Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen

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Zum Allerwichtigsten seines Buches aber gehört, dass Knigge die Lebensführungsideale eben nicht aus überkommenen Vorschriften bezog, sondern aus der Beobachtung und aus dem Verstehen des Menschen selbst. »Man muß die Gemüthsarten der Menschen studieren, in so fern man im Umgange mit ihnen auf sie wirken will«, schrieb er.

Dieser Mann schaute den Menschen an, wie er war und ist, und wollte das Beste in ihm entwickeln helfen.

Wenn man vom Anstand redet, spricht man also zunächst einmal vor allem von einem gewissen alltagsmoralischen Ideal des Menschen. Und räumt man allen Verständnisschutt beiseite, so sieht man ein Wort, mit dem jeder etwas anfangen kann – und allein das ist vielleicht nicht ganz unwichtig.

»Man kann sich schlecht eine Kultur vorstellen, die auf Anstand verzichtet, aber es ist nicht nötig, dass der Anstand in jeder gleich aussieht«, hat der Germanist Karl-Heinz Göttert in seinem Buch Zeiten und Sitten. Eine Geschichte des Anstands geschrieben. Cicero beispielsweise habe in seiner Definition als entscheidendes Merkmal den Verzicht auf Kränkung genannt. Jeder habe, Cicero zufolge, so Göttert, »den Anspruch darauf, nicht verletzt zu werden. Wie das Recht darüber wache, dass dies nicht mit dem Messer geschehe, so der Anstand, dass man mit Worten darauf verzichte«.

Die Frage ist, ob wir das heute noch so sehen.

Göttert zitiert das Beispiel der Mohammed-Karikaturen in der dänischen Zeitung Jyllands-Posten 2005, durch die sich Muslime gekränkt fühlten, worauf jedenfalls die radikalen unter ihnen blutige Rache schworen. Wohingegen wir die Zeichnungen, um den Preis der Kränkung, als zulässige, der Wahrheitsfindung dienende und keineswegs den Anstand verletzende Meinungsäußerung sehen würden. Kränkung, so Göttert, »erscheint so gesehen als eine kulturabhängige Größe«.

Anstand habe, schreibt er weiter, »letztlich etwas mit der Frage zu tun, wie eine Gesellschaft ihr schlechterdings entscheidendes Problem löst: den Verzicht auf Gewalt«. Es gehe um die Betrachtung eigenen Handelns mit den Augen der anderen, um Mitleid und Kooperation. Aber anders als in den Bereichen des Rechts und der Moral sei der Begriff des Anstands nicht über Zeiten und Gesellschaften zu universalisieren, sondern offensichtlich eher zeitabhängig. Mord ist in allen Gesellschaften zu allen Zeiten verboten, für die Kränkung gilt das so nicht. Denn wenn sie, die Kränkung, als Immunisierungs-Möglichkeit gegen jede Kritik benutzt wird, dann hat sie offensichtlich in einer freien Gesellschaft einen anderen Platz als in der Ciceros; bei uns muss es möglich sein, eine Religion zu kritisieren, auch um den Preis der Kränkung.

Doch das Problem im Fall der Karikaturen war ja wohl eher, dass Leute, die diese Bilder nicht einmal kannten, den Zeichner mit dem Tod bedrohten. Da geht es nicht mehr um die Kränkung, sondern wie man damit umgeht, oder? Dass man also nicht Leute umbringt, die einen gekränkt haben.

Anstand sei eben weder Recht noch Moral, sagt Göttert jedenfalls. Dieser Gedanke könnte uns weiterhelfen: Anstand gleiche »mehr der Mode, die das Problem der (notwendigen) Bekleidung mit immer neuen Ideen löst«. Die Frage wäre dann, was wir in unserer Zeit für wesentlich halten. Welche Ideen wir jetzt dazu haben. Was uns heute dazu einfällt.

Wobei ich hier Zweifel hätte: Mode? Ist das nicht zu beliebig? Es mag sein, dass jede Zeit ihren Anstands-Begriff neu finden muss. Aber gibt es nicht auch vieles, das universal ist, immer gültig und in jeder Form der zivilisierten Gesellschaft unentbehrlich?

