Ziegel - Phantastische Kurzgeschichten

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Mahnmal

Ich erreichte die Stadtgrenze und der Morgen brach an. Ich war die ganze Nacht durchgefahren und hatte noch immer fast 300 Meilen vor mir. Es handelte sich um eine winzige Stadt, eine große Hauptstraße, an der sich ein paar Geschäfte, ein Café, ein Diner und zwei Kirchen drängten. Dazwischen und etwas verstreut dahinter lagen wenige Wohnhäuser. Lackiertes Holz. Farbe blätterte ab. Schäbige Veranden. Hier und da ein alter Autoreifen, der an einem Seil von einem Baum hing. Ältere Menschen saßen auf Bänken entlang der Straße, obwohl die Sonne erst aufging.

Ich fuhr das Café auf der rechten Seite an, ließ den Wagen am Straßenrand ausrollen und zog erleichtert den Zündschlüssel ab.

Geschafft.

Sicher gab es hier ein Motel, wo ich mich für ein paar Stunden aufs Ohr hauen konnte.

Aussteigen, die Glieder strecken, tief ein- und ausatmen. Dann sah ich mich um. Ich nickte den Leuten auf der Sitzgruppe vor dem Café zu. Sagte:

„Guten Morgen!“

Sie nickten. Einer hob sogar ein wenig den Arm, um zu grüßen. Vielleicht verscheuchte er auch nur eine Fliege oder versuchte es mit mir. Sonst kein Wort. Sie saßen wieder da und starrten in die Gegend.

Ein paar klapprige Fahrzeuge fuhren die Straße runter.

Ich ging auf die Tür zu. Verschlossen.

„Is' noch geschlossen!“, murmelte einer der Alten, auf dem Kopf eine grüne Baseballkappe.

„Wann machen die denn auf?“

„Weiß nich'. Um 8?“

„Das steht auf dem Schild.“, fragte ein anderer der Männer.

Ich las.

„Da steht geöffnet.“, sagte ich.

„Dann hat Mary Lou wieder mal vergessen, das Schild umzudrehen.“

„Passiert ihr in letzter Zeit häufiger.“

„Sie wird alt, die Gute.“

„Und wissen Sie, wo ich um diese Uhrzeit einen Kaffee bekommen kann?“

„Hier.“, sagte der Eine.

„Um 8.“, meinte der Andere.

Noch fast 2 Stunden. Mein Blick überflog die Straße. Ödnis im Morgenschein. Schöner Titel für ein Bild, dachte ich. Allerdings war ich kein Maler. Oder Fotograf.

Ich beschloss, mir die Beine zu vertreten, und ging langsam die Straße entlang.

Der Himmel war wolkenlos, der Sonnenaufgang prächtig. Alle Töne zwischen rot und orange tauchten am Horizont auf. Wie sahen Sonnenauf- und -Untergänge wohl aus, als es noch keine globale Verschmutzung der Atmosphäre gab?

Die Luft roch nach Staub. Und Blüten. Und Frühling.

„Guten Morgen!“, rief mir eine Frau zu, die gerade ihren Laden für Tee und und Geschenkartikel öffnete.

„Auch einen guten Morgen. Sie wissen nicht zufällig, wo ich eine Tasse Kaffee kriegen könnte?“

„Um die Zeit? Bei Mary Lou würd ich sagen. Der beste Kaffee der Stadt. Und der beste Blaubeerkuchen der ganzen Gegend.“

„Da war ich schon.“

„Noch geschlossen?“

„Allerdings!“

„Aber um 8 macht sie auf. Vielleicht auch früher.“

Damit war sie wieder in ihrem Laden verschwunden und ließ mich stehen. Also steckte ich meine Hände in die Hosentaschen und ging weiter.

Wenige Schritte später tauchte neben mir, auf einer kleinen Straße zwischen zwei Häusern, eine Pyramide aus Ziegelsteinen auf. Mitten auf den spröden Asphalt gestellt und lose übereinandergestapelt. Ich trat näher. Es musste schon länger so stehen, denn zwischen den Fugen hatten sich erste Pflanzen heimisch gemacht.

Im umrundete das kleine schmucklose Denkmal und ging weiter. Da entdeckte ich auf der gegenüberliegenden Seite, direkt an der Hauptstraße, eine niedrige Mauer aus aufgerichteten Ziegeln. Und etwas weiter vorne waren einige Ziegel hochkant so angeordnet, dass sie eine mannshohe Säule bildeten.

