] weak ties […] are here seen as indispensable to individuals’ opportunities and to their integration into communities; strong ties, breeding local cohesion, lead to overall fragmentation.“41

Nach einigen empirischen Arbeiten und theoretischen Diskussionen um seine Theorie veröffentlichte Granovetter selbst 1983 eine Revision derselben, in der er seinen Ansatz ausdifferenzierte.42 Hier formulierte er die jeweiligen netzwerkstrukturellen Vor- und Nachteile starker und schwacher Bindungen.

Knapp zwanzig Jahre später veröffentlichte Ronald Burt seinen netzwerktheoretischen Band „Structural Holes. The Social Structure of Competition“43 (1992). Aus der Sozialkapitaltheorie leitete er die Netzwerkvorteile von Akteuren mit nicht-redundanten (nonredundant) Beziehungen hinsichtlich ihres Zugangs zu Informationen und Kontrolle ab. Der Theorie des sozialen Kapitals zufolge erzielen sie effektiver und effizienter als andere Akteure Netzwerkgewinne.

Schon in diesem Band diskutierte Burt die Ähnlichkeit seines Ansatzes zu den weak ties von Granovetter. Er argumentierte jedoch, dass sein Ansatz gehaltvoller sei, da nicht die weak ties, sondern eben die strukturellen Löcher kausale Bedingung für die Netzwerkvorteile eines Akteurs seien.44 Dennoch bleibt festzuhalten, dass beide Autoren innovativ für die Netzwerk-Theoriebildung waren, da sie Kriterien für strategische, zweckgebundene Vernetzung entwickelten.


Abb. 3: Bridges (Granovetter) 45


Abb. 4: Strukturelle Löcher (Burt) 46

Aus diesen strukturalistischen Ansätzen, speziell aus der Sozialkapitaltheorie von Burt, lassen sich nun – abhängig von der jeweiligen Akteursposition – strukturelle Rollen in Netzwerken ableiten, die im Verhältnis zu den anderen Akteuren/Positionen mit besonderen Ressourcen ausgestattet sind. Theoretische und empirische Aufsätze widmeten sich bereits bestimmten Rollen in spezifischen Netzwerkkonstellationen. So beleuchtet z. B. Ronald Burt47 die Rolle von „opinion leaders“ bzw. „opinion brokers“ in Diffusionsnetzwerken und Sozialkapitalansätzen. Interessanterweise sagt Burt,48 dass Kohäsion (starke Bindung) und strukturelle Äquivalenz (ähnliche Beziehungsstrukturen) die Netzwerkvoraussetzungen für „Ansteckung“ seien. Er identifiziert diese „Makler“ oder „Vermittler“ als diejenigen, die durch ihre starke Bindung (Kohäsion) zu einem Knoten einer fremden Gruppe im Netzwerk Informationen oder Innovationen streuen und damit auch kontrollieren können. Diffusion in einer Gruppe entsteht dann durch strukturelle Äquivalenz. Burt bezeichnet diese „opinion brokers“ im Kontext des Sozialkapitalansatzes auch als „network entrepreneurs“, deren Broker-Tätigkeit sich in schnellerem sozialen und beruflichen Aufstieg, positiverem Ansehen, höherer Bildung und überdurchschnittlicher eigener Mobilität49 und in rascherer Informationsverarbeitung und Lösungsfindung für das Gesamtnetzwerk manifestiert.

Aus dieser Perspektive – je nach ihrer Position in Netzwerken haben Akteure bessere oder schlechtere Zugänge zu Informationen, Ressourcen oder Prestige – wurde innerhalb der Netzwerktheorie der Begriff des sozialen Kapitals neu definiert. Sozialkapitalansätze begreifen in Anlehnung an Pierre Bourdieu50 grundsätzlich soziale Beziehungen als soziales Kapital, welches in andere Kapitalsorten umgewandelt werden kann und dadurch sozialstrukturell von Bedeutung ist. Unter dem Label „soziales Kapital“ werden daher Netzwerkkonstellationen auf die strukturellen Vor- und Nachteile der Akteure hin untersucht.51 Ronald Burt ist einer der bekanntesten Theoretiker, der soziale Beziehungen als soziales Kapital und Link zwischen individuellen Attributen und Sozialstruktur entwickelt hat.52


