Grundwissen Geistigbehindertenpädagogik

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Bleidick, U. (1999): Bausteine einer Theoriebildung der Behindertenpädagogik. In: Bleidick, U.: Behinderung als pädagogische Aufgabe. Behinderungsbegriff und behindertenpädagogische Theorie. Stuttgart, 91–116

Gröschke, D. (1989): Heilpädagogik? – Heilpädagogik! Plädoyer für einen Begriff. In: Gröschke, D.: Praxiskonzepte der Heilpädagogik. München/Basel, 15–32

Haeberlin, U. (1996): Heilpädagogik als parteinehmende Pädagogik. In: Haeberlin, U.: Heilpädagogik als wertgeleitete Wissenschaft. Bern, 13–68

Lindmeier, Ch. (1997): Heilpädagogik als konstitutives Moment jeglicher Pädagogik. Pädagogische Rundschau 51. Jg., 3, 289–306

Speck, O. (2008): Die historische Entwicklung heilpädagogischer Theoriebildung. In: Speck, O.: System Heilpädagogik. Eine ökologisch reflexive Grundlegung. 6. Aufl. München/Basel, 44–60

1.2Geistigbehindertenpädagogik – eine Pädagogik mit vielfältigen Aufgaben

Als eine der heilpädagogischen Fachrichtungen versteht sich die Geistigbehindertenpädagogik vordringlich als Pädagogik.

Pädagogik

Pädagogik meint sowohl das konkrete Zusammensein von Pädagogen mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen als auch das Nachdenken über dieses Zusammensein sowie über die notwendige inhaltliche und methodische Gestaltung eben dieses Zusammenseins. Das heißt, der Begriff der Pädagogik umschließt Praxis und Theorie von Erziehung und Bildung, bezieht sich auf beides und betrachtet beides in Wechselwirkung zueinander. In diesem Grundverständnis unterscheidet sich die Geistigbehindertenpädagogik nicht von der Allgemeinen Pädagogik.

Geistigbehindertenpädagogik

Der Geistigbehindertenpädagogik geht es zum einen um das konkrete Leben von Menschen mit geistiger Behinderung und um das Zusammenleben mit ihnen. Zum andern geht es ihr um das Nachdenken darüber, wie dieses Leben zu gestalten und durch Erziehung und Bildung zu entfalten ist. Indem sie das Leben dieser Menschen erforscht und pädagogische Konzepte entwirft, ist sie auch Erziehungs- und Bildungswissenschaft (Kap. 5).

Worin sie sich allerdings von der Allgemeinen Pädagogik unterscheidet, sind die Kernthemen (Paradigma Kap. 5) und die Breite ihrer Frage- und Aufgabenstellungen sowie die Notwendigkeit, Erkenntnisse aus anderen Wissenschaftsbereichen, vor allem den Neurowissenschaften, der Medizin, Soziologie und Psychologie stärker in ihr pädagogisches Denken zu integrieren. Die Geistigbehindertenpädagogik hinterfragt aktuelle Bildungstheorien, pädagogische Konzepte und Methoden in Bezug auf ihre Relevanz für Menschen mit Behinderungen, zeigt Unzulänglichkeiten auf und entwickelt neue Zugänge, die die individuellen Beeinträchtigungen und Möglichkeiten stärker berücksichtigen. Darum kommen im Erziehungsalltag von Menschen mit geistiger Behinderung, stärker als in anderen pädagogischen Feldern, unterschiedliche pädagogische, aber auch therapeutische Konzepte und Methoden zum Tragen. Bei all diesen Entwürfen bildet immer der Mensch mit seinen spezifischen Bedürfnissen den Ausgangspunkt der Konzeptentwicklung.

Pädagogik vom Menschen aus

Wie einleitend bereits erwähnt, zeichnet sich die Geistigbehindertenpädagogik also dadurch aus, dass sie ihre Erziehungstheorien und -praktiken vom Menschen aus entwickelt, also eine ‚Wissenschaft vom Menschen aus‘ ist.