Der Philosoph Dieter Thomä hat in einem Aufsatz die Auffassungen Immanuel Kants, des Philosophen, zu diesem Thema untersucht. Kant stand, liest man da, dem Anstand zu Beginn in seinen Vorlesungen in Königsberg offenbar weit kritischer gegenüber als später, er hielt ihn zunächst für bloße Anpassung an oberflächliche Regeln, für platten Konformismus. In der Tat ist das ja ein verbreitetes Verständnis: Man unterwirft sich überkommenen Verhaltensvorschriften, es geht um optischen Schein ohne innere moralische Überzeugung.

Diese Auffassung kennen wir auch heute noch, denn Anstand ist, so gesehen, eine Art sozialer Schmierstoff, der jede beliebige Gesellschaft zum Funktionieren bringt. Es hat Zeiten gegeben, in denen Homosexualität als unanständig galt (es gibt sie heute noch), auch solche, so Thomä, »in denen derjenige als unanständig galt, der ohne Hut über die Straße ging, und derjenige als anständig, der seine Kinder regelmäßig mit Prügelstrafen disziplinierte«. Im extremsten Fall darf sich dann sogar ein SS-Mann für anständig halten, der Juden ermordet, sich aber nicht persönlich an ihrer Habe bereichert hat.

Man sieht: »Vieles von dem, was unter Anstand firmiert, ist gerade darauf angelegt, eine gewisse Unschärfe oder Verschwommenheit zu erzeugen: Von irgendeinem Verhalten heißt es, dass es sich so gehöre.« (Thomä)

Später dann zog Kant als Beispiele für den Anstand solche heran, denen ein eigener moralischer Gehalt innewohnt: Leutseligkeit, Freimütigkeit, Freundlichkeit, Höflichkeit, Gesprächigkeit, »sie alle«, schreibt Thomä, »regulieren nicht nur ein gesetzmäßiges Verhalten, sondern kennzeichnen ein menschenfreundliches Miteinander«. Deckmantel für Unmenschlichkeit aber können sie nicht sein. Er kam damit zu einem anderen Verständnis, bei dem es weniger um Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe und um formale Vorschriften geht, sondern um schlichte Menschlichkeit, um »Teilnehmen an dem Schicksal anderer Menschen« (Kant).

Das ist genau der Punkt, den der eingangs zitierte Leser meinte, wenn er von den »weichen Werten« schrieb. Denn heute haben wir, schreibt Thomä, auf der einen Seite eine weitgehend Gesetzen folgende, »durchaus auch moralisch ambitionierte Gesellschaftsordnung«, auf der anderen das Handeln vieler Einzelner, denen es nicht um diese Ordnung, sondern um die maximale Ausnutzung persönlicher Spielräume und die Verteidigung der eigenen Ungebundenheit gehe. Der Zusammenhalt einer modernen Gesellschaft aber stehe und falle genau mit dem, was dazwischen ist, dem »Zwischenreich, in dem Individuen sich mit einander arrangieren, auf einander einlassen und aneinander wachsen«.

Genau das, so könnte man sagen, ist der Bereich, in dem der Anstand waltet, wie wir ihn hier verstehen wollen.

Reden wir aber von Zu- statt Abwendung, von Teilnahme anstelle von Ablehnung, dann geht es natürlich auch um die Grundlagen menschlichen Zusammenlebens. War es Knigge nicht darum zu tun? Und ging es nicht Erich Kästner und auch Hans Fallada exakt darum in den Dreißigerjahren, als die Verbrecher auf dem Weg an die Macht waren? Um ein Basiswissen von dem, was man im Umgang mit anderen tut und was nicht? Ging es nicht um einen ganz persönlichen Ehrbegriff des einzelnen Menschen?

Fallada beschreibt in seinem berühmten Roman Kleiner Mann – was nun? das Leben des Verkäufers Johannes Pinneberg und seiner Frau Emma in den Zeiten der Weimarer Republik, den Jahren von wirtschaftlicher Not und politischem Radikalismus, die schließlich in die Nazizeit mündeten. Herausgefordert vom Schicksal, das für Pinneberg beispielsweise die Entlassung mit sich bringt, finden die beiden die einzige Sicherheit in ihrem Leben im privaten Glück, in ihrer Liebe und in einem Begriff von Anständigkeit, den Fallada für Emma so formuliert: Sie habe »ein paar einfache Begriffe«, nämlich »daß die meisten Menschen nur schlecht sind, weil sie schlecht gemacht werden, daß man niemanden verurteilen soll, weil man nicht weiß, was man selber täte, daß die Großen immer denken, die Kleinen fühlten es nicht so – solche Sachen hat sie in sich, nicht ausgedacht, die sind in ihr«.