Bei meinem Weg entlang der Hauptstraße fand ich noch weitere Ziegelsteingebilde. Am Ende der Ladenzeile machte die Hauptstraße eine Biegung nach rechts. Ich folgte der Straße und landete in einem Abrissviertel.

Vor mir erstreckte sich die Straße ungefähr 500 Meter und war links und rechts gesäumt von verfallenden Häusern, Geschäften und noch einer Kirche. Holzgerippe, verfallene Mauerreste, Schutt, trockene Pflanzen, abblätternde Farbe. Ein paar verbeulte, zum Teil ausgebrannte Autos standen am Straßenrand, in Einfahrten und hinter Gebäuden. Ein paar Hunde streunten durch die Ruinen auf der Suche nach mehr, als Verfall und Dreck.

Sonst war alles ruhig. Ein kühler Wind wehte und wirbelte mehr Staub auf.

Ein Blick auf die Uhr. Ich hatte erst 20 Minuten verbummelt. Trotzdem machte ich kehrt und ging den Weg, diesmal auf der anderen Seite, zurück zu meinem Wagen. Vielleicht hatte ich ja Glück und diese Mary Lou würde heute etwas früher öffnen.

Beim Vorbeigehen warf ich interessierte Blicke auf die aufgerichteten Ziegeldenkmäler.

Zu welchem Zweck errichte man diese Haufen entlang der Hauptstraße? War das Kunst? Wenn, dann keine die ich verstand.

Bei Mary Lous Café angekommen, die Alten saßen nach wie vor an Ort und Stelle, hatte ich tatsächlich Glück. Die Tür stand offen und als ich eintrat, empfing mich der Duft frisch aufgebrühten Kaffees.

„Einen wunderschönen guten Morgen, schöner fremder Mann!“

Hinter dem Tresen sortierte eine Frau, blond, Mitte 30, weiße Bluse, kurzer schwarzer Rock, freundliches Lächeln, Brownies, Cupcakes und Croissants in die Auslage.

„Gibt es schon Kaffee?“

„Was steht auf dem Schild, Hübscher?“

Ich las.

„Geöffnet ab 8 Uhr.“

„Klar hab' ich Kaffee. Vielleicht auch Frühstück dazu?“

Ich suchte mir einen Platz am Fenster zur Hauptstraße.

„Ich bin Mary Lou!“, sagte die Frau und reichte mir eine laminierte Karte.

„Hallo Mary Lou. Ich heiße Tony.“

„Hallo Tony. Was darf ich denn bringen?“

Ich überflog die Karte.

„Rührei, zweimal Speck, Toast, 3 Pancakes mit Sirup. Und Kaffee. Literweise Kaffee.“

„Kommt in wenigen Augenblicken.“

Mary Lou zwinkerte mir zu und ging hinter ihren Aluminiumtresen.

„Lester? Rührei, doppelt Speck, Toast, 3 Pancakes. Und zwar pronto!“, rief sie durch die Tür in die Küche des Cafés.

Ein hünenhafter Schwarzer, ungefähr 60, kahl, freundliche Augen, Backenbart, T-Shirt, Jeans und weiße Schürze, erschien im Durchgang.

„Jetzt nur keine Eile, Zuckerschnecke. Es ist, wie spät? Auf jeden Fall zu früh. Guten Morgen, wünsch ich!“

Ich grüßte zurück und lehnte mich entspannt zurück. Mary Lou brachte den Kaffee.

„Was verschlägt einen Kerl um diese Uhrzeit in unser gottverlassenes Kaff?“

„Wenn Sie sich setzen, dann erzähl ich es Ihnen.“

Sie nahm Platz.

„Ich höre?“

„Ich bin auf der Durchreise.“

„Das, Süßer, dachte ich mir bereits!“

„Ich bin unterwegs zur Hochzeit meiner Schwester.“

„Und die heiratet wo?“

„Frisco.“

„Dann hast du ja noch ein gutes Stück des Wegs vor dir.“

„Vor allem, weil ich heute Abend dort sein muss. Ich habe die Ringe!“

„Dann läuft da also nichts ohne dich?“

„Absolut nichts.“

Sie lächelte.

„Was ich Sie fragen wollte, Mary Lou.“

„Ja?“

„Ich bin gerade die Straße einmal rauf und runter und ... nun, da stehen überall aufgestapelte Ziegel herum. Hat das was zu bedeuten, was Spirituelles? Ist das was, dass Kunst darstellt? Oder gibt es hier nur eine Ziegelei, die da Warenmuster ausstellt?“

„Die Ziegel? Also, das ist so eine Sache.“

„Mary Lou, das Essen für Tisch 2!“

Das musste ich sein. Tisch 2. Ich war schließlich der einzige Gast. Sie holte das Essen, platzierte es mir einem Lächeln auf dem Tisch und wollte gehen.