Die Geistigbehindertenpädagogik vertritt eine Form von Bildung und Erziehung, die dem Lebensalter und den Fähigkeiten der zu Erziehenden angepasst ist und die darum in konzeptioneller wie didaktischer Hinsicht subjektorientiertist. Zudem verbindet sie medizinische und psychotherapeutische sowie sozialrehabilitative Erkenntnisse und Praktiken in ihren Konzeptentwicklungen miteinander. Sie schafft adäquate Lebens-, Erziehungs- und Arbeitsräume für Menschen mit geistiger Behinderung (Kap. 4) und bildet das darin tätige Fachpersonal aus. Im schulischen Bereich kooperiert die Geistigbehindertenpädagogik mit der Integrationspädagogik. Selbstbestimmung und soziale Teilhabe sind ebenso Ziele der pädagogischen und rehabilitativen Maßnahmen für Erwachsene in verschiedenen Lebensbereichen (Arbeit, Wohnen, Erwachsenenbildung, Freizeit).

Die Geistigbehindertenpädagogik muss sich den neuen gesellschaftlich-ökonomischen Veränderungen stellen, weil hierdurch nämlich das gesamte Versorgungssystem für Menschen mit Behinderung unter Druck gerät. Es besteht die Gefahr, dass Menschen mit gravierenden Beeinträchtigungen unter wirtschaftlichen Erwägungen schlechter versorgt oder gar ausgeschlossen werden (vgl. Dederich 2008). Zudem muss die Geistigbehindertenpädagogik die Auswirkungen der modernen Humangenetik, von Hirnforschung und Biotechnologie im Auge behalten und sich zu Wort melden, wenn Würde und Rechte von Menschen mit geistiger Behinderung hierdurch verletzt werden. Da die Lebenserwartung von Menschen mit geistiger Behinderung dank des medizinischen Fortschritts inzwischen derer nicht behinderter Menschen entspricht, entstehen mit der Altersforschung (Gerontologie) und Behindertenpflege neue Forschungs- und Handlungsbereiche (Kap. 3.6).

Das Aufgabenspektrum der Geistigbehindertenpädagogik ist vielfältig und geht weit über das ausschließlich Pädagogische hinaus. Als heilpädagogische Fachrichtung hat sie alle Problem- und Lebensbereiche von Menschen mit geistiger Behinderung – von der Geburt bis zum Tode – zu berücksichtigen:

Humangenetische Beratung / Pränatale Diagnostik

Berufsvorbereitung / Arbeit

Hilfen zur Freizeitgestaltung

Weiter- und Erwachsenenbildung

Wohnen in unterschiedlichen Institutionen

Behindertenpflege / Assistenz im Alter

Schulische Erziehung und Bildung

Psychologische Hilfen

Soziale Hilfen / Hilfen zur Eingliederung

Juristische Hilfen (Behindertenrecht)

Medizinische Therapien und Versorgung

Frühdiagnose und -therapie

Und dies geschieht, weil die geistige Behinderung keine Krankheit ist, die irgendwann geheilt werden kann, sondern weil Geistigbehindert-Sein ein lebenslanger Prozess ist.

Geistigbehindert-Sein als lebenslanger Prozess

Die geistige Behinderung kann durch eine organische Schädigung vor, während oder nach der Geburt verursacht werden und führt in der Regel zu einer lebenslangen Beeinträchtigung. Behinderung kann aber auch durch gravierende Benachteiligung entstehen. Bei der geistigen Behinderung handelt es sich, wie später in Kapitel 3.3 noch genauer gezeigt wird, nicht um ein einheitliches Krankheitsbild. Die Schädigungen wie auch die sich hieraus ergebenden Beeinträchtigungen für das Leben des geschädigten Menschen sind vielfältig und bedürfen in jeder Lebensphase besonderer pädagogischer Zuwendung; diese ist im Säuglings- und Kleinkindalter eine andere als im Schul- und Jugendlichenalter und wiederum eine andere bei jüngeren Erwachsenen oder bei alten Menschen. Die Geistigbehindertenpädagogik thematisiert alle Lebensbereiche und hat damit in allen Lebensräumen von Menschen mit Behinderung ihre spezifischen Aufgaben.


