Schneeflöckchen, Mordsglöckchen

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ZWEITER PREIS

Reinhard Georg Starzner

Leckermäulchen

Eine Krähe kreist über dem Platz, krächzt rau in den bleigrauen Himmel, äugt nach abfallenden Leckerbissen. Zu früh noch: der Markt öffnet eben erst. Es ist Mittag, und die winterlichen Wolken türmen sich schwer über dem Schloss; in ein paar Stunden schon wird es wieder dunkel sein.

Kapuste wickelt den heiligen Josef aus: echtes Schnitzwerk aus dem Erzgebirge, feines Kunstgewerbe, nicht das billige Zeug aus Fernost. Und während er eine weitere Figur, das Jesuskind dieses Mal, aus der Ummantelung aus altem Zeitungspapier befreit, entfaltet sich Wort für Wort die grausige Nachricht vom Dezember vergangenen Jahres:

KLEINE LEONIE: GESCHÄNDET UND ERWÜRGT!

Nebenan schließt Stechow seine Süßigkeitenbude auf. Kapuste wedelt mit der Zeitung: »Morjn … haben die das Schwein damals eigentlich gefasst?«

»Nix mehr von gehört«, knurrt Stechow und fängt an, die Gläser mit den Bonbons auf dem Verkaufstresen aufzureihen.

»Eigentlich unfassbar … mitten im Park, am Nachmittag. Man denkt, da müssten die Leute doch was mitkriegen.«

Stechow poliert ein Glas mit roten Himbeerdrops. Er blickt mit zusammengekniffenen Augen hinüber zum grau verhangenen Schlossgarten.

»Denkst du? Auf jeden Fall können wir ein bisschen aufpassen. Wär’ schlimm, wenn noch mal was passiert …«

»Ich bin die Königin, und ich wohne im Schloss, und …«

»Tust du nicht!«

»Wohl!«

»Nicht!«

»Wirst ja sehen …«

»Luise, Sophie … warum streitet ihr schon wieder?«

Luise holt tief Luft. »Sophie sagt, sie ist die Königin, und dass sie im Schloss wohnt …«

Alma lächelt nachsichtig. »Sophie, du bist also die Königin? Okay. – Luise? Erinnerst du dich, wie du letzte Woche Räuberhauptfrau warst? Siehst du, deshalb darf Sophie heute auch Königin sein …«

Alma arbeitet gerne bei den Leckermäulern. Die Kinder kommen aus gut situierten Familien. Luise, Sophie, Ruben und Co.: allesamt pflegeleichter als Melanie, Vanessa, Mohammed und die anderen in der Moabiter Kita, wo Alma ihre Anstellung sehr bald gekündigt hatte.

Heute allerdings sind die Leckermäuler völlig überdreht – und Alma hat Kopfschmerzen. Wie so oft fühlt sie alle Verantwortung auf sich lasten. Karin hat ihre Tage, die ist gerade zu gar nichts zu gebrauchen, und Jens, der Zivi – gut, er bemüht sich, aber er ist oft unaufmerksam. Letzten Freitag zum Beispiel, auf dem Weg zum Spielplatz, da hat er übersehen, dass Linus und Ruben nicht zur Gruppe aufgeschlossen hatten …

Johanna zupft sie am Ärmel. »Alma, treffen wir den Weihnachtsmann?«

»Mal sehen, ich denke schon … Dreierreihe und Fertigmachen zum Abmarsch! Bruno, du hast ja noch immer nicht deine Jacke an? Karin, würdest du mal …«

»Der Weihnachtsmann kommt zu mir in mein Schloss!« kräht Sophie.

Luise tippt sich mit dem Zeigefinger an die Stirn, und Jens kann gerade noch verhindern, dass Sophie ihren rosa Lillifee-Rucksack nach Luise schleudert.

Alma zählt die Gruppe durch, tastet nach den Aspirintabletten in ihrer Manteltasche.

Kapuste und Stechow beobachten, wie sich der Schlossvorplatz allmählich mit Besuchern füllt. Die ersten Rostbratwürste werden gewendet, ein Sack Maronen wird auf auf einem heißen Ofenblech ausgeschüttet, der Weihnachtsmann zupft prüfend an seinem weißen Polyesterbart.

Kapuste streckt den Kopf zwischen seinen Krippenfiguren hervor. »Wie viele von denen sind dieses Jahr eigentlich unterwegs?«

»Voriges Jahr waren es zwei, glaub ich. Wechselschicht«, sagt Stechow.