„Wollten Sie mir nicht gerade erzählen, was es mit diesen Ziegeln auf sich hat?“

„Ich weiß nicht, ob ich das wollte.“

„Jetzt machen Sie doch kein Geheimnis drum. Es sind Ziegel. Kommen Sie schon. Ich bin die ganze Nacht durchgefahren und würde mich über etwas Unterhaltung freuen.“

Ich schaufelte mir Ei, ein Stück Pancake und einen krossgebratenen Streifen Speck in den Mund, himmlisch, und spülte es mit einem großen Schluck Kaffee runter.

„Sie müssen mir aber versprechen, mich nicht auszulachen!“

„Ehrenwort!“

„Es war vor ungefähr 50 Jahren, Vietnam war gerade auf seinem traurigen Höhepunkt und auch unser Ort bekam das zu spüren. Die ersten GIs kamen nach Hause, aber anders, als wir hofften. Sie kamen mit Orden und Medaillen in Särgen zurück und Offiziere brachten uns die Fahnen für die Familien der Gefallenen. Damals lag der Ort noch um die große Biegung, vorne rechts.“

„Die hab ich gesehen. Eine echte Ruinenstadt habt ihr da!“

„Meine Mutter lebte dort in den 1970-gern mit meiner Großmutter in einem kleinen Haus. Mein Großvater war noch im Krieg und keiner wusste, ob er je nach Hause kommen würde. Nun, es begann damit, dass eine Frau an einem gewöhnlichen Tag völlig hysterisch beim Sheriff aufschlug. Sie vermisste ihren Sohn. Er war einfach verschwunden. Der Sheriff war skeptisch, schließlich war der Junge noch keine 24 Stunden weg, versprach aber der Sache nachzugehen. Das war der erste Fall, der dokumentiert wurde.“

„Der erste Fall? Es gab weitere Vermisste?“

„Noch am gleich Tag gaben sieben weitere verzweifelte Familien Vermisstenanzeigen auf. Eine Frau hatte sogar einen Ziegel mitgebracht und sagte aus, dass ihr Mann während des Rasenmähens verschwunden sei und anstelle seiner, habe sie nur diesen Stein beim noch stotternden Rasenmäher gefunden.“

 

„Einen Ziegel?“

„Natürlich nahm das niemand Ernst. Bis im Laufe der Woche weitere Ziegel an allen möglichen Stellen auftauchten.“

„Nein!“

„In dem Maße wie Menschen verschwanden, tauchten wie aus dem Nichts diese Ziegel auf. Das ging über mehrere Wochen so. Keiner tauchte jemals wieder auf. Schließlich beschlossen die Verbliebenen den Ort zu verlassen. Sie bauten mit ihren mittlerweile aus dem Krieg heimgekehrten Männern diesen Teil der Stadt, um in der Nähe zu sein, wenn die Verschollenen wieder auftauchen würden.“

„Sie wollen sagen, dass mehrer Menschen über Wochen ...“

„Über Jahre!“

„Über Jahre einfach verschwunden sind und niemand hat je wieder etwas von ihnen gehört?“

„Der Sheriff hatte die Sache bereits nach zwei oder drei Wochen an des FBI übergeben. Die schickten ein paar Agenten her. Die fragten, ermittelten, sammelten Spuren und Beweise. Aber auch sie zogen unverrichteter Dinge wieder ab.“

Ich war fassungslos.

„Sie sagen also, jeder Ziegel da draußen, steht für einen verschwundenen Menschen?“

Lester war zu uns getreten. Er roch nach Fett und Schweiß und Zigarrenrauch.

„Zuerst verschwanden die Kinder. Meine beiden besten Freunde damals waren unter den Ersten. Ich weiß noch, wie wir Suchstaffeln gebildet hatten und tagelang die Umgebung und die Kanalisation durchforstet haben. Damals gab es sogar noch ein kleines Wäldchen am Südrand. Das wurde dann aber im Laufe der Suchaktion, da war das FBI schon wieder weg, abgeholzt, weil irgendwer dachte, es gäbe darunter den Zugang zu einer unterirdischen Militärbasis aus dem Zweiten Weltkrieg.“

„Und?“, fragte ich mit offenem Mund.