Abb. 3: Institutionen der Erziehung und Bildung von Menschen mit geistiger Behinderung

Die Lebensräume reichen von der Familie über Kliniken, Frühfördereinrichtungen (Spezielle Frühförderzentren, Kinder- und Sonderkindergärten), Sonderschulen und integrative Schulen, Werkstätten für behinderte Menschen, Freizeiteinrichtungen, Rehabilitationszentren, psychiatrische Institutionen bis zu ambulanten, gemeindeintegrierten oder stationären Wohneinrichtungen, Paarwohnen und Leben in Alten- oder Pflegeheimen.

Trotz ihrer zwangsläufig unterschiedlichen Zielsetzung dienen die Institutionen dazu, den Menschen mit geistiger Behinderung bei der Erfüllung ihrer Bedürfnisse nach Spielen, Lernen, Arbeiten, nach Freizeit, Ferien und Urlaub, nach Freunden, Liebe und Sexualität, nach Hilfe, Fürsorge und Schutz oder nach Angenommen- und Akzeptiert-Sein behilflich zu sein.

Geistigbehindertenpädagogik als ‚Pädagogik vom Menschen aus‘ heißt also Akzeptieren des Menschen mit Behinderung als Menschen, Erkennen seiner individuellen Einschränkungen und Möglichkeiten und größtmögliche Entfaltung seiner Fähigkeiten durch adäquate Bildung, Erziehung und Rehabilitation (Kap. 3 und Kapitel 4). Eine zentrale Aufgabe der Geistigbehindertenpädagogik ist es demzufolge, die Wünsche und Bedürfnisse von Menschen mit geistiger Behinderung im Sinne der Assistenz in der Gesellschaft zu vertreten. Dies gestaltet sich aber immer noch schwierig, weil Schädigungen und Beeinträchtigungen den behinderten Menschen als ‚anders‘ erscheinen lassen und die Gesellschaft wiederum auf Anderssein, auf Abweichungen von der Norm mit Abwertung und Diskriminierung reagiert.

 

Grundgesetz

Und sie tut dies trotz des gesetzlich verankerten Benachteiligungsverbotes. In Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland heißt es ausdrücklich: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Ein Gleichheitsgebot bzw. die Wahrung der Menschenrechte wurde international bereits 1948 durch die Vereinten Nationen in der „Universal Declaration of Human Rights“ festgelegt, die die Gleichheit aller Menschen (Artikel 1 und 2) und das Recht auf Bildung (Artikel 26/1 und 2) betont. „Seit den 50er Jahren haben sich in wirtschaftlich entwickelten Ländern, vorab auch denjenigen Europas, einige Grundauffassungen und Konzepte bezüglich Behinderung und Behindertenförderung entscheidend verändert. Dazu gehören das Recht behinderter Menschen auf Bildung und Chancengleichheit, das Verständnis von Behinderung, die Prinzipien der Kontinuität und der Flexibilität, der Normalisierung und der Integration“ (Bürli 1997, 48).