Kapuste wirft dem rot kostümierten jungen Mann einem kritischen Blick zu. »Den da hab’ ich hier noch nie gesehen!«

Stechow hört nicht mehr hin, er hat einen Kunden zu bedienen – eine kleine Hand mit einem Fünfzig-Cent-Stück streckt sich über den Tresen nach oben. »Einmal von den blauen …«

Stechow beugt sich zu dem Knirps nach vorne. »Gibt’s nur tütenweise, junger Mann«, sagt er.

»Für einen halben Euro, bitte … «

Stechow bemüht sich freundlich zu bleiben. »Ab hundert Gramm zu dreifuffzig.«

»Und die gelben mit den blauen Streifen?«

»Auch dreifuffzig. Genau wie die Himbeer, die Pfefferminz, die Anis … Weißt du, was? Frag deine Mutti, und dann komm wieder!« Es ist immer das gleiche. Und wenn man nicht aufpasst wie ein Luchs, machen manche sogar lange Finger …

Die weiteren Verkaufsverhandlungen gehen in Geschrei unter, eine Kitagruppe hat die Budenstraße gestürmt. Stechow reibt sich die klammen Hände: Natürlich, als erstes entdecken die Kleinen den Weihnachtsmann, aber später werden ihnen die bunten Bonbons ins Auge stechen. Potentielle Kundschaft.

»Ich will zur Engelsmühle!«

»Wo sind die Rentiere?«

»Trinkst du auch Kinderpunsch, Alma?«

Almas Kopf dröhnt. Angesichts der Überflutung buntweihnachtlicher Reize brüllen die Kids aufgeregt durcheinander, sind kaum unter Kontrolle zu halten. Und jetzt fängt auch noch die Blechbläsergruppe mit ihrem scheppernden Platzkonzert an. Ihr Kiiinderlein, kooommet …

Alma wirft einen Blick auf die Uhr des blau illuminierten Schlossturms: kurz nach halb vier. In einer halben Stunde ist der Spuk vorbei. Herr Hardenberg, der Vater von Sophie, will seine Tochter um vier abholen; freundlicherweise hat er angeboten, auch einige andere aus der Gruppe nach Hause zu fahren. Vielleicht können Karin und Jens die übrigen Kinder alleine zurückbringen, und Alma kann früher Schluss machen. Die Kopfschmerzen sind kaum auszuhalten, hoffentlich ist da keine Grippe im Anzug …

Beim Elterncafé haben sich mehrere Mütter gegen den Besuch des Weihnachtsmarkts ausgesprochen, sich aber nicht durchsetzen können – zu Almas Bedauern. Übereinstimmung hat allerdings darüber geherrscht, dass der Ausflug vor Einbruch der Dunkelheit beendet sein müsse. Natürlich ist es von niemand ausgesprochen worden, doch Alma ist sicher, alle haben an den entsetzlichen Vorfall vom letzten Jahr gedacht. Wie war der Name der armen Kleinen? Leonie?

Almas wachsamer Blick schweift über die Gruppe: Johanna, Linus, Sophie, Bruno …

»Der Weihnachtsmann!«, schreit Luise, und schon hängt sie am Rockzipfel des Rotgewandeten.

Jetzt gibt es auch für den Rest der Gruppe kein Halten mehr.

»Weihnachtsmann! Weihnachtsmann! Kommst du mit mir auf mein Schloss?« – Sophie natürlich.

Der junge Mann verteilt Süßigkeiten aus einem Jutesack. Er streicht Luise über die dunklen Locken. Karin und Jens lächeln, doch Almas Argusaugen beobachten die Situation kritisch. Muss der Weihnachtsmann die Kinder unbedingt anfassen? Sie klatscht in die Hände und ruft: »Wer hat Lust auf Bio-Bratwurst?«

»Ist das ein Rentier?«

»Das ist ein Esel. Der gehört neben den Ochsen in den Stall«, erklärt Kapuste geduldig und stellt die Schnitzfigur vorsichtig zurück an ihren Platz.

»Ich weiß«, erwidert Luise selbstbewusst. »Zusammen mit den heiligen drei Königen.«

»Na ja, die kommen erst etwas später dazu …«

Stechow lauscht gerührt der Unterhaltung zwischen seinem Budennachbarn und der Kleinen mit den schwarzen Locken. In dem Alter sind sie noch für die Weihnachtsgeschichte zu begeistern, später zählen nur noch die Geschenke. Er greift in das Glas mit Honigdrops und reicht dem Mädchen lächelnd eine Handvoll hinüber – von denen hat er etliche Kilo, außerdem gehen die dieses Jahr sowieso nicht so gut. »Du bist doch nicht etwa ganz alleine hier, oder?«

»Alle Leckermäuler sind hier«, antwortet Luise und stopft sich mehrere Bonbons auf einmal in den Mund. »Außer Ruben – der hat die Krippe!«

»Du meinst die Grippe!« berichtigt Stechow.