„Da war aber nichts. Die Bäume verrotten noch immer an Ort und Stelle. Es wurde noch lange über die unterirdische Basis gemunkelt. Dass man dort Experimente durchgeführt habe.“

„Experimente? Sagen Sie? Welcher Art waren denn diese Experimente? Energieforschung, Atomkraft?“

„Sie kennen das Philadelphia Experiment?“

„Ich habe davon gehört, ja.“

„Geschichten dieser Art kursierten noch Jahre später, auch heute noch, in der Bevölkerung. Es gab sogar eine Untersuchung durch das Militär, weil der Stadtrat irgendwann Mitte der 1980-ger einen Senator für sich gewinnen konnte und der sich dann der Sache im Senat annahm. Aber auch deren Untersuchung verlief im Sande.“

„Das mit dem Militär war sogar mir neu, Lester!“

„Du hast mich ja auch nie gefragt, Mary Lou.“

„Und Sie haben nie wieder was gehört oder gesehen?“

„Nie wieder.“

„Wie viele ...“

„Genau 383. Kinder, Frauen, Männer. Jeden Alters und Geschlechts.“

Mir lief es kalt den Rücken runter.

„Und seither? Gab es mal wieder Vermisste?“

„Keine, die nicht wieder aufgetaucht wären. Es schien, als hätten die Menschen damals sich schließlich mit der Angelegenheit arrangiert und lebten ihr Leben weiter. Irgendwann fingen die Leute dann an die Steine, die anstelle der Menschen dort aufgetaucht waren, zu Mahnmalen aufzuschichten, an den Orten, an denen es gehäuft zu letzten Beobachtungen der Vermissten gekommen war. Aber selbst da ergab sich kein Muster. Keine Verbindung zwischen den Standorten. Es war vollkommen willkürlich.“

Er kratzte sich am Kopf, bevor er fortfuhr.

„Früher gab es noch Zettel, Fotos, Teddybären, Blumen, Fotos auf Milchtüten und so was alles, aber das hat irgendwann aufgehört.“

„Das ist die unglaublichste Geschichte, die ich je gehört habe.“

„So, jetzt aber genug davon. Hat es Ihnen denn geschmeckt?“

Ich bedachte Lester mit meinem breitesten Grinsen und sagte wahrheitsgemäß:

„Es war himmlisch. Selten habe ich so gut gefrühstückt und garantiert schon lange nicht mehr so üppig.“

Mary Lou goss Kaffee nach und Lester räumte das Geschirr ab.

„Was ich noch fragen wollte!“

„Alles, was du möchtest, Kleiner!“

„Gibt es hier ein Motel, wo ich mich für ein paar Stunden ausstrecken könnte?“

„Hm? Ein Motel nicht.“

Sie warf einen kurzen, fragenden Blick zu Lester und dieser nickte kaum wahrnehmbar.

„Aber ...“

„Aber?“, fragte ich.

„... ich könnte bei Harvey Brookes anfragen. Der führt eine kleine Pension, gleich gegenüber. Vielleicht überlässt er Ihnen ja für ein paar Stunden ein Zimmer.“

„Das wäre sehr nett von Ihnen!“

Mary Lou ging zu einem altmodischen Telefon, das an der Wand hing. Sie sprach mit jemandem, das sah ich, konnte aber nichts hören. Dann signalisierte sie mir mit Daumen und Zeigefinger, dass alles okay sei.

Wenige Augenblicke später führte mich Harvey durch seine gemütliche Pension und ich bezog ein kleines Zimmer mit Fenster auf die Hauptstraße. Es war perfekt.

Ich zog die Vorhänge zu, stellte den Wecker auf dem Nachttisch und legte mich flach auf das Bett.

Es dauerte, bis ich einschlafen konnte. Ich wälzte mich hin und her, strampelte die Decke aus dem Bett. Vielleicht hätte ich nicht so viel essen sollen? Schließlich merkte ich, wie endlich die Müdigkeit in meine Glieder kroch. Ich vergrub mein Gesicht im Kissen und schlief erschöpft ein.

Etliche Stunden später klopfte Harvey Brookes an die Tür des einzigen zur Zeit vermieteten Zimmers.

„Sir? Sind Sie wach, Sir? Ich habe vorhin bereits Ihren Wecker gehört ...! Sir?“

Als keinerlei Reaktion aus dem kleinen Zimmer erfolgte, schloss Harvey mit dem Generalschlüssel auf und betrat den Raum. Er klopfte noch einmal und sagte:

„Sir?“

In der Tür hinter ihm erschien Mary Lou.

„Wie sieht es aus?“

Harvey zuckte die Schultern und trat zum Bett. Er ergriff die Decke und zog sie sachte vom Bett.