WHO, UN

Es waren vor allem die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO) und die Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization, UNESCO) die sich für die Belange behinderter Menschen eingesetzt haben. Auf ihren weltweiten Kongressen und Tagungen vertritt die Internationale Liga von Vereinigungen zugunsten geistig behinderter Menschen (International League of Societies for the Mentally Handicapped, ILSMH) deren Interesse und setzt sich für ihre Rechte ein. Die WHO hat 1980 auf die notwendige Differenzierung von Schädigung (impairment), Beeinträchtigung (disability) und Behinderung (handicap) aufmerksam gemacht, worauf ich in Kapitel 3.2 noch genauer eingehen werde. Zu den Aufgaben der UNESCO gehört neben der Durchsetzung der Menschenrechte auch die Förderung der internationalen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Erziehung, Wissenschaft und Information sowie die Erschließung von Bildung und Kultur für alle Menschen. Seit Mitte der 1980er Jahre wendete sie sich behindertenpädagogischen Belangen zu. Sie hat Ende der 1980er Jahre eine Erhebung zur weltweiten Situation der Sonderpädagogik und eine internationale Umfrage zur behindertenpädagogischen Gesetzgebung in Auftrag gegeben,die 1994 auf ihrem Weltkongress in Salamanca vorgestellt wurde. Wichtige Impulse, vor allem für die schulische Integration, gingen von diesem Kongress aus.

Mit Bürli lassen sich die internationalen Entwicklungen der vergangenen 30 Jahre folgendermaßen zusammenfassen:

„In den 70er Jahren wurde das Behinderungskonzept durch die Umfelddimension erweitert. Durch die Forderung nach Einbezug der Umwelt wurde die Behindertenfrage zu einer politisch-gesellschaftlichen Aufgabe. Dies fand u.a. seinen Niederschlag im Jahr des Behinderten (1981) mit dem anschließenden weltweiten UN-Aktionsprogramm (1983), in der Dekade des Behinderten (1983–1992) und vor kurzem in der UN-Deklaration der Standardregeln über Chancengleichheit behinderter Personen (1993). Erstmals wurde Behindertenpolitik in drei Bereiche, nämlich Prävention, Rehabilitation und Chancengleichheit unterteilt und mit der Menschenrechtsfrage in Verbindung gebracht … Im Anschluss an die verschiedenen Deklarationen und Aktionen zugunsten behinderter Menschen haben zahlreiche Staaten Gesetze und Richtlinien erlassen“ (1997, 48f).

Im Mai 2007 haben die Vereinten Nationen (UN) in New York die „Konvention zum Schutz der Rechte behinderter Menschen“ verabschiedet. Sie setzt sich für eine stärkere Integration von Menschen mit Behinderung in allen Lebensbereichen ein. Die Unterzeichnerstaaten, zu denen seit Dezember 2008 auch Deutschland gehört, verpflichten sich, die Vorgaben der Konvention in nationales Recht umzusetzen (Kap. 2.6).

1.3Brückenfunktion der Geistigbehindertenpädagogik

Subjekt der Pädagogik ist der zu erziehende Mensch. Subjekt der Geistigbehindertenpädagogik ist der Mensch mit geistiger Behinderung. Seine Funktionsstörungen haben Auswirkungen auf seine Entwicklung, auf sein ganzes Leben. Der Schweregrad der Auswirkungen bzw. Beeinträchtigungen ist bei jedem Menschen anders. Zum einen gibt es unterschiedliche Formen von Funktionsstörungen, zum anderen reagieren der Mensch und sein Umfeld, z.B. seine Familie, individuell verschieden auf die Störungen. Das heißt, der Mensch mit geistiger Behinderung muss immer auch aus dem Kontext seiner sozialen Umgebung heraus betrachtet werden.

Gegenstand von Pädagogik ist also nicht nur der zu erziehende Mensch, sondern ebenso die Gesellschaft mit ihren Erwartungen an ihn. Die Gesellschaft legt Normen und Werte, z. B. Gesundheit, Produktivität, Leistungsfähigkeit, Interaktionsfähigkeit, Teilhabe und Mitgestaltung des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens und vieles mehr fest. Dies sind Werte, die das familiäre wie das außer-der Geistigbehinfamiliäre Zusammenleben in all seinen Bereichen prägen. Die Pädagogik ist mit dertenpädagogikihren Erziehungs- und Bildungszielen daran interessiert, dass diese Normen und Werte vermittelt werden.

Abb. 4: Brückenfunktion der Geistigbehindertenpädagogik

Es ist unbestritten, dass die Gruppe der Menschen mit geistiger Behinderung eine gesellschaftliche Randgruppe ist. Zwischen Menschen mit geistiger Behinderung und nichtbehinderten Menschen besteht eine Kluft, die überwunden werden muss.