»Und wo sind die anderen Leckermäuler?«, fragt Kapuste. »Sicher vermissen sie dich schon … «

»Die essen Wurst. Ich nicht. Ich bin Vegetarierin!«

In diesem Augenblick taucht Jens auf. »Luise, kommst du? Wir warten alle auf dich …«

Linus hustet heftig. Alma klopft ihm auf den Rücken. Linus beginnt zu keuchen, japst nach Luft – und Alma entdeckt den angebissenen Lebkuchen zwischen seinen Fingern. »Linus! Um Himmels willen, woher hast du das? Du weißt doch, dass Nüsse für dich … Karin! Hast du Linus’ Medikamente dabei?«

Karin kramt in ihrem Rucksack nach dem Antihistamin. Zum Glück ist Alma abgelenkt und hat nichts von Luises kurzzeitigem Verschwinden mitbekommen, denkt sie.

Linus’ Anfall ist abgeklungen. Die Kleinen haben ihre Bratwürste verdrückt, und Alma drängt zum Weitergehen. Sie beginnt durchzuzählen: Luise, Johanna, Linus, Bruno … Wo ist Sophie? Zum Kuckuck, da passt man eine Sekunde nicht auf …

»Sophie? Sophiiie!«

Drei Erzieheraugenpaare schweifen suchend über den Platz.

Almas Stimme überschlägt sich: »Wo habt ihr sie zuletzt gesehen?«

»Keine Panik jetzt«, versucht Jens Alma zu beruhigen. »Sie kann nicht weit sein …«

»Ich erinnere mich, dass sie unbedingt noch mal zum Weihnachtsmann wollte«, sagt Karin vorsichtig.

Almas Kopf wirbelt herum. »Zum Weihnachtsmann? Wo ist der verdammte Weihnachtsmann jetzt?«

Der Markt ist inzwischen voll von Menschen, in dem Gedränge keine Spur von Sophie oder dem Weihnachtsmann.

Almas Handy schrillt. »Ja, hallo?«

Hardenberg. Ausgerechnet jetzt. »Alma? Kann es sein, dass Sophie im Park herumläuft … zusammen mit so einem Nikolaus-Typen?«

Scheiße. Wie wird sie das nur erklären? »Jens, kommst du bitte mit mir? Karin, ich verlasse mich darauf, dass du dich mit den Kindern keinen Millimeter von der Stelle bewegst, okay?«

 

Sie schieben sich zwischen den Menschen durch Richtung Schlossgarten, Alma presst das Handy ans Ohr. »Herr Hardenberg, wo haben Sie sie gesehen? Ich meine, wo sind Sophie und der Weihnachtsmann in den Park rein?«

»Bei der Orangerie – ich kann sie jetzt nirgendwo mehr sehen … «

Alma und Jens biegen ab zur Orangerie; sie können Hardenberg jetzt schon am Eingang stehen sehen. Der Schlossgarten liegt ausgestorben in der Dämmerung. Gleich wird es dunkel sein …

Alma denkt: Weiter hinten, am Teich, haben sie das Mädchen letztes Jahr gefunden, am frühen Abend. Sie war noch nicht lange tot. In den Zeitungen stand, dass sie gerade mal eine Stunde vermisst wurde.

»Alma, was ist hier los? Irgendwas stimmt da doch nicht!«, poltert Hardenberg. »Und wo sind die anderen?«

»Wir haben Sophie kurz aus den Augen verloren«, versucht Jens zu erklären.

»Sie haben was? Wollen sie sagen, es war überhaupt nicht abgestimmt, dass Sophie mit diesem Nikolaus …?«

»Herr Hardenberg, bitte, wir …« Alma ist schweißgebadet.

Hardenberg sprintet los, hinein in die Parkanlage – Alma und Jens hinterher. Der hart gefrorene Weg schlängelt sich zwischen abgedeckten Rabatten zum Teich hin.

Nach etwa zweihundert Metern stolpert Hardenberg über einen Gegenstand. Er hebt ihn auf, starrt entsetzt.

Ein rosa Lillifee-Rucksack.

Bitte, lass es nicht zu spät sein, fleht Alma innerlich.

Sie hasten weiter zum Teich. Im Halbdunkel, beim Mausoleum, entdecken sie sie endlich.