Mary Lou atmete erleichtert auf.

„Gott sei Dank!“, sagten beide.

In der Mitte des Bettes lag ein roter Ziegelstein.

Mary Lou nahm den Stein und verließ das Zimmer, während Harvey die Sachen seines verschwundenen Gastes in einen Beutel packte. Er würde sie später auf Wertgegenstände durchsehen.

Lester stand in der Tür des Cafés, als Mary Lou aus der Pension trat.

„Und?“, rief er ihr zu.

„Es ist alles gut.“

Sie schwenkte dabei den Stein und ging damit zu einem der Mahnmale, die die Hauptstraße links und rechts säumten, legte den Ziegel darauf ab und ging zurück zum Café.

Als sie eintreten wollte, ergriff einer der beiden Alten ihre Hand.

„Es ist gut, wie es ist. Lieber er, als einer von uns.“

Sie nickte und ging in ihren Laden. Sie dachte an die Braut, die heute ohne Ring würde heiraten müssen.

Lester, mit einem roten Benzinkanister in der einen und einem schweren Vorschlaghammer in der anderen Hand, ging zum Wagen und fuhr ihn in die verfallene Siedlung. Dort stieg er aus, entfernte die Nummernschilder und schlug schließlich mit dem schweren Hammer auf das Fahrzeug ein. Zum Schluss übergoss er es mit dem mitgebrachten Benzin. Schließlich kramte er einen Zigarrenstummel aus seiner Brusttasche, steckte ihn in den Mund und fummelte umständlich ein Wegwerffeuerzeug aus der Hosentasche. Nach 3 Versuchen konnte er endlich seinen ersten Zug seit Stunden machen. Er inhalierte andächtig den Rauch, hielt kurz inne und atmete ihn durch die Nase in blauen Wolken aus. Nach zwei weiteren Zügen schnippte er die glühende Kippe auf das mit Benzin getränkte Fahrzeug, das augenblicklich in Flammen aufging. Er wich ein paar Schritte zurück und sah zu, während dichte schwarze Wolken aufstiegen.

Ein paar der Stadtbewohner hatten sich am Anfang der Straße versammelt und beobachteten schweigend. Als das Feuer schließlich erloschen war, trotteten sie wortlos zu ihren Häusern und Familien zurück.

Danach kehrte wieder Ruhe ein und die Sonne versank ziegelrot am Horizont.

ENDE

Der Diebstahl

„Eugene, da ist eine für dich!“

Police Constable Eugene Foster sah von seinem Bericht auf.

„Noch jemand? Ich bin noch bei dem Unfallbericht von heute Morgen!“

„Unfall mit Todesfolge, Fahrerflucht?“

„Genau der!“

„Na, dann ist die da draußen DIE perfekte Ablenkung. Glaub mir.“

„Heiß?“, fragte Eugene erwartungsvoll.

„Verrückt!“, sagte Julius und verschwand lachend aus der Tür.

PC Foster stand auf, zupfte seine Jacke zurecht und betrat kurz darauf das Vorzimmer. Die Kollegen waren gerade mit einer Prostituierten, einem um sich schlagenden und wie verrückt schreienden, sabbernden Junkie und dem, mal wieder, streikenden Kaffeeautomaten beschäftigt. Sein Blick fiel auf die Frau, die am Tresen wartete.

Sie sah überhaupt nicht verrückt aus! Befand PC Foster und trat näher. Aber das taten Verrückte ja nie!

Es handelte sich um Edna Bloom, 56, wohnhaft in der Islington Road 63 b.

So stand es zumindest in ihrem Pass, den sie ihm ungefragt in die Hand drückte.

„Damit Sie sehen, dass ich es bin.“

Wer sollte es auch sonst sein? Die Queen?

„Danke!“, sagte er unverbindlich und legte ein Formular an.

„Was kann ich für Sie tun, Mrs. Bloom?“

„Miss Bloom!“

„Verzeihung! Miss Bloom!“

„Ich möchte einen Diebstahl zur Anzeige bringen.“

„Einen Diebstahl?“

„Ja!“

„Wann fand das Verbrechen statt?“

„Es muss heute Nacht gewesen sein. Denn heute Morgen, da war er plötzlich weg!“

Wer oder was war wohl weg? Er tippte auf:

„Was war weg, Madam?“

„Der Stein!“

„Bitte, Madam?“

„Der Stein, Officer!“

„Sie wollen sagen, dass Sie einen Stein vermissen?“

„Ich vermisse ihn nicht. Er wurde gestohlen!“

„Ein Stein?“

„Genau!“

Sollte er? Egal. Also:

„Ein Edelstein?“

Sie lachte.

