Liebe schmeckt wie Schokolade

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Viele Menschen, die Chester nicht kannten, hätten sich an seiner Art gestoßen. Es als despektierlich angesehen. Doch Leo kannte ihn besser. Chester war in einer christlichen Familie aufgewachsen, in der noch so etwas wie alte Werte vermittelt worden waren. Homosexualität war als etwas Schlechtes und Verwerfliches anzusehen.

Leo wusste noch genau, wie Chester herausgefunden hatte, dass sein Kumpel schwul war. Sie waren beide 19 gewesen. Für Chester ein Schock, der in drei Monaten absoluter Funkstille gegipfelt war. Leo hatte damit gerechnet, seinen Freund nie wieder zu Gesicht zu bekommen. Bis er auf der der Türschwelle gestanden hatte, ein Sixpack Bier in der Hand, eine Tüte mit DVD in der anderen. In Leos Zimmer hatten sie gesessen, das Bier getrunken, die Filme geschaut und nur sehr wenig gesprochen.

»Du bist mein Freund, Alter«, hatte Chester dann irgendwann zwischen Iron Man 1 und Iron Man 2 gesagt. »Und wenn du lieber Bananen magst anstatt Pflaumen, dann ist das so. Dieser ganze Höllen- und Fegefeuer-Mist ist doch sowieso überholt. Aber damit eins klar ist! Ich will keine von deinen Bettgeschichten hören, okay? Find ich nicht geil, muss ich nicht haben. Danke. Und jetzt gib mir noch ein Bier.«

Und mit diesem verqueren Geständnis war das Thema abgehakt gewesen. Über die Jahre war diese Grenze aufgeweicht, Chester hatte sehr wohl ein Ohr für seinen Freund. Auch wenn Details nach wie vor lieber unerwähnt blieben. Doch Leo wusste, was er an diesem ungewöhnlichen Mann hatte. Der für ihre Freundschaft über seinen eigenen Schatten sprang und etwas akzeptierte, das er weder verstand noch guthieß.

»Hast du ihn noch mal gesprochen?«, fragte Chester jetzt und riss Leo damit aus seinen Gedanken, während sie das zweite Lattenrost an Ort und Stelle hievten und dann die Matratzen darauflegten. So langsam nahm das Boxspringbett Formen an.

»Nein. Und das soll auch so bleiben.«

Chester nickte. »Wusste er eigentlich hiervon?« Er deutete zur Decke und meinte damit das Haus. Oder eher das, was damit verbunden war.

»Er wusste von Tante Fannys Tod. Aber nicht, dass sie mir das Geld vererbt hat. Und schon gar nicht, wie viel es war.«

»Wäre ja auch noch schöner, dann hätte er vermutlich alles daran gesetzt, dich zu halten, dieser berechnende Drecksack. Ich sag dir das jetzt als guter Freund, wenn du den je wieder zurück nimmst, breche ich dir beide Arme.«

Leo lachte auf. »Nun, als Freund sage ich dann wohl danke. Keine Angst. Es ist zwar eine Umstellung, aber ich bin kein Idiot. Auch wenn er mir fehlt. Das ist etwas, das ich nicht verzeihen kann.«

»Na, ein Glück.« Chester richtete sich auf und streckte sich. »Können wir jetzt runter in den Flur gehen und dort streichen? Ich sehe dieses Grün als eine persönliche Beleidigung an. Mir wäre um ein Haar mein Mittagessen wieder hochgekommen bei dem Anblick.«

»Das kann ich natürlich nicht verantworten.« Einladend deutete Leo auf die Tür.

»Nah, ist schon gut. Als Schmerzensgeld kannst du mir was von eurem Karamellbruch einpacken. Dann passt das schon.«

Leo grinste. »Das lässt sich sicherlich einrichten.«

Kapitel 5

»Es ist so schön, dass ihr mal wieder vorbeigekommen seid.« Die Augen seiner Mutter glänzten vor Freude, ihr Lächeln zog den Gürtel um Calvins Herz noch enger zusammen. Lange blieb ihr Blick auf Cal liegen und wie so oft fragte er sich, ob sie etwas ahnte. Ob sie hinter die Maskerade blicken konnte. Doch schließlich richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf Paul und es tat weh zu sehen, wie liebevoll sie ihn ansah. Sie liebte diesen Mann wie einen Sohn, wie ihn, Calvin, selbst. Immer, wenn ihm das bewusst wurde, war er froh, dass sein Spiel so gut funktionierte.

»Ja, es ist ja auch wirklich schon wieder ewig her«, antwortete Paul freundlich.

»Na ja«, lachte Calvins Mutter, »Weihnachten ist noch gar nicht so lange her. Aber wie dem auch sei, ich freue mich über jeden Besuch von euch. Möchtet ihr etwas trinken? Wie wäre es mit einer Weißweinschorle?«

»Nein, danke, mir reicht Wasser«, antwortete Calvin.

»Ach, ein Gläschen kann ja nicht schaden«, sagte Paul zeitgleich. Calvin bemühte sich um ein einlenkendes Lächeln und darum, nicht zu seinem Freund zu sehen.

»Na gut, dann ein Gläschen«, gab Cal nach.

Sie schwiegen, während seine Mutter den Weißwein, das Mineralwasser und Gläser holte.

»Wie geht es dir, Mum?«, fragte Calvin schließlich, was seine Mutter zum Lachen brachte.