Abb. 5: Beispiel einer Blockmodellanalyse 53

Einen induktiven Weg, um Rollen in Netzwerken zu identifizieren, zeigen White et al. mithilfe der Blockmodellanalyse. In ihrem Aufsatz „Social Structure from Multiple Networks: I. Blockmodels of Roles and Positions“ entwerfen die Autoren eine Methode, die mittels der Analyse der Netzwerkmatrizen über die Anordnung von gleichförmigen Beziehungsmustern (Blöcke) äquivalente Positionen im Netzwerk identifiziert, die dann wiederum je nach Netzwerk als bestimmte Rollen interpretiert werden können.54 Mithilfe fünf bereits bestehender Datensätze von Netzwerken konnten die Autoren je nach Netzwerkart bestimmte Rollen ausmachen, die für den Erklärungszusammenhang von Bedeutung sind.

Als theoretische Verankerung netzwerkanalytischer Überlegungen wird zum einen gerne die soziologische Systemtheorie nach Luhmann55 und zum anderen Bourdieus Kapitaltheorie genannt. In letzterer werden soziale Netzwerke als soziales Kapital begriffen und operationalisiert.56

So entwickelte die strukturalistische Netzwerktheorie nach und nach Analyseverfahren zur immer genaueren Bestimmung von Positionen, Gruppierungen und Dynamiken in Netzwerken. Ihnen allen gemein ist die starke Betonung der Struktur vor allem als Einflussfaktor für individuelle und kollektive Outputs. Jedoch wurde, ähnlich wie bei anderen strukturalistischen Theorieansätzen, zunehmend Kritik an diesen engen Grundannahmen und der damit einhergehenden Vernachlässigung anderer Perspektiven geübt. Entsprechend wurde die Netzwerktheorie um andere theoretische Blickwinkel ergänzt und somit die gesamte theoretische Debatte über soziale Netzwerke erweitert.

3.2 KRITIK AM STRUKTURALISTISCHEN ANSATZ DER NETZWERKTHEORIE UND NEUE PERSPEKTIVEN

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts regte sich allerdings einige Kritik am rein strukturalistischen Ansatz der bisherigen Netzwerkforschung. Die aus dieser Kritik entstehenden neuen Arbeiten leiteten den Cultural Turn in der Netzwerksoziologie ein. Zwei Werke gelten als bahnbrechend für diese neue Phase:

Harrison White integriert in seinem Buch „Identity and Control“57 Struktur und Kultur in der Netzwerktheorie. Ausgehend von den Konzepten der Identität, Kontrolle und Netzwerkdomänen konstituiert White Netzwerke als „fluide, mehrlagige Beziehungsstrukturen, die auf Bedeutungszuschreibungen basieren und selber Bedeutungen generieren. Bedeutungen gerinnen und formieren sich zu Geschichten. Geschichten entstehen somit als Begleiterscheinung des Wechselns zwischen Netzwerkdomäne, die neue Bedeutungszuschreibungen ermöglichen, und sind Interpretationen von Beziehungen.“58 Mit diesem Cultural Turn begründete White einen Paradigmenwechsel in der Netzwerksoziologie.

Mustafa Emirbayer löste mit seinem „Manifesto for a Relational Sociology“ eine weitere Welle in Richtung einer theoretischen Fundierung der relationalen Soziologie als neuen Paradigmas für die soziologische Theoriebildung aus. Anhand klassischer soziologischer Konzepte zeigt er deren relationale Perspektive auf den verschiedenen Ebenen und fordert damit, soziologische Theorie grundsätzlich relational zu begründen.59 Emirbayer lässt in diesem Manifest auch die Probleme, die die klassische, strukturalistische Netzwerktheorie für eine umfassende soziologische Theoriebildung aus relationaler Perspektive beinhaltet, wie etwa die Abbildung von Dynamik und das Hervorbringen kausaler Erklärungen, nicht unerwähnt. Als weitere Herausforderung betrachtet er die Möglichkeit individuellen Handelns (agency) aus relationaler Perspektive, die er anschließend selbst in einigen Aufsätzen diskutiert.60 Bei dieser Frage sieht er besonders starken Entwicklungsbedarf.