An anderer Stelle, in einem anderen Roman (Jeder stirbt für sich allein heißt er) bestärkt der Musiker Reichhardt den Helden des Romans, Otto Quangel, darin, dass es sich lohnt, Widerstand gegen die Nazis zu leisten, »weil wir uns bis zum Tode als anständige Menschen fühlen können«.

So lautet Falladas Bekenntnis zu einer Anständigkeit als einem Wertekanon, auf den er sich in den Zeiten, in denen er lebte, beziehen wollte. »Was wir brauchen und wozu wir kommen werden«, schrieb er 1932, »das ist – über alle Parteien und Ideen weg, eine Front der ›Anständigen‹ im Lande, eine Front der Menschen, die menschlich denken.« Und weil Fallada ein Verehrer Erich Kästners war, formulierte er 1931 anhand von dessen Fabian eine Art Manifest des Anstands:

»Tut, was ihr wollt«, so beginnt es, »wir werden nicht auf die Anständigkeit verzichten. Tut, was ihr könnt, wir werden darum schwarz schwarz und einen Millionär einen Schurken nennen. Jagt, habt Erfolg – wir werden das nur Betrieb und Mißerfolg nennen. Zieht uns hinein in eure Schweinereien – das könnt ihr, aber sterben tun wir doch allein, ganz allein, ohne euch, beispielsweise bei der Rettung eines Kindes; wir Fabian Kästners protestieren, heute, morgen, immer. Es ist die alte Melodie, im Anfang, am Ende, wie in der Mitte. Sie ist der Grundakkord des Menschen Kästner: seid anständig. Laßt euch nicht verführen. Bleibt anständig.«

So klingt das, wenn Menschen sprechen, die mit ihrem Verständnis von Anstand im Leben existenziell gefordert waren, etwas, das die meisten von uns nie erlebt haben und hoffentlich nie erleben werden.

Und es klingt auch so, bei Kästner selbst, in seinem Gedicht Warnung vor Selbstschüssen von 1929:

War Dein Plan nicht: irgendwie

Alle Menschen gut zu machen?

Morgen wirst Du drüber lachen.

Aber, bessern kann man sie.

Ja, die Bösen und Beschränkten

Sind die Meisten und die Stärkern.

Aber spiel nicht den Gekränkten.

Bleib am Leben, sie zu ärgern!

Das war Kästners Credo: sich nicht erschießen, nicht gehen, nicht kneifen, da sein, auch wenn es schwierig wird! Etwas riskieren. Anständig sein.

 

Sagten wir nicht über Knigge, er wollte das Beste im Menschen entwickeln helfen? Kästner habe, so Fallada, gesagt: Der Mensch ist nicht gut. Aber man kann ihn bessern, »besser, das ist zu schaffen.«

Fabian, seine Romanfigur, sagte: »Ich warte auf den Sieg der Anständigkeit, dann könnte ich mich zur Verfügung stellen. Aber ich warte darauf wie ein Ungläubiger auf Wunder.« Aber hatte er, Fabian, nicht dadurch, dass er nach seinen Prinzipien lebte und starb, dazu beigetragen, dass die Anständigkeit doch ihre Siege errungen hat, leider erst sehr viel später?

Und nun die Frage: Fehlt uns nicht sowohl im täglichen Lebensgewurschtel als auch in der politischen Situation, in der wir uns befinden – in dieser für uns sehr lange nicht da gewesenen Herausforderung durch Populisten und Demokratiefeinde also –, etwas von einem gewissen Pathos, von einer klar formulierten Vision dessen, was und wie wir als Einzelne im Leben mit anderen sein wollen?

Fehlt uns das nicht schon lange?

Wir haben in vieler Hinsicht das Gefühl dafür verloren, was es bedeutet, eine Gesellschaft zu sein, zusammenzugehören, sich auseinanderzusetzen, wir haben so oft kein Ideal mehr davon, was es bedeutet, ein Bürger zu sein, wir sind getrieben von der technischen Entwicklung, von einer Nötigung zu ständiger Selbstdarstellung, von diffusen Ängsten, die wir uns einerseits nicht eingestehen oder andererseits total übertreiben, wir sind hysterisch, wo wir nüchtern sein müssten, und unaufmerksam, wo wir wachsam sein sollten.