Sophie zerrt an der Hand des Weihnachtsmannes, offenbar versucht sie sich loszureißen …

»Sophie!« kreischt Alma.

»Lass sofort das Kind los, du Schwein!« Hardenberg prescht nach vorne.

Der Weihnachtsmann taumelt ein paar Meter zurück – und rennt los.

Alma schließt die verwirrte Sophie in die Arme. »Hat er dir was getan?«

Sophie entwindet sich Almas Umklammerung. »Weihnachtsmann!«, ruft sie, »bleib hier, du hast doch noch gar nicht mein Schloss gesehen!«

Aber der Weihnachtsmann hat Reißaus genommen, zurück zum Markt. Womöglich hofft er, im Getümmel untertauchen zu können, Hardenberg und Jens jedoch sind ihm dicht auf den Fersen.

Am Stand mit den gerösteten Maronen lehnt sich der Weihnachtsmann schwer atmend gegen die Holzbalustrade. Da packen ihn Hardenbergs Hände am roten Kapuzenkragen. Der Weihnachtsmann versucht sich zu befreien, zerrt in die eine Richtung, Hardenberg in die andere. Die Kragennaht reißt, und der Weihnachtsmann stürzt vornüber – mit dem Gesicht auf das Blech mit den brutzelnden Maronen. Der Gestank verschmorten Polyesters und verbrannter Haut mischt sich mit vorweihnachtlichen Düften.

Um den Maronenstand hat sich eine Traube von Schaulustigen gebildet.

Kapuste hat bereits die Sanitäter alarmiert.

Die Maronenverkäuferin streichelt dem am Boden hockenden jungen Mann im Weihnachtsmannkostüm mitfühlend die Hand. Er wimmert vor Schmerzen.

Hardenberg ist kreidebleich. Er telefoniert, eingekeilt zwischen zwei Männern vom Wachschutz, mit seinem Rechtsanwalt.

Jens kaut betreten an den Fingernägeln.

»Sophie, bist du ganz sicher, dass der Weihnachtsmann dich nicht irgendwo angefasst hat, wo du es nicht möchtest?«, fragt Alma zum wiederholten Mal.

Sophie stampft mit dem Fuß auf den Boden auf. »Ich wollte dem Weihnachtsmann mein Königinschloss zeigen, aber er hat gesagt, er muss mich zurückbringen. Und jetzt sind seine Augen ganz verbrannt, und er kann mein Schloss gar nicht mehr sehen!«

Alma zerrt Sophie schnell weg vom Maronenstand, hinüber zur Wurstbude, wo Karin mit den anderen Kindern wartet.

»Warum hat Sophies Papa den Weihnachtsmann gehauen?«, fragt Linus vorwurfsvoll.

Alma stöhnt und reibt sich die Schläfen. Sie befürchtet, sie wird heute noch später als sonst nach Hause kommen.

Ein Weihnachtsbaum nach dem anderen erlischt. Fast alle Verkaufsstände und Zelte sind verrammelt, Kapuste hat seinen Krippenfigurenladen bereits vor einer Stunde dichtgemacht.

An den Mülleimern tobt der allabendliche Krieg zwischen Krähen und den Möwen vom nahen Kanal um übrig gebliebene Leckerbissen.

Stechow schließt seine Bude ab. Ein Wachmann patrouilliert vorbei, Stechow nickt ihm freundlich zu.

Die Temperatur ist unter null gesunken, es wird eine eiskalte Nacht werden.

Trotzdem schwitzt Stechow.

Die hübschen schwarzen Löckchen … er kriegt sie gar nicht mehr aus dem Kopf. Je länger er an die Kleine denkt, desto heißer wird ihm.

Luischen Leckermäulchen … wie werden wir es uns schmecken lassen!

Er schlendert zum Auto – gemächlich – aber sein Herz pocht wild vor Aufregung. Morgen ist seine Frau für das Geschäft zuständig. Er wird genügend Zeit haben, den Kinderladen unter die Lupe zu nehmen. Er muss die Umgebung auskundschaften, passende Gelegenheiten eruieren …

Dieses Jahr hat es nicht wieder im Schlossgarten passieren dürfen, das ist Stechow rechtzeitig klar geworden; der Zwischenfall mit dem Weihnachtsmann hat ihn bestärkt, besonders vorsichtig zu sein. Obwohl er sich heute nur schwer hatte zurückhalten können …