Ausgehend von diesen beiden bahnbrechenden Arbeiten versuchen Netzwerksoziologen seither, die blinden Flecken der strukturalistischen Netzwerktheorie im Rahmen einer neuen relationalen Soziologie zu bearbeiten.61 So konzeptioniert Rainer Schützeichel in seinem Aufsatz „Ties, Stories and Events“62 unter Bezugnahme auf Charles Tilly Netzwerke als Prozesse von Ereignisfolgen, die sich auf Handlungsakte gründen,63 und versucht damit, deren Dynamik theoretisch zu fassen. Matthias Koenig wägt in seinem Beitrag „Soziale Mechanismen und relationale Soziologie“ die Erklärungskraft der relationalen Soziologie für soziale Mechanismen ab.64

In empirischen Studien konnte zudem die Kulturabhängigkeit von Netzwerkbildung und -effekten gezeigt werden. So fanden Burt et al. heraus, dass Manager in Frankreich und den USA ihr soziales Kapital durch strukturelle Löcher unterschiedlich bewerten und dadurch auch andere Outputs erzielen.65 Zhixing Xiao und Anne Tsui66 zeigten dementsprechend, dass in der kollektivistisch orientierten Kultur Chinas Brokerpositionen sogar negative Effekte auf die Karriereentwicklung haben:

„Brokers do not fit with the collectivistic values of China. Further, the more an organization possesses a clean-like, high-commitment culture, the more detrimental are structural holes for employees’ career achievements […]. In high commitment organizations, the ‚integrators‘ who bring people together to fill structural holes enjoy greater career benefits“67.

Der kulturellen Wende folgten auch persönlichkeitsorientierte Erweiterungen. Sie gehen davon aus, dass nicht allein die Position im Beziehungsnetzwerk über den Erfolg eines Akteurs entscheidet, sondern der Akteur auf dieser Position sie auch zu nutzen wissen muss. Mit anderen Worten: Verschiedene Personen können dieselbe Netzwerkposition sehr unterschiedlich ausfüllen und entsprechend unterschiedliche Ergebnisse erzielen. So müssen nach Burt, Kilduff und Tasselli68 Broker bestimmte Fähigkeiten besitzen, um ihre Position im Netzwerk zu gestalten und für sich nutzen zu können, um hier nur ein Beispiel zu nennen.

3.3 DIE AKTEUR-NETZWERK-THEORIE (ANT)

Eine auf ihre Art und Weise radikale Position innerhalb der relationalen Soziologie vertritt die Akteur-Netzwerk-Theorie69, die – ursprünglich aus der Technikforschung stammend – auch nicht-menschliche Akteure in die Netzwerktheorie einbezieht. Dabei geht sie von folgender Prämisse aus:

„Natur, Technik und Gesellschaft entstehen als ko-konstitutives Resultat der wechselseitigen Relationierung – der Netzwerkbildung – heterogener Entitäten. Die Unterscheidung zwischen Natur, Technik und Gesellschaft darf deshalb bei der wissenschaftlichen Beobachtung der entsprechenden Prozesse des Netzwerkbildens nicht verwendet werden.“70 Damit definiert sich in der ANT jeder Akteur als „[…] jegliche Entität, der es mehr oder weniger erfolgreich gelingt, eine Welt voller anderer Entitäten mit eigener Geschichte, Identität und Wechselbeziehungen zu definieren und aufzubauen“.71

 

Die ANT zielt folglich darauf ab, die heterogenen Prozesse zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren in Netzwerken zu erklären, in denen sich Akteure selbst erst konstituieren und verändern.72

3.4 MARKT – HIERARCHIE – NETZWERK: UNTERNEHMENSSOZIOLOGISCHE VERWENDUNG DES NETZWERKBEGRIFFES

Die Unternehmenssoziologie und die Betriebswirtschaftslehre haben den Netzwerkbegriff in einer spezifischen, manchmal etwas verwirrenden Weise für sich geprägt. In den 1980er Jahren identifizierten sie neben den beiden klassischen Formen der Koordination sozialen Handelns – dem Markt und der Hierarchie – eine dritte Form, die als Netzwerk bezeichnet wird.73

Ausgehend von der Annahme, dass in Unternehmen Handeln koordiniert werden muss, werden die verschiedenen Mechanismen folgendermaßen identifiziert: In Märkten wird das Koordinationsproblem dadurch gelöst, dass Individuen automatisch nutzenmaximierend in Tauschbeziehungen stehen. In Hierarchien wird durch bewusste Steuerung das Handeln der Beteiligten angeleitet und kontrolliert. Als dritte Form der Handlungskoordination besteht das Netzwerk aus informellen Mechanismen, die durch auf Vertrauen beruhenden sozialen Beziehungen relativ unabhängiger sozialer Akteure Handlungskoordination erzielen.74