»Ist das nicht total übertrieben?«, fragt mein Freund. »Ich kenne so viele hochanständige Leute. Ich kenne etliche, denen das auch zuwider ist, wovon du sprichst. Es gibt in Facebook-Gruppen einen Riesenzulauf für Aktionen gegen Hass im Internet. Und denk mal an die 400 000 Leute, die 1992 in München mit einer Lichterkette gegen Fremdenfeindlichkeit und Rechtsradikalismus auftraten! Und die unglaublich vielen Leute, die ehrenamtlich irgendwo in diesem Sinn arbeiten.«

»Das will ich auch nicht bestreiten. Aber man muss auch sagen, dass sich Dinge verändern, oder? Und es ist ja auch jetzt nur erst mal so ein Gefühl, wie gesagt. Sagen wir: Es geht um ein gewisses Unbehagen, wenn man sich unsere gesellschaftliche Entwicklung ansieht.«

Woher kommt es?

Warum ist es da?

Und wäre es nicht an der Zeit, dass wir uns ein paar Gedanken machen über die Art, wie wir in der Öffentlichkeit miteinander umgehen? Denn darum soll es hier ja auch gehen, um den Ton, die Lautstärke, die Wortwahl, wenn wir miteinander reden. Um unsere ganze eigene Haltung, wenn wir uns auseinandersetzen.

»Gestern saß ich mit meiner Familie in einem Lokal«, sage ich zu meinem Freund, »das war in der Stadt, es war schon spät. Am Nebentisch saß eine Frau mit einem kleinen Kind, sie bestellte nichts, denn sie wartete anscheinend, und als sie eine Weile gewartet hatte, erschien ein Mann, der wohl ihr Mann und der Vater des Kindes war. Er setzte sich dazu, sie redeten nicht übermäßig viel, studierten die Karte, bestellten, die Frau und das Kind schauten immer wieder den Mann an. Aber er holte zuerst sein Smartphone heraus, dann sein Tablet, suchte darin herum, drückte hier, drückte da, dann baute er beide Geräte vor sich auf, und zwar zwischen sich und Frau und Kind. Ab und zu wechselte er ein paar Worte mit ihnen, aber vorwiegend schaute er in die Geräte.«

»Sieht man öfter, so was«, sagt mein Freund.

»Ja, natürlich«, sage ich. »Und es widerstrebt mir, deshalb nun die übliche Klage zu beginnen, vom Verfall der Kommunikation und der Sitten, weißt du. Ich finde so viel Gutes an diesen Geräten und am Internet, wir haben einen Zugang zum Wissen der Welt, den wir früher nicht kannten. Und ich kann so unkompliziert den Kontakt halten zu meinen Kindern, die weit entfernt leben.«

»Und trotzdem?«, sagt mein Freund.

»Und trotzdem ging von diesem Bild des Mannes und seiner Familie etwas ungeheuer Deprimierendes aus.«

»Vielleicht wartete er auf wichtige Mails und Anrufe aus Übersee?«, sagt mein Freund. »Vielleicht wollte er nicht im Büro hocken, sondern mit seiner Familie zusammensitzen, und nun ermöglichten ihm Handy und Tablet, dass er im Lokal bei ihnen sein konnte.«

»Andererseits war er eben doch nicht bei ihnen«, sage ich.

»Sieht man auch ohne elektronische Geräte immer wieder«, sagt er. »Ehepaare, die stumm voreinander sitzen und mit ihren Gedanken irgendwo sind, nur nicht an dem Tisch, an dem sie sich befinden. Ein Smartphone würde denen vielleicht sogar helfen. Dann würden sie im Internet möglicherweise etwas entdecken, über das sie reden könnten.«

»Vielleicht«, sage ich. »Andererseits sind da immerzu Mütter, die mit ihren Babys spazieren gehen und dabei in ihre Smartphones starren, während die Kinder die Blicke der Mütter suchen. Ich glaube, man muss kein Technikfeind sein, um daran etwas seltsam zu finden. Man sieht so viele junge Leute, die nicht miteinander reden, sondern auf Bildschirme blicken. Man erwischt sich selbst dabei, dass man abends am Familientisch nach seinem Telefon greift und … Nur mal kurz nach einem Fußballergebnis schauen. Und schon ist man weg und woanders und allein.«