DRITTER PREIS

Sunil Mann

Gänsehaut

Ein Blick genügte, um sie mit einem Schlag zwei Jahre zurückzuversetzen. »Rita«, hatte er damals gesagt, »sieh dir das an.« Und sie hatte es sich angesehen, hatte sekundenschnell die leeren Ränge, die Sessel mit den hochgeklappten Sitzflächen und die grelle Beleuchtung registriert. Und auch die merkwürdige Stille, die im Saal herrschte. Das leise Rauschen, das sie nicht orten konnte. Die abgestandene, schwach nach Parfüm riechende Luft. Die abgedunkelte Bühne. Und dann war ihr Blick an dem Körper hängen geblieben, so wie jetzt, es war ein dunkelhaariger Mann im mittleren Alter, der da saß, er hatte die Augen geschlossen und sah aus, als wäre er während der Oper eingeschlafen. Doch er war tot, eindeutig, sonst wäre sie schließlich nicht hier.

Sie schob die Hände in die Hosentaschen und zog die Schultern hoch, es war ein bitterkalter Samstagmorgen, es schien, als hätte sich die Kälte unter ihrem Mantel eingenistet. Eine gute Stunde hatte der Flug von Zürich nach Berlin gedauert, doch ihr war es vorgekommen, als liege die Stadt am anderen Ende der Welt, als begebe sie sich auf eine Reise in die Vergangenheit, eine Vergangenheit, die sie glaubte, endgültig hinter sich gelassen zu haben. Und trotzdem: Als sie im Fonds des Dienstwagens saß und nach draußen in die Dämmerung blickte, wo der dichte Wald der Jungfernheide vorbeizog, schlug ihr Herz plötzlich schneller.

Der Beamte, der sie abgeholt hatte, hielt vor der Deutschen Oper an. Nur kurz sah sie sich den schachtelartigen, klobigen Bau an, der sie an ein Gymnasium erinnerte, Nachkriegsmoderne, unter Denkmalschutz, trotzdem, sie hatte sich schlau gemacht. Man führte sie hinter die Absperrungen, sie schüttelte Hände und begrüßte die wenigen Bekannten, die sie bei der Berliner Polizei hatte, und dann stand er plötzlich vor ihr, und sie wusste nicht, ob sie ihn nun küssen sollte, oder was sich in dieser Situation schickte. Und er musterte sie einen Moment lang schweigend, bevor er sie unvermittelt an sich drückte, linkisch und doch aufrichtig gemeint, er hatte sich kaum verändert. Sie atmete erleichtert auf und war sogar ein wenig gerührt, doch dann deutete er auf die Leiche und sagte dasselbe wie vor zwei Jahren: »Rita, sieh dir das an.«

»So hat ihn die Putzmannschaft heute früh gefunden«, führte er aus, »Er wurde erdrosselt.«

»Irgendwelche Spuren?«

Stefan schüttelte den Kopf und deutete auf den Mann, der sich gerade an der Leiche zu schaffen machte.

»Bislang nicht, aber du kennst ja Kollege Scholz von der Spurensicherung, Scholz …«

»…arbeitet etwas langsam«, beendete sie den Satz lachend, und er grinste, und für einen Moment war es wieder wie früher. Er hatte ihr von Scholz erzählt, als er frisch nach Berlin gezogen war, ohnehin hatte er ihr viel erzählt damals, in der ersten Zeit, als sie noch häufig telefoniert hatten, in der Hoffnung, dass ihre Beziehung noch zu retten war. Sie sah ihn plötzlich ernst an: »Und du denkst …?«

Er nickte. »Möglich. Der Ort des Verbrechens ist derselbe wie beim ersten Fall in Zürich: Das Opernhaus. Dazu kommt, dass bei beiden Fällen »Carmen« gespielt wurde, beide Vorstellungen waren restlos ausverkauft, beide Male muss der Mord während der Darbietung geschehen sein, beide Opfer wurden stranguliert. Er geht offensichtlich gern Risiken ein. Kein Motiv, keine Spuren, er sucht die Opfer scheinbar willkürlich aus, alles sehr vage, vielleicht zu vage, als dass keine Absicht dahinter steckt.«

Rita trat einen Schritt vor und betrachtete die Leiche genauer, dann nickte sie ernst. »Und vielleicht ist dies auch erst der Anfang einer Serie, wie damals.«

»Ich musste sofort an Dich denken, als ich den Anruf erhielt.« Stefan zögerte, und als Rita den Kopf hob, sah sie, dass er errötete. »Ich meine …«

»Ist schon okay«, sagte sie und berührte kurz seinen Arm. »Gehen wir wie beim letzten Mal vor?«, fragte er, doch sie schüttelte energisch den Kopf: »Beim letzten Mal wurde er nicht verurteilt aus Mangel an Beweisen. Noch einmal mache ich mich nicht zum Narren!«