Im Verhältnis zur allgemeinen soziologischen Netzwerktheorie, die ebenso die Hierarchien und Märkte theoretisch fassen und untersuchen kann, meint die Unternehmenssoziologie mit „Netzwerken“ im Speziellen die rein informellen Beziehungen.75 Hier gehen relativ freie Akteure unabhängig von formalisierten weisungs- und/oder tauschförmigen Strukturen auf der Basis von Vertrauen, Loyalität und Kooperation Beziehungen ein.76

Vorteile und Ziele solcher langfristigen Kooperationsnetzwerke können Lernen, Legitimität und Status, ökonomische Gewinne u. a. sein.77 Allerdings lautet für Netzwerke im unternehmenssoziologischen Sinne eine der großen analytischen Fragen, wie Vertrauen und Kooperation, die grundlegenden Mechanismen dieses Koordinationsmodells, entstehen können.78

Leicht modifiziert findet sich dieser Ansatz in der Governance-Forschung, wo es um das Zustandekommen kollektiver Entscheidungen geht. Hier wird zwischen Hierarchie, in der eine zentrale Instanz für das Kollektiv entscheidet, Polyarchie, in der kollektiv Beschlüsse gefasst werden, und dem Netzwerk unterschieden. Letzteres wiederum fällt dadurch auf, dass es eigentlich keine kollektiv gültige Entscheidung herbeiführt, sondern nur auf der Übereinstimmung einzelner Akteure beruht. Im Gegenzug sind im Netzwerk Exit-Optionen allgegenwärtig.79

Anwendung findet dieser Forschungszweig zur kollektiven Handlungskoordination bzw. Entscheidungsfindung in letzter Zeit in der Untersuchung inter-organisationaler Netzwerke, z. B. der Kooperation unterschiedlicher kollektiver Akteure in Metropolregionen oder Forschungs-Entwicklungs-Kooperationen (z. B. zwischen Hochschulen und produzierenden Unternehmen), da diese ohne eine hierarchische Ordnung funktionieren,80 oder eben in der erwähnten Governance-Forschung. Die Ergebnisse und Konzepte aus diesem Bereich gehen auch in die Managementliteratur und den Consultingbereich ein.81

4 FORSCHUNGSFELDER

Die soziologische Netzwerkanalyse ist noch immer ein kleiner Forschungszweig innerhalb der Soziologie. Das liegt einerseits daran, dass sie zwar theoretisch als Mikro-Makro-Link vielversprechend ist, bislang aber die Theoriebildung nicht sehr weit über das Aufzeigen weniger Mechanismen, wie etwa des Potenzials struktureller Löcher, hinaus betrieben worden ist. Empirisch ist die Netzwerkanalyse aufgrund ihres relationalen Ansatzes und ihrer eindrucksvollen Grafiken recht beliebt, birgt jedoch hinsichtlich ihrer Durchführung einige Schwierigkeiten. So ist die Erhebung relationaler Daten mit großem Zeitaufwand verbunden; Stichprobenerhebungen sind nur bei Untersuchungen von Ego-Netzwerken möglich. Ansonsten sind im Grunde immer Vollerhebungen notwendig. Die Grenzen des Netzwerkes, das ja formal offen ist, sollten zumeist vor der Erhebung feststehen. Trotz dieser Hürden werden Netzwerke seit Jahrzehnten empirisch untersucht und die dazu genutzten Methoden weiterentwickelt. In Bezug auf das Interesse dieses Literaturberichtes werde ich im Folgenden einige Forschungsfelder anreißen, um dann die religionssoziologische Netzwerksoziologie und den Umgang der Pastoraltheologie mit dem Netzwerkbegriff näher zu beleuchten.

4.1 URSPRÜNGLICHE ANWENDUNGSFELDER

Von Beginn an war die Netzwerksoziologie ein interdisziplinäres Vorhaben und etablierte sich dadurch in verschiedenen sozialwissenschaftlichen und angrenzenden Fächern. Hier sollen nun beispielhaft einige Bereiche und ihre jeweiligen relationalen Erkenntnisinteressen vorgestellt werden. Wie bereits erwähnt, hat Moreno82 als Psychotherapeut und Pionier der Netzwerkempirie mithilfe seiner Soziometrie real existierende soziale Beziehungen dargestellt und erforscht. Bis heute findet der Netzwerkansatz im Fachbereich der Psychologie Anwendung.83 Auch hat er in der Linguistik, namentlich mit seinem in der Netzwerkforschung berühmten Vertreter Harrison White, wesentliche Anwendung und Weiterentwicklung erfahren.84 Ebenso bedienen sich Sozialgeografie bzw. Raumforschung85, Politikwissenschaft86 und soziale Bewegungsforschung87 seiner Methodologie. Auch die Wirtschaftsforschung untersucht interorganisationale Kooperationen88, individuelles Prestige und Karrierechancen in Unternehmen89 sowie weitere Themen netzwerkanalytisch. Eine ausführlichere Orientierung zur Anwendung soziologischer Netzwerkforschung bieten einschlägige Überblickswerke.90