»Eben nicht allein, man kommuniziert nur mit jemand, der nicht da ist.«

»Mag sein«, sage ich. »Aber oft sind die Menschen nur zur Hälfte dort, wo sie gerade sind, und zur anderen Hälfte in ganz anderen Sphären. Das Seltsame an den sozialen Medien ist, dass sie nur zu einem Teil sozial sind. Zum anderen Teil sind sie zutiefst asozial. Sie vereinzeln uns und machen uns gemeinsam einsam. Und wenn es hier was zu verstehen gibt, dann Folgendes: Das alles ist sehr widersprüchlich und kompliziert, und eine der wichtigsten Fähigkeiten, die Menschen in unserer Zeit benötigen, scheint zu sein, das Widersprüchliche und Komplizierte zu akzeptieren und auszuhalten.«

»Ja«, sagt mein Freund und sieht mir lächelnd zu, wie ich verstohlen nach meinem gerade aufblinkenden Handy sehe und es dann in die Tasche stecke.

Ich hatte, als ich ein kleiner Junge war, einen Onkel, der arbeitete in einer Fabrik. Oft, wenn wir ihn besuchten oder er uns besuchte, hörte ich ihn schimpfen auf die Oberen in seiner Firma. Er war gelernter Werkzeugmacher und arbeitete in einer Firma für Rechenmaschinen, die schon damals ununterbrochen in Schwierigkeiten war – weshalb genau, das wusste ich als Kind natürlich nicht. Nur schimpfte der Onkel immerzu auf sie, wie er sagte. Sie, das waren die Chefs, die Leute oben, die das Leben der Leute unten bestimmten, Tag für Tag hineinfunkten und Dinge beschlossen, die meinem Onkel nicht gefielen.

Der Onkel war in der Gewerkschaft, was ihm nicht wenig bedeutete. Sonntags, wenn sich die Familie traf, trug er, wie die anderen Onkels auch, einen Anzug mit Weste, und am Anzug die Nadel der IG Metall. Er trug sie stolz, denn er war sehr selbstbewusst, wenn es um das ging, was er jeden Tag tat. Und in der Gewerkschaft zu sein, das hieß: nicht machtlos zu sein. Die Gewerkschaften redeten mit, sie organisierten Streiks, sie waren die Basis der SPD, die in jenen Jahren regierte. Wer also in der Gewerkschaft war, der war zwar ein kleiner Mann, aber nicht ohne jede Macht. Er war nicht allein, er gehörte zu einer großen Organisation, die ihm einen gewissen Stolz gab und den kleinen Männern Respekt in der Welt verschaffte.

Mein Onkel ist tot. Die Firma, in der er arbeitete, gibt es nicht mehr, denn es gibt natürlich auch keine Rechenmaschinen mehr, wie ja auch nicht mehr viele Schreibmaschinen hergestellt werden.

Als ich in den Siebzigerjahren anfing, den Beruf des Journalisten zu lernen, war meine erste Anschaffung eine mechanische Schreibmaschine. In der Redaktion später in den Achtzigern standen dann schon elektrische Geräte. Es gab Berufe wie den des Schriftsetzers, Männer fast immer, die unsere Artikel an riesigen Maschinen in Blei gossen, es gab Menschen (ich habe vergessen, wie ihr Beruf hieß), die aus den Fotos, die in der Redaktion eintrafen, metallene Platten herstellten, die dann zu Druckvorlagen weiterverarbeitet werden konnten, es gab Metteure, die aus Bleizeilen und Fotoplatten große schwere Metallseiten bauten, es gab Stenografen, die am Telefon die Diktate unserer Artikel entgegennahmen, wenn wir unterwegs waren, es gab Frauen an Fernschreibern, die andere Artikel verschickten. Viele dieser Berufe waren sehr sehr alt. Viele SPD-Politiker waren (und sind) gelernte Schriftsetzer, Paul Löbe und Philipp Scheidemann vor dem Krieg, Björn Engholm und Rudolf Dreßler danach.

Praktisch alle diese Berufe gibt es nicht mehr. Die Digitalisierung hat sie überflüssig gemacht, an ihre Stelle sind Computer getreten. Wir haben eine der großen technischen Revolutionen in der Menschheitsgeschichte erlebt, und diese Revolution hat unser Leben umgewälzt und tut es noch. Ihr Tempo nimmt in noch vor nicht langer Zeit einfach nicht vorstellbarer Weise zu. Wer zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts Schriftsetzer wurde, der konnte zu Recht davon ausgehen, dass es diesen Beruf sein ganzes Leben lang geben würde. Von welchem Beruf könnte man das heute überhaupt noch sagen?