Stefan sah sie beschwichtigend an: »Noch wissen wir ja nicht, ob er’s überhaupt war.«

Sie wischte seinen Einwand mit einer ungeduldigen Handbewegung weg. »Ist bekannt, wo er sich zur Zeit aufhält?«

»Das wird gerade abgeklärt. Nach dem Freispruch hat er jedenfalls Zürich verlassen.«

»Und nicht nur er«, sagte sie und sah ihn dabei herausfordernd an. Er blickte betreten zu Boden, wippte einen Moment lang unschlüssig auf den Zehenspitzen, dann wandte er sich wortlos ab und stapfte davon.

»Rita?« Sie drehte sich um und blickte in ein vertrautes Gesicht.

»Schön Sie zu sehen, Scholz. Irgendwelche Spuren?«

»Wir haben alles abgesucht, keine Fingerabdrücke, keine Haare, keine anderen Indizien, kurz gesagt: Nichts. Wir müssen noch die Resultate aus dem Labor abwarten, aber …«

Er schüttelte den Kopf. »Was allerdings wirklich merkwürdig ist: Wir haben einen Spiegel gefunden, unter dem Sitz, gleich bei der Leiche.«

Rita sog scharf die Luft ein. Ihr Körper spannte sich augenblicklich an. »Einen Spiegel?«

»Ja, einer dieser kleinen, aufklappbaren Handspiegel, wie ihn Frauen meist in ihrer Handtasche haben.« Sie zögerte kurz. »Sie erinnern sich an die Mordserie, die wir vor zwei Jahren in Zürich hatten?«

Scholz nickte. »Stefan, äh, ich meine Herr Gschwender, hat mir davon erzählt. Der Täter wurde nicht verurteilt.«

Rita machte eine unwillige Kopfbewegung. »Das erste Opfer wurde wie hier in der Oper entdeckt, erdrosselt während einer ausverkauften Vorstellung von »Carmen«, das zweite an einem belebten Weihnachtsmarkt im Zürcher Niederdorf

erstochen, und die dritte Leiche fand man auf der Gemüsebrücke während des alljährlichen Silvesterfeuerwerks mit eingeschlagenem Schädel. Immer genau dasselbe, keine Spuren, kein Motiv, keine Verbindung zwischen den Opfern, nichts, außer der Tatsache, dass jeweils ein Spiegel in der Nähe des Tatorts gefunden wurde. Eine Art bizarres Markenzeichen des Mörders. Wir haben das damals nicht veröffentlicht, um mögliche Nachahmungstaten zu vermeiden.«

»Demnach könnte man annehmen, dass es sich um denselben Mörder handelt«, schlussfolgerte Scholz. »Ich bin mir da sogar ganz sicher.«

Sie spürte, wie ihr Puls sich beschleunigte, und wusste sogleich, dass dies der entscheidende Moment war, der Moment, wo alles begann, die Suche und die Denkarbeit, aber diesmal würde sie sich keine Fehler erlauben, diesmal würde er ihr nicht entkommen.

»Ich brauche einen Moment für mich allein«, flüsterte sie Stefan ins Ohr, als sie sich an ihm vorbeidrängte, und ohne eine Antwort abzuwarten, schlüpfte sie unter der Absperrung hindurch und eilte die Treppe hinunter ins Foyer. Sie hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, irgendwo einen Latte Macchiato zu trinken und ihre Gedanken zu ordnen. Und auch ihre Gefühle.

Der Himmel war grau und griesig, vereinzelt wirbelten Schneeflocken durch die Luft, es war immer noch empfindlich kühl. Neben ihr brauste unablässig der Verkehr über die Richard-Wagner-Straße, während sie mit schnellen Schritten vorwärts strebte. Die Kälte tat ihr gut. Das Wiedersehen mit Stefan hatte sie mehr verwirrt, als sie sich eingestehen mochte. Sie fragte sich, ob es überhaupt klug war, mit ihm zusammenzuarbeiten, ob sie nicht zu sehr damit beschäftigt sein würde, ihre Gefühle zu analysieren und dadurch den Fall vernachlässigte, Wichtiges übersah oder falsche Schlussfolgerungen zuließ. Der Mörder musste gefasst werden, diesmal unbedingt, sie würde sich keine Fehler mehr erlauben. Sie würde sich im Griff haben. In der Manteltasche ballte sich ihre Hand zur Faust.