„Ha!“

Offenbar nicht. Nein.

„Ein Ziegel.“

„Sie vermissen also einen ... Ziegelstein?“

Jetzt war klar, was sein Kollege meinte.

„Ich v e r m i s s e ihn nicht“, sie hatte es ihm wirklich buchstabiert, „er wurde mir gestohlen!“

„Ihnen wurde also ein“, das musste jetzt sein, „Z I E G E L-Stein gestohlen?“

„Genau!“

„Heute Nacht?“

„Genau!“

„Und besagtes ... Objekt lag zum Tatzeitpunkt ... Wo?“

Er glaubte nicht, dass er das wirklich fragte.

„Er lag nirgends.“

„Nicht?“

„Es war vermauert.“

„Was?“

„Er war eingemauert. In der Gartenmauer.“

„Ihnen wurde über Nacht ein Ziegel aus der Gartenmauer gebrochen?“

„Nein.“

„Nein?“

„Nicht gebrochen, eher ... entfernt!“

„Entfernt?“

„Spurlos!“

„Spurlos?“

„Als wäre er nie dagewesen.“

„Der Dieb oder der Ziegel?“

„Beide, Officer. Beide!“

„Sie erlauben, dass ich kurz zusammenfasse?“

„Ich bitte darum!“

„Sie zeigen das 'Entfernen' eines ...“

„Das S P U R L O S E Entfernen!“

„Sie zeigen also in der Tat das 'Spurlose Entfernen' eines Ziegelsteines in der vergangenen, mondlosen Nacht durch einen unbeobachteten Tatvorgang an? Ist das so in etwa richtig?“

„Das ist genau das, was ich sage! Ich habe sogar ein Foto!“

„Vom Stein?“

„Vom Tatort, Officer. Denken Sie, ich fotografiere Ziegel?“

Das dachte er für einen kurzen Augenblick tatsächlich! Sagte dann aber:

„Natürlich nicht, Madam!“

„Was machen wir jetzt?“

Sie reichte ihm das Foto.

Das war er also.

Der ominöse Tatort dieses im höchsten Maße ungehörigen Verbrechens. Er musste allerdings widerstrebend zugeben, dass der verschwundene Ziegel ein zutiefst ungewöhnliches Loch hinterlassen hatte.

Der Stein schien tatsächlich nicht mit Gewalt aus der Mauer gestemmt, sondern einfach herausgeschoben worden zu sein. Als wäre er auf dem Mörtel – herausgeglitten.

Was natürlich ungewöhnlich, aber nicht unvorstellbar war.

„Was unternehmen Sie jetzt?“

Er musste den Tatort in Augenschein nehmen.

„Ich werde den Tatort in Augenschein nehmen müssen!“

 

Er setzte sich seine Mütze auf, verließ die sichere Position hinter dem leicht erhöhten Tresen und bat Edna Bloom ihm zu folgen. Er bugsierte sich und Edna vorsichtig um den noch immer krakeelenden Junkie herum, touchierte dabei, nicht völlig unbeabsichtigt, die Brüste der Prostituierten und verließ forschen Schrittes die Wache.

„Zu Fuß?“, fragte Miss Bloom.

„Natürlich, Madam. Die Islington Road ist nur wenige Schritte entfernt. Ein Spaziergang wird mir guttun.“

„Ihnen vielleicht. Aber wer denkt an mich?“

PC Foster sicher nicht. Er hatte schon mehrere Schritte Vorsprung und wollte diesen nicht aus purer missverstandener Höflichkeit aufgeben.

„Sie legen ein ganz schönes Tempo vor, Officer!“

Das tat er.

„Das tue ich tatsächlich, Madam. Zeit ist ungeheuer wichtig, um Erfolge in der Aufklärung von Verbrechen zu erzielen.“

„Dann denken Sie, Sie finden ihn?“

„Den Ziegel?“

„Den Dieb natürlich! Der Ziegel ist mir doch egal.“

Ach?

Sie erreichten ohne Zwischenfälle und weitere absurde Dialoge, die Islington Road 63 b.

PC Foster schritt langsam, den Notizblock in der Linken, einen Stift in der Rechten, die niedrige Gartenmauer ab, bis er auf das geometrisch exakte Loch stieß.

„Sehen Sie.“

Das tat er und vermerkte die Beobachtung in seinem Block.