Wir leben in einer Zeit der permanenten Ungewissheit, und das in jeder Beziehung. Jeder muss heute damit rechnen, seinen Beruf im Leben mehrmals wechseln, verändern, anpassen zu müssen. Zu arbeiten bedeutet heute eigentlich überhaupt, permanent zu lernen. Das Leben jedes Einzelnen ist von Grund auf verändert worden, wir wissen heute nicht einmal, ob wir in zehn Jahren noch selbst Auto fahren werden und wie dieses Auto dann aussehen wird. Ihre Lebenspartner lernen viele von uns heute im Internet kennen. Das Bargeld steht in manchen Ländern kurz vor der Abschaffung. In den Fabriken arbeiten mehr Roboter als Menschen.

Und das ist ja alles noch im Gange.

Was wird, nur mal so als Frage, eines nicht mehr fernen Tages aus den Hunderttausenden von Fernfahrern, wenn die Lkws keine Fahrer mehr benötigen, weil sie alleine fahren, computergesteuert, in Kolonnen von Automatenlastwagen?

Vielleicht ist alles, was wir erlebt haben, immer noch erst ein Beginn? Bisher war die Globalisierung nur eine der Herstellungsprozesse: Waren, die früher bei uns hergestellt wurden, hat man plötzlich in anderen Ländern billiger produziert und zu uns transportiert. Schon bald aber werden, dank neuer Kabel-Techniken, ungeheure, heute noch fast unvorstellbare Datenmengen um die Welt transportiert werden können. Das heißt, plötzlich werden nicht mehr nur Produktionsprozesse von der Globalisierung betroffen sein, sondern auch Dienstleistungsberufe, Anwälte oder Ärzte zum Beispiel.

Was wird dann aus dem Stolz der Menschen auf das, was sie tun? Was aus dem Respekt für das, was sie sind? Was würde mein Onkel heute tun?

Vieles davon geschieht nicht, weil wir es so beschlossen hätten, sondern es passiert wie ein Naturereignis, vorangetrieben allerdings oft von anonymen, gesichtslosen Konzernen wie Amazon, Google, Facebook. Es ist über uns hereingebrochen, es bricht immer noch über uns herein, und es wird noch lange über uns hereinbrechen. Im Grunde schauen wir ohnmächtig zu und versuchen, mitzuhalten, so gut es eben geht.

Man kann das großartig finden, und viele von uns tun das auch. Es gibt solche Unmengen neuer Möglichkeiten. So viele alte Zäune, Mauern, Grenzen fallen weg.

Anscheinend leben wir also gerade in Zeiten, die wie gemacht sind für jene, die Veränderung, Offenheit, Ungewissheit schätzen. Aber es gibt nicht nur diese menschliche Sehnsucht nach Freiheit und Aufbruch, es gibt auch ein sehr grundlegendes Bedürfnis nach Verlässlichkeit, Planbarkeit und nach überschaubaren Lebensverhältnissen, nach Sicherheit. Und es ist wohlfeil zu tun, was viele tun: auf jene herabzublicken, bei denen dieser Wunsch ausgeprägter ist als bei anderen, oder die in einer ganz anderen Weise von diesem reißenden Wandel betroffen sind. Und die, anders als mein Onkel das hatte, nicht mehr unbedingt eine Gewerkschaft an ihrer Seite haben, die ihnen hilft. Sondern die sich plötzlich mit der Frage auseinandersetzen müssen, warum sie einfach nicht mehr benötigt werden, ja, warum es für das, was sie tun oder eben nicht mehr tun können, nicht einmal mehr ein wenig Respekt gibt.

»Warum schreibst du das Buch, an dem du gerade arbeitest?«, fragt mein Freund. »Willst du etwas erklären? Wem willst du etwas erklären?«

»Ich möchte mir selbst etwas erklären«, sage ich.