 

Sie ging ein Stück an der Spree entlang. Das Wasser war beinahe schwarz, vereinzelt schwammen schmutziggraue Schaumkrönchen auf den kraftlosen Wellen. Gedankenverloren sah sie einem Entenpaar zu, das sich lautstark stritt, ging weiter und als sie aufblickte, stand sie plötzlich vor dem Schloss. Sie überquerte die Straße und ging an dem länglichen, majestätischen Seitentrakt vorbei, unter riesigen Bäumen mit kahlen Ästen und Zweigen, düsteren Skeletten, die sehnsüchtig darauf warteten, im Frühjahr zu neuem Leben zu erwachen.

Vor dem Haupteingang des Schlosses blieb Rita stehen. Zwei riesige, weithin sichtbare Lichtertrauben grenzten den Platz von beiden Seiten ein. In der Weihnachtszeit war hier Markt, es war mittlerweile beinahe Mittag und der Platz bevölkerte sich allmählich. Die Marktstände, rudimentär zusammengebaute, vorne offene Holzhütten, die Dachgiebel mit Lichtgirlanden und Tannenzweigen geschmückt, reihten sich dicht an dicht, dazwischen flanierten die Besucher auf breiten Gehwegen. Rita entdeckte ein wunderbar altmodisches Karussell, und Stände mit weißen, spitzen Dächern, die sie an Beduinenzelte erinnerten.

Sie beschloss, den Kaffee auf später zu verschieben und erst mal eine Weile herumzuschlendern und die Auslagen zu begutachten, das würde ihr beim Nachdenken helfen. Nach wenigen Schritten hielt sie inne. Sie hob den Kopf und blickte sich um. Um sie herum Frauen in dicken Mänteln und Männer in Parkas, mit Handschuhen und Mützen gegen die Kälte bewehrt, rote Backen, schreiende, weinende, lachende Kinder, dichte Dampfwolken stiegen aus ihren Mündern und Nasen, Menschenmassen und Stimmengewirr. Es duftete nach Lebkuchen und Glühwein, von irgendwoher erklang ein Kinderchor, oder war es die Heilsarmee? Alles war, wie es sein sollte, und doch stimmte etwas nicht. Einen Moment schloss Rita die Augen und konzentrierte sich auf das regelmäßige Pochen ihres Herzens. Dann wusste sie es: Sie wurde beobachtet.

Sie schlug die Augen auf, und da war er, direkt vor ihr. Sie konnte sein Gesicht gerade noch erkennen, bevor er in der Menschenmenge abtauchte, doch es genügte, um ihr Herz einen Schlag aussetzen zu lassen. Sie rannte los, zwängte sich zwischen den Marktbesuchern hindurch, an den Ständen vorbei, rannte ihm hinterher. Ihr Puls raste. Sie sah seinen Rücken dicht vor sich, nur ein paar Schritte noch, doch dann bog er unerwartet ab und war im nächsten Moment verschwunden. Sie blieb stehen, atemlos die Hände in die Seiten gestützt, und spähte nach allen Seiten, Sie war sich sicher, er war es. Dieses Gesicht würde sie nie vergessen, das ihr noch immer keine Ruhe ließ, dieses Gesicht, das sie so unverschämt angegrinst hatte, damals, vor zwei Jahren in Zürich, als der Richter den Freispruch verkündet hatte, und sie in ihrem Stuhl zusammengesunken war mit einem Gefühl der Ohnmacht und dem Wissen, kläglich versagt zu haben.

Sie eilte über den Platz. Sie fühlte sich nicht nur beobachtet sondern verfolgt. Doch wenn sie sich umdrehte, konnte sie ihn nicht entdecken, er hielt sich verborgen, vor ihren Blicken geschützt durch die Menschenmenge. Einen Moment lang dachte sie daran, zur Oper zurückzugehen, zu Stefan, doch ihre Neugier war stärker als alle Furcht. Was hatte er vor? Ihre Dienstwaffe hatte sie in ihrer Tasche im Wagen vergessen.