„Hier fehlt ein Stein.“

„Ja.“

„Und? Haben Sie jemanden im Verdacht?“

„Jemanden der einen Ziegel stiehlt?“

„Schließlich vermissen sie einen.“

„Wie oft denn noch: Ich vermisse den Ziegel nicht.“

„Aber?“

„Ich will wissen, wie ich dieses Loch wieder zu bekomme.“

„Nun, ich bin zwar nicht vom Fach, aber ich würde sagen: Mit einem Ziegel?“

„Eben nicht, Officer!“

Ach nein?

„Ich glaube, ich verstehe nicht.“

„Nun, würden Sie bitte einen Blick durch das Loch werfen?“

Er tat, worum man ihn gebeten hatte. Er bückte sich und warf einen Blick durch die Öffnung in das Innere des Gartens.

„Nun? Was sehen Sie?“

„Einen beneidenswert schön blühenden Garten! Sind das Hortensien?“

„Veilchen! Und genau das ist das Problem!“

„Die Veilchen sind ein Problem?“

„Der Garten, Officer! Der blühende Garten!“

„Ihr blühender Garten ist das Problem?“

„Würden Sie bitte über die Mauer blicken?“

Auch dieser Bitte leistete er Folge.

Ha!

Etwas stimmte nicht.

„Verstehen Sie jetzt, was ich meine?“

Er begriff.

„In Ihrem Garten blüht nichts.“

„Das tut es in dieser Jahreszeit in ganz England nicht.“

„Aber in Ihrem Loch blüht es.“

„Worauf Sie einen lassen können!“

„Ich muss doch sehr bitten!“

„Worauf Sie einen lassen können, Officer!“

„Wir haben hier also ein Loch, verursacht durch einen mysteriösen Ziegelklau, das uns augenscheinlich einen anderen Garten zu einer anderen Zeit oder einem anderen Ort zeigt?“

„Sie haben meine gesamten Beobachtungen damit sehr gut zusammengefasst. Officer!“

„Danke“

„Was jetzt?“

Das war eine gute Frage. Also tat er das, was gute Polizisten immer tun, wenn sie nicht weiter wissen. Er erteilte Anordnungen oder wartete auf welche.

Da gerade keine an ihn weisungsbefugte Person anwesend war, setzte er einen Funkspruch nach Verstärkung ab und erteilte nun Anordnungen an die Zivilbevölkerung. In diesem Fall repräsentiert von Miss Edna Bloom.

„Bitte gehen Sie weiter, es gibt hier nichts zu sehen.“

„Was reden Sie denn da?“

„Bitte verlassen Sie den ... Tatort umgehend, bis die KT und die SpuSi da sind!“

„Wer?“

„Die Fachleute von den Abteilungen der Kriminaltechnik und der Spurensicherung. Bis dahin muss eine weitere Kontamination des Tatortes unbedingt vermieden werden. Sie könnten die Angelegenheit für mich ungemein vereinfachen, wenn Sie zurück in ihr Heim gehen.“

Derartig brüsk verscheucht, verabschiedete sich Miss Bloom und betrat umgehend ihr Haus, um sich bei Tee und Gebäck während eines Telefonats mit ihren Freundinnen über die schlechten Manieren der heutigen Polizei zu beschweren. Sie entschied, dass sie PC Foster weder Tee noch Kekse anbieten würde. Das hatte er nun davon!

So entging ihr, was inzwischen auf der Straße geschah. PC Eugene Foster kontrollierte erneut die Öffnung. Er nahm ein Maßband und notierte die äußeren Abmessungen der Öffnung. Dann machte er Fotos aus verschiedenen Perspektiven, konnte aber die unterschiedlichen Gärten nicht auf ein gemeinsames Foto bannen. Schließlich hatte er die Idee, wie er den Garten jenseits der Öffnung untersuchen könnte. Vielleicht würde er anhand von Fotos Landmarken in diesem seltsamen Garten festhalten können, die eine Bestimmung der tatsächlichen, lokalisierbaren Lage des Gartens ermöglichten.

Also stellte er seine Digitalkamera auf Selbstauslöser mit 3 Sekunden Verzögerung und Serienaufnahme. Dann ging er vor dem Loch auf die Knie und schob vorsichtig seinen rechten Arm mit der Kamera in die Öffnung. Das war in Anbetracht der niedrigen Lage des fehlenden Ziegels nicht ganz so einfach, so dass er sich fast auf den Boden legen musste, um seinen Arm ganz durch die Öffnung zu stecken.

Er hörte, wie die Kamera anfing, Fotos im 3 Sekunden Takt zu schießen und versuchte so viele Blickwinkel wie möglich zu erfassen, indem er seinen Arm so weit als möglich verrenkte.