»Und was?«

»Ich würde gerne verstehen, warum die Art, wie wir miteinander umgehen, uns heute immer wieder so entgleitet, warum wir uns so feindselig gegenüberstehen, warum so vieles, das wir als gesichert ansahen, heute auf einmal so unsicher ist. Übrigens lese ich gerade Eine kurze Geschichte der Menschheit von Yuval Harari, einem Geschichtsprofessor in Jerusalem. Er schreibt, dass wir unsere Natur und Psyche nur verstehen könnten, wenn wir erst mal verstünden, dass unsere Vorfahren über Hunderttausende von Jahren Jäger und Sammler gewesen seien – und dass dies die Zeit sei, die uns bis heute prägt. Die zehn Jahrtausende danach als Bauern und Hirten und die zwei Jahrhunderte als Arbeiter und Angestellte seien nur ein Wimpernschlag verglichen mit dieser langen Ära, die unsere Instinkte bestimmte und in der wir unbewusst bis heute leben.«

 

»Also sind wir immer noch Steinzeitmenschen?«

»Jedenfalls sind unsere Gehirne so programmiert, und unsere Probleme ergeben sich aus der Konfrontation dieser Programmierung mit der Entfremdung in riesigen Städten, mit Flugzeugen, Telefonen, Computern. Ein Wildbeuter vor 30 000 Jahren war genötigt, sich mit den Früchten eines Baums mit reifen Feigen zügig den Magen vollzuschlagen, bis eine Pavianhorde um die Ecke bog und ihn verscheuchte, um selbst zu fressen. Wir fürchten immer noch die Paviane, die gleich da sein könnten, um uns alles wegzunehmen.«

»Fressen Paviane Feigen?«

»Scheint so. Wenn sie welche kriegen.«

»Aber hier geht es doch nicht um Ernährung.«

»Nein. Das war auch nur ein Beispiel für lang anhaltende Prägung. Aber es war eben auch so, dass die sozialen Instinkte der Frühmenschen auf kleine Gruppen ausgelegt waren – und damit auch unsere. Bis heute liegt die magische Obergrenze unserer Organisationsfähigkeit bei 150 Menschen, mit mehr Leuten können wir keine engen Beziehungen pflegen. Ab dieser Zahl brauchen wir Gesetze, Rangabzeichen, Titel.« »Mir scheint«, sagt mein Freund, »dass Menschen immer wieder versuchen, diese kleinen Gruppen herzustellen. Sie finden ihre Identität und Sicherheit auch darin, dass sie andere ausschließen.«

»So ist es wohl. Aber gleichzeitig sind wir eben zu sehr starken sozialen Beziehungen in der Lage, mussten es sein. Wenn ein Mensch zur Welt kommt, ist er hilflos, das gibt es bei kaum einer anderen Tierart in dieser Form – eigentlich eine Frühgeburt, vergleichsweise. Um diese Kinder aufzuziehen, braucht er andere Menschen, das kann er nicht alleine. Eine Mutter mit einem kleinen Kind kann nicht genug Nahrung finden und sich verteidigen. Also hat die Evolution die bevorzugt, die sich besonders gut mit anderen zusammenschließen konnten.«

»Schreibt Harari?«

»Genau. Übrigens steht bei ihm auch, der Durchschnittsmensch dieser Zeit habe oft monatelang keinen Fremden getroffen. Er sah nur Leute, die er kannte, im Laufe seines Lebens ein paar hundert andere. Und jeder Fremde war, potenziell, eine Gefahr.«

»Dann wäre Fremdenfeindlichkeit genetisch bedingt?«

»Bedingt vielleicht, auch erklärlich. Aber heute haben wir ja nun mal auch andere Informationen, die so einen Impuls kontrollieren, genau darum geht es doch hier.«

»Welche Informationen sind das?«

»Was weiß ich, Zeitungen, das Fernsehen, das Internet. Wir haben unseren Verstand. Und wir haben so etwas wie den Anstand.«

Am 13. Februar 2017 war ich in Dresden, 72 Jahre nach dem Beginn der Bombenangriffe, mit denen die Dresdener Innenstadt innerhalb weniger Tage fast komplett zerstört wurde. Auch diesmal gedachten Tausende von Bürgern dessen mit einer Menschenkette. Eine Woche zuvor war unter dem Titel Monument eine Installation des Künstlers Manaf Halbouni, Sohn einer Dresdnerin und eines Syrers, eröffnet worden, die hier für etwa zwei Monate stehen sollte: Auf dem Neumarkt ragten drei ausrangierte Omnibusse hochkant vor der Frauenkirche auf, eine Assoziation zu einem entsprechenden, vorher als Symbol für die humanitäre Katastrophe des syrischen Bürgerkrieges um die ganze Welt gegangenen Bild: In Aleppo waren drei Linienbus-Wracks ebenso aufgebaut gewesen – als Deckung vor Scharfschützen. Halbouni wollte die Installation als Erinnerung an den Frieden verstanden wissen, »in dem wir Dresdner leben«. Aber der Dresdner Oberbürgermeister Hilbert wurde von einer kleinen lautstarken Menge rücksichtslos ausgepfiffen, und so wurde Halbounis Werk auch eine Erinnerung an den Unfrieden, in dem Dresden lebt.