Sie hastete an einem Stand vorbei, der Kerzen in grellbunten Farben anbot, weiter vorne verkaufte eine rotwangige Oma selbstgestrickte Wollpullover. Daneben entdeckte Rita eine Holzhütte mit quadratischen Fenstern und rot-weißen Vorhängen und einer Tafel davor, auf der Dampfnudeln angepriesen wurden. Kurzentschlossen trat sie ein. Süßlicher Hefegeruch schlug ihr entgegen. Der Raum war karg eingerichtet, alles schien aus grob verarbeitetem Holz zu sein, die Wände, das Gesicht der missmutig dreinblickenden Bardame, der lange Tresen mit den Barhockern, die Bartische. Drei junge Frauen hoben die Köpfe, als Rita eintrat, eine von ihnen war unübersehbar schwanger und hielt die Hände vor ihrem gewölbten Bauch gefaltet, die beiden andern hielten stolz ein Kleinkind auf dem Schoß. Rita blieb einen Moment lang stehen, um zu verschnaufen, während die Frauen sie musterten, sie schnell als Nicht-Mutter entlarvten und sich beinahe verächtlich wieder ihrem Gespräch zuwandten. Rita kannte diese Blicke, sie war sechsunddreißig und hatte weder einen Mann noch Kinder, und im Beruf war sie zur Zeit höchstens mittelmäßig erfolgreich. Kein Vergleich zu diesen Frauen, die ihre zweifelsohne beispiellosen Karrieren als Webdesignerinnen oder Journalistinnen unter Zuhilfenahme eines nach härtesten Kriterien ausgewählten Samenspenders krönten, indem sie sich reproduzierten. Natürlich nicht, ohne dabei ihre Traumfiguren zu behalten und nebenbei an wahnsinnig interessanten Projekten zu arbeiten. So bissig diese Gedanken auch in Ritas Kopf schossen, sie halfen nichts gegen den schmerzhaften Stich, den sie tief innen verspürte.

Sie setzte sich an den Tresen, und im selben Moment wurde die Tür zum Lokal geöffnet, sie spürte den Luftzug, hörte das matte Klicken des Schlosses. Sie wandte sich nicht um, doch ihr Atem ging plötzlich schneller, und eine Sekunde später stand er neben ihr. Schweigend sahen sie sich an, und nach einer Ewigkeit, wie ihr schien, verzog sich sein Mund zu einem spöttischen Lächeln, sie starrte wie gebannt auf seine vollen Lippen, die weiche Haut. Es war das Gesicht aus ihren Träumen. Schön wie ein ungezähmtes Raubtier, fiel ihr ein, schön und gefährlich. Sie wollte etwas sagen, etwas Sarkastisches, etwas, das ihn verletzt hätte, sie wollte ihn erniedrigen, lächerlich machen.

»Warum tun Sie das?«, fragte sie stattdessen betont kühl, ihre Stimme zitterte. Er grinste süffisant. »Ich hatte gerade zufällig Lust auf Dampfnudeln. Und hier servieren sie bekanntlich die besten. Trotz der etwas spröden Bedienung. Leisten Sie mir Gesellschaft.« Das war eindeutig nicht als Frage gemeint.

Sie zögerte. »Für mich nur einen Kaffee.«

Er bestellte, dann setzte er sich neben sie. »Bleiben wir hier am Tresen?«

Sie nickte. Schweigend wie alte Freunde, die sich jahrelang nicht gesehen hatten und nun nach der überschwänglichen und lauten Begrüßung um das erste vernünftige Wort rangen, sahen sie sich an.

»Warum bringen Sie unschuldige Männer um?«, brach es schließlich aus Rita heraus.

Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht aus Langeweile?«

»Andere Leute gehen dann ins Theater oder betrinken sich.«

Sein Lächeln verbreiterte sich. »Spieltrieb?«

»Dafür gibt es Kasinos.«

Er seufzte.

»Und was sollen die Spiegel?«

Er sah sie mit gespieltem Erstaunen an. »Ich dachte, Sie hätten es längst herausgefunden. Sie enttäuschen mich.«

»Ein Zeichen ihrer Eitelkeit?«

»Und jetzt beleidigen Sie mich.«

Rita fuhr sich nervös durch die Haare. »Okay, lassen Sie es mich versuchen: Sie suchen ihr Ebenbild. Den Menschen, der versteht, was Sie mit ihrem Tun bezwecken. Ihren Seelenverwandten. Deswegen der Spiegel. Es ist keine Eitelkeit sondern pure Verzweiflung.«

Er warf ihr einen aufrichtig bewundernden Blick zu. »Ich will wissen, wo meine Grenzen sind, ob jemand es mit mir aufnehmen kann.« Er hielt inne. »Oder ob ich tatsächlich allein bin«, fügte er dann leise hinzu. Zweiundvierzig war er, das wusste sie aus der Akte, seine Haare waren millimeterkurz geschnitten, er trug ein weißes Hemd und über seinen Schultern hing ein schwarzer Ledermantel, die Hände steckten in schwarzen Lederhandschuhen, die er nicht auszog. Keine Fusseln, keine Fingerabdrücke. Nichts. Außer den verdammten Spiegeln.

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