Schließlich hörte die Kamera auf, Fotos zu machen. PC Foster atmete erleichtert auf, konnte er sich doch endlich aus der unbequemen Haltung befreien. Er wollte gerade seinen Arm herausziehen, als er bemerkte, dass jemand (oder etwas?) an seinem Arm zog. Erst sanft und vorsichtig und dann energisch und kräftig. PC Foster konnte nicht sagen, was oder wer ihn festhielt, er wusste nur, dass er hier festhing. Er stemmte sich gegen die Mauer, so gut es ging, und versuchte, seine Beine zwischen sich und die Wand zu schieben. Es gelang und so versuchte er, mit aller Kraft gegen den Widerstand anzukämpfen. Er konnte sich so Zentimeter für Zentimeter aus der Öffnung ziehen und sein Herz machte einen kleinen Freudensprung. Fürchtete er doch, so von seinen Kollegen vorgefunden zu werden.

Doch gerade als er erwartete, seine Hand mit der Kamera aus der Öffnung kommen zu sehen, wurde er mit solcher Gewalt gegen die Mauer gezogen, dass man das schmerzhafte Knacken seines Schädels als Echo von gegenüber hören konnte. PC Foster wurde schwarz vor Augen. Ein heftiger Schmerz durchfuhr seinen Schädel. Flüssigkeit floss ihm über die Stirn. Schwach hob er den Kopf und sah an die Mauer. Blut! Eine Unmenge an Blut klebte dort und Haare und Hautfetzen.

Und wieder wurde sein Arm in diesen fremden Garten gerissen und wieder schlug PC Foster mit viel Schwung gegen die Mauer. Diesmal mit dem Gesicht. Seine Nase brach. Er schmeckte Blut. An dieser Stelle verließ ihn die Kraft in seinem rechten Arm und er ließ die Kamera auf der anderen Seite der Mauer in den üppig blühenden Garten fallen, der nicht Edna Bloom zu gehören schien. Nach einem weiteren heftigen Aufprall verlor er schließlich das Bewusstsein und musste nicht mehr miterleben, wie er noch mehrmals mit enormer Kraft in das Loch gezogen wurde. Seine Schulter brach, die Sehnen hielten den Arm noch mit dem Körper verbunden. Ein weiter Zug und das Genick knickte ein und der Kopf folgte der knackenden Schulter mit einem schmatzenden Geräusch durch die schmale Öffnung. Hirnmasse und Blut liefen an der Mauer herab, durch die nach mehreren Versuchen schließlich der gesamte Körper von PC Foster gezogen wurde.

Als die Kollegen eintrafen, fanden sie vor Ort lediglich die Mütze von Eugene Foster, Police Constable und Blut sowie Hirnmasse um eine viel zu kleine Öffnung, die in einen fremden Garten führte.

Die Polizei tat, was die Polizei in solchen Fällen tut, wofür sie jahrelang ausgebildet wurde und täglich trainiert: Sie sperrte den Tatort großzügig mit Flatterband ab, baute einen mobilen Pavillon auf und kochte dort Tee für die Beamten, die sich sehr gründlich vor Ort umsahen und diverse Berichte verfassten. Man bat die sich bildende Menschenmenge, aus einzelnen neugierigen Passanten sich umgehend wieder aufzulösen, mit dem Hinweis, dass es hier überhaupt nichts zu sehen gäbe.

Nachdem der Selfiestick eines Touristen mitsamt dessen Handy von der Öffnung verschlungen worden war, wandte sich die Polizei an das Militär, welches Messungen durchführte. Das Militär wiederum war völlig perplex und verwirrt von den als widersprüchlich eingestuften Messdaten, informierte schließlich den Geheimdienst und der wiederum, nach einer angemessenen Zeit der Beratung, die Regierung.

Nachdem alle Messungen, die Militär, Wissenschaft und Telekommunikationsunternehmen durchgeführt hatten, zu keinem eindeutigen, schlüssigen Ergebnis zusammengefasst werden konnten, beschloss die Regierung, auf eine seit Generationen bewährte und narrensichere Vorgehensweise zurückzugreifen: Man leugnete das Ereignis und setzte alles daran es totzuschweigen.

Eine große Vertuschungsaktion wurde gestartet. Das Haus wurde Miss Bloom zu einem für sie guten Preis abgekauft und der verschwundene Ziegel wurde zunächst durch ein baugleiches Fabrikat ersetzt. Es half jedoch nichts.

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