Ein paar Tage danach habe ich eine Stunde damit verbracht, mir die Facebook-Kommentare dazu auf Halbounis Seite anzusehen, darunter diese Äußerungen, die Menschen aller Art dem Künstler und anderen in der Gemeinschaft anwesenden Zeitgenossen an die Köpfe warfen:

– Toll gemacht du nichtsnutz. Du bist ein vollidiot und ein rücksichtsloses stücke scheisse.

– du erbärmlicher Vollidiot

– Terroristenhelfer – Bastard – krankes Hirn – Volksverräter – Kleines Würstchen

– Nur ein Wort habe ich für Sie übrig, ich spucke es aus vor Ihnen: #remigration.

– Mit so was wie dir ärger ich mich Rum scheiß leben dir du Birne

– Scheiß Moslems – Speichellecker – Schandobjekt

– Räume die Scheiße weg Du Möchtegern Künstler. Dresden bleibt sauber.

– Weg mit dem DRECK – Oberpappnase – Bescheuertes Pack – Nur Scheiße im Kopf – Ekelerregend – Erbsenhirn

– Hier ist Deutschland und nicht Idiotenhausen.

– Geht heulen – Geht sterben!

– Rechtsradikale Gesäßvioline – Faschistische Gesäßvioline – Rechter Idiot – Brauner Herrenkasper – Hirnlose Schwachmaten – Vollpfosten

– Linke Arschlöcher – Pädophile – Teddybärwerfer

Frechheit was man sich hier in unserem Land erlaubt. Ohne das Volk zu fragen. Frechheit.

Man könnte lange so weitermachen, aber nach einer Stunde war ich erledigt, es war einfach nicht mehr zu ertragen: Wie sich die Leute hier in kurzen oder auch etwas längeren Mitteilungen anschrien, wie niemand auch nur im Geringsten an der Meinung des anderen interessiert war, wie es hier nicht auch nur das kleinste bisschen Austausch gab.

Nur pure Wut.

Andererseits: Wen überrascht das noch? Wen kümmert es ernsthaft?

Man hat sich längst daran gewöhnt, in Dresden sowieso. Kaum eine Stadt in Deutschland dürfte so gespalten sein in die einen und die anderen und dann noch die Dritten, die einfach sprachlos sind. Und natürlich: ratlos, weil man einfach nicht weiß, was zu tun wäre.

»Es kümmert viele«, sagt mein Freund. »Das ist es doch: Es kümmert viele, es bekümmert viele. Sie wissen nur nicht, was man tun soll.«

»Das stimmt«, sage ich. »Man sieht machtlos und entgeistert und wütend zu. Das stimmt.«

Seit einigen Jahren habe ich eine eigene Facebook-Seite, eine gute Möglichkeit für einen Autor, mit seinen Lesern in Kontakt zu treten. Ich kann auf neue Bücher hinweisen und auf Lesungstermine, auf die aktuellste meiner Kolumnen, kann mich mit Leserpost beschäftigen, alles gut und schön.

Manchmal kommentieren dort Menschen das, was ich geschrieben habe. Einmal zum Beispiel meldete sich ein Herr, der einen Namen trug, der mir bekannt vorkam, allerdings nicht, weil ich jemanden dieses Namens persönlich zu kennen glaubte, sondern aus den Geschichtsbüchern: Er hatte sich nach einem Politiker und Feldherrn aus dem achten Jahrhundert benannt, der durch einen Sieg über die Araber berühmt geworden war und später zum Retter des christlichen Abendlandes stilisiert wurde.

Wir stritten uns ein wenig über eine Kolumne, die ich geschrieben hatte, aber bald hörte ich auf zu antworten, einfach, weil ich keine Lust hatte und habe, mit Leuten zu diskutieren, die sich hinter einem Pseudonym verbergen, warum auch immer. Ich finde, wer andere Leute kritisiert, sie attackiert, wer sich an der politischen Debatte eines Landes beteiligt, der hat bei uns keinen Grund, seinen Namen oder sein Gesicht zu verbergen. (Absurder ist nur noch, wenn Leute im Schutze solcher Anonymität ein Burka-Verbot fordern, aber das nur nebenbei.)

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