4.2 RELIGIONSSOZIOLOGISCHE ANWENDUNGSFELDER

Auch auf religionssoziologischem Feld setzt man sich aus diversen Perspektiven mit dem Thema Netzwerk auseinander. Aufgrund der bereits bestehenden Fülle an Arbeiten kann hier jedoch nur kursorisch auf verschiedene Forschungszweige verwiesen werden.

Zum einen wurden religiöse Netzwerke an sich erhoben und ihr Verhalten beobachtet. So untersuchen z. B. die Beiträge im Sammelband „Gesellschaftliche Umbrüche und religiöse Netzwerke“91 das Verhalten religiöser Netzwerke in gesellschaftlichen Umbruchzeiten von der Antike bis heute.92 Zum anderen werden in der Religionssoziologie religiöse Netzwerke als Ressource für z. B. soziale oder politische Integration erforscht. Ein Beispiel stellt auch das am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien angesiedelte Projekt „Religion Vernetzt“93 dar. Im Rahmen dieses Forschungsprojekts machte sich Alexander Nagel auch methodologische Gedanken über die Erhebung relationaler Daten dezidiert im Religionsbereich.94 Miriam Schader95 untersuchte in ihrer Dissertation den Einfluss religiöser Netzwerke auf die politische Partizipation afrikanischer Migranten in Berlin und Paris. Loimeier und Reichmuth96 fragten nach den Interaktionen religiös-politischer Netzwerke in muslimischen Gesellschaften.

Andersherum interessiert in der Religionssoziologie klassischerweise der Einfluss sozialer Netzwerke auf Religiosität und religiöse Praxis. Rodney Stark und William Bainbridge97 betrachteten in ihrem Aufsatz „Networks of Faith“ im Rahmen einer Metaanalyse verschiedene religionssoziologische Studien, die allesamt relationale Komponenten enthielten, und adressierten den Einfluss sozialer Netzwerke auf das religiöse Commitment. Sie fassten hier Studien über verschiedene religiöse Gemeinschaften (cults and sects) zusammen, die belegten, dass die Rekrutierung neuer Mitglieder hauptsächlich über zuvor bestehende, nicht-religiöse Kontakte erfolgte.98 Anhand dreier unterschiedlicher qualitativer Studien zeigen die Autoren, dass Rekrutierung über bereits bestehende soziale Beziehungen erfolgreicher ist, dass Austritte aus religiösen Gruppen unwahrscheinlicher sind, sofern andere soziale Beziehungen bestehen, und dass erfolgreiche religiöse Gruppen den Au\au persönlicher Beziehungen strategisch nutzen, um neue Mitglieder zu gewinnen99. Weiterhin stellten sie fest, dass die Netzwerkeffekte, die sie für cults and sects dargestellt hatten, in empirischen Studien auch in Bezug auf konventionelle Religionen festgestellt worden waren.100

Kevin Welch101 untersuchte schon früh für die USA, welche Faktoren das Commitment zu traditioneller Religiosität befördern. Welch fand heraus, dass im Gegensatz zu klassischen „sozialpsychologischen“ Annahmen das Commitment zu traditioneller Religiosität in den USA im Wesentlichen auf drei relationale Variablen zurückzuführen ist. Den stärksten Zusammenhang stellte er zwischen der Denominationsmitgliedschaft fest: Je konservativer die Denomination, zu der eine Person gehört, desto stärker ist ihr Commitment zu traditionellem religiösen Glauben. Weiterhin sind die Kirchgangshäufigkeit und interdenominationale Freundschaften wichtige Einflussfaktoren für traditionelle Religiosität. Welch konnte damit zeigen, dass traditionelle Religiosität vordergründig nicht durch soziale Deprivation oder Ähnliches, sondern durch interaktionale bzw. relationale Faktoren befördert wird.102