Die Hauptaufgabe der Geistigbehindertenpädagogik ist es nun, zwischen dem Individuum, dem behinderten Menschen mit all seinen Schwierigkeiten und Fähigkeiten auf der einen Seite und den gesellschaftlichen Erwartungen und Anforderungen auf der anderen Seite zu vermitteln. Die Geistigbehindertenpädagogik nimmt also eine Brückenfunktion ein. Sie will verbinden, Gräben überwinden, den Anschluss halten, den gegenseitigen Austausch sicherstellen und damit gemeinsame Entwicklungen gewährleisten. Sie strebt die Inklusion an. Die Brücke wird von der interdisziplinären Behindertenhilfe gestützt. Gleichzeitig wird die allgemeine Betreuung und Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung von der Geistigbehindertenpädagogik beeinflusst (siehe Abb. 4).

1.4Interdisziplinarität

Um Antworten auf die Fülle der behindertenrelevanten Fragen geben zu können und Lösungen für individuelle Probleme zu finden, ist die Geistigbehindertenpädagogik auf den Dialog mit anderen Wissenschaften angewiesen.

Abb. 5: Geistigbehindertenpädagogik im Dialog mit anderen Wissenschaften

Medizin

Die Medizin mit ihren verschiedenen Teilgebieten (Pädiatrie, Neurologie, Neurophysiologie, Orthopädie, Psychiatrie u.a. ), Institutionen und Fachkräften gibt Antworten auf behindertenspezifische medizinische Fragen, z.B. Ursachen von Hirnschädigungen und ihre Folgen. Sie ist des Weiteren verantwortlich für die Diagnose von Behinderungen und deren Therapie, die Verordnung von Medikamenten und Hilfsmitteln, von erforderlicher Physio- oder Psychotherapie. Sie erforscht neue Krankheitsbilder, die zu geistiger Behinderung führen, und entwickelt notwendige Behandlungsmethoden.

Psychologie

Die Psychologie erklärt innerpsychische und zwischenmenschliche Prozesse. Sie fragt nach Wahrnehmung, Denken und Handeln des Menschen, nach seinen Emotionen und Stimmungen, und diagnostiziert Störungen in diesen Bereichen. So thematisiert sie den Zusammenhang von geistiger Behinderung und psychischen Erkrankungen, entwickelt Therapien, z.B. zur Behebung von Lern- und Entwicklungsstörungen, oder beschäftigt sich mit der Rolle der Eltern und der professionellen Helfer und vieles andere mehr.

Soziologie

In der Soziologie steht der wechselseitige Zusammenhang von geistiger Behinderung und Gesellschaft im Vordergrund, vor allem die gesellschaftliche Einstellung zu Menschen mit geistiger Behinderung. Behinderungsrelevante Themen der Soziologie sind z. B. Integration, das Problem der Stigmatisierung, der Institutionalisierung, gesellschaftliche Rollen und Veränderungsprozesse u.a. m.

Philosophie

Die Philosophie betrachtet die Bedeutung des Behindert-Seins unter ethischen Aspekten. Sie stellt in diesem Zusammenhang existenzielle Fragen wie etwa nach dem Sinn und Wert des Lebens. Sie erörtert moralische Fragen von Erziehung und beteiligt sich an der anthropologischen Grundlegung der Allgemeinen Pädagogik, der Sonder- und Integrationspädagogik. Zudem liefert die Philosophie erkenntnistheoretische Grundlagen zur Begründung der Geistigbehindertenpädagogik als Wissenschaft.

Rechtswissenschaften

Die Rechtswissenschaften befassen sich mit der gesetzlichen und rechtlichen Situation der Menschen mit geistiger Behinderung, d.h. vor allem mit Gesetzen, Rechten, Pflichten und Regeln zum Schutz und zur Fürsorge für Menschen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft. Dazu gehören auch Fragen der gesetzlichen Betreuung.

Neurowissenschaften

Neurowissenschaftliche Erkenntnisse sind für die Geistigbehindertenpädagogik insofern von Bedeutung, als sie zu klären versuchen, wie sich bei Kindern neue Denk- und Interaktionsstrukturen entwickeln (Zimpel 2008). Neurobiologische Forschungsbefunde werden heute genutzt, um sie auf Lehr- und Lernprozesse im Sinne einer Neurodidaktik zu übertragen (Münch 2008).

Allgemeine Pädagogik

Die Allgemeine Pädagogik ist eng mit der Geistigbehindertenpädagogik verknüpft, weil beide zum Bereich der Erziehungs- und Bildungswissenschaft gehören. Ihre Theorien und Konzeptentwürfe sind nicht nur in der Integrationsdiskussion von Bedeutung. Nach einer Zeit der Abgrenzung voneinander ist seit den 1990er Jahren eine starke Annäherung und eine Rückbesinnung auf gemeinsame Wurzeln zu beobachten. Weil Menschen mit geistiger Behinderung allgemeine Erziehungs- und Bildungsnormen nicht erfüllen können, verwirklicht die Geistigbehindertenpädagogik mit ihren Konzeptentwicklungen eine basale Form von Erziehung. Durch ihr stärkeres Hinterfragen gebräuchlicher oder vertrauter Erziehungsmethoden und durch ihre Elementarisierung von Lehr- und Lernprozessen stellt sie die Pädagogik gleichsam auf ein breiteres Fundament. Das heißt, sie gibt den anderen heilpädagogischen Fachrichtungen und der Allgemeinen Pädagogik wichtige Anregungen für eine individualisierte und differenzierte Erziehung.

Zusammenfassung

Der Dialog der Geistigbehindertenpädagogik mit den Nachbarwissenschaften ist in mehrfacher Weise wirkungsvoll. Zum einen entwickeln sich gemeinsame interdisziplinäre Handlungsfelder wie z. B. in der Frühförderung oder auch im Bereich sozialer Integration von Arbeit und Freizeit; Handlungsfelder, in denen MitarbeiterInnen aus unterschiedlichen Bereichen miteinander arbeiten, z. B. Mediziner, Psychologen, Heilpädagogen, Therapeuten und So zialarbeiter.

Zum anderen bewirkt der interdisziplinäre Dialog auch den notwendigen Wissenstransfer, der heutzutage notwendig ist, um Menschen mit geistiger Behinderung ein Leben lang adäquat zu begleiten. Das heißt, die Geistigbehindertenpädagogik greift bei ihrer Konzept- und Theoriebildung auf Forschungsergebnisse und Erkenntnisse anderer Wissenschaftsbereiche, vornehmlich aus der Medizin, den Neurowissenschaften, der Psychologie, Soziologie und Philosophie zurück und verbindet sie mit pädagogischem Denken. Der interdisziplinäre Dialog mit der Geistigbehindertenpädagogik ist aber auch für die Bezugswissenschaften von Bedeutung, wenn sie Fragen von Behinderung klären wollen.


1.Wie unterscheiden sich die Begriffe Heil-, Sonder-, Förder- Behinderten- und Rehabilitationspädagogik voneinander?

 

2.Was zählt zu den Aufgaben der Heilpädagogik?

3.Welche Stellung nimmt die Geistigbehindertenpädagogik innerhalb der Heilpädagogik ein?

4.Wie würden Sie die Situation von Menschen mit geistiger Behinderung in unserer Gesellschaft beurteilen? Geben Sie Ihre Antwort auch vor dem Hintergrund Ihrer eigenen Erfahrungen und Einstellungen zu diesem Thema.

5.Fassen Sie noch einmal zusammen, von wo aus das geistigbehindertenpädagogische Denken seinen Ursprung nimmt, welche Aufgabenfelder das Fach umschließt und mit welchen Wissenschaften es im Dialog steht.