»Du schaust mich immer so besorgt an, dabei geht es mir wirklich gut. Ich soll euch übrigens lieb von Gerda grüßen.« Eine hellbraune Haarsträhne löste sich aus der Spange, die sie auf dem Hinterkopf trug und Calvins Mum schob sie sich hinter das Ohr, während ihr Sohn aufhorchte.

»Oh, wie geht es Tante Gerda?«

»Gut. Wir waren vor Kurzem zusammen in diesem neuen Shoppingcenter, was sie immer in der Radiowerbung anpreisen. Ich muss schon sagen, es ist wirklich enorm groß, aber auch geräumig und es gibt Läden dort, die gibt es nicht überall. Vielleicht hat sich der Bürgermeister glatt mal zu etwas Gutem überreden lassen. Jedenfalls habe ich mir einen neuen Wintermantel gekauft. Die machen jetzt schon Ausverkauf. Und deine Tante hat sich ein Paar Schuhe geholt.« Sie rümpfte die Nase. »Ich sage euch, das waren vielleicht Teile! Ich könnte auf solchen Dingern nie laufen! So hoch!« Sie zeigte mit den Händen die Absatzhöhe an - und übertrieb dabei ein wenig, da war sich Calvin sicher. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Paul einen großen Schluck von der Schorle nahm und anschließend lachte.

»Das klingt ja halsbrecherisch. Ich hätte allerdings gedacht, dass Gerda schon genug Schuhe hat.«

Calvins Mum schnalzte mit der Zunge. »Für diese Frau gibt es kein genug.« Wieder lachte Paul. Calvin nippte an seinem Glas und stellte es dann auf dem Stubentisch ab. »Jedenfalls hat sie gerade ein paar Probleme mit Pino. Der kleine Kläffer stellt ihr die Bude auf den Kopf, wenn sie nicht da ist. Ich muss sagen, ich fand die Geschichten sehr amüsant. Sie hat schon einen Sessel und eine Pfanne eingebüßt.«

»Eine Pfanne?«, fragte Calvin ungläubig. »Wie hat er die denn kaputt bekommen?« Er griff nach einem Sofakissen und zog es sich auf den Schoß, lehnte sich zurück.

»Das ist eine komische Geschichte. Gerda hatte Bouletten gebraten und ...«

»Ich ahne, wohin das führt«, wurde sie von Paul unterbrochen.

Calvins Mutter lachte und nickte, fuhr dann in ihrer Erzählung fort. »Sie hat die Bouletten zwar aus der Pfanne gerettet, aber die Reste ihres ach so kostbaren Bratöls mussten erst abkühlen und die Zeit hat Pino genutzt. Er ist auf einen Stuhl gesprungen, von dort aus auf den Herd, wo er ein paar ansehnliche Schrammen auf dem Cerankochfeld hinterlassen hat. Der Dummbatz hat doch tatsächlich die Pfanne über den Rand geschoben. Es muss ein mächtiges Geschepper gegeben haben. Jedenfalls ist der Griff der Pfanne beim Sturz abgebrochen und das Bratöl verteilte sich großzügig über den Boden, die Schränke, den Essplatz und ist sogar bis an die Wände gespritzt. Für Pino hieß das: Es ist angerichtet. Für Gerda bedeutete es einen langen Putztag.«

»Unfassbar«, murmelte Calvin und schüttelte den Kopf.

»Ich habe ihr ja gleich gesagt, dass ein Jack Russell Terrier kein Schoßhund ist. Der will ausgepowert werden.«

»Tante Gerda hatte ihr Leben lang Jack Russell, Paul«, fuhr Calvin seinen Freund an. »Das habe ich dir doch erklärt. Sie kennt sich mit dieser Rasse aus. Pino ist einfach nur ein außergewöhnlicher Hund.«

»Ja, das muss ich auch sagen«, pflichtete ihm seine Mutter bei. »Wir kennen Gerda ja schon gar nicht mehr ohne Hund und bis jetzt hat sie noch jeden in den Griff bekommen, aber Pino ...« Sie schüttelte den Kopf. »Na, noch ist nichts verloren, er ist ja noch jung. Ansonsten geht es ihr so hervorragend wie immer. Was ist mit deiner Familie, Paul? Sind alle wohlauf?«

»Es geht allen prächtig«, nickte Paul. »Meine Schwester erwartet Nachwuchs.«

»Oh, das ist wundervoll! Bestell Hanna einen lieben Gruß von mir. Wann ist es denn soweit?«

»Im Juni, es wird ein richtiges Sommerkind«, erklärte Paul.

Grau-grüne Augen, ganz ähnlich seinen eigenen, richteten sich auf Calvin. »Das heißt, ihr werdet bald Onkel. Ist das nicht toll? Oh, ich könnte eine kleine Mütze für den Nachwuchs häkeln.«

»Ich werde nicht Onkel, Mum«, konstatierte Cal, »nur Paul. Wir sind schließlich nicht verheiratet.«

»Na, ihr gehört doch aber zusammen, da brauchst du das nicht so eng sehen.«

Fester gruben sich Cals Finger in das Kissen auf seinem Schoß, doch er sparte sich eine Antwort.

»Über eine selbst gehäkelte Mütze würde sich Hanna sicherlich freuen«, sagte Paul. »Es ist ja ihr erstes Kind, sie braucht also eine komplette Grundausstattung.« Er lachte. »Sie läuft schon jetzt durch die Läden und bringt die Kreditkarte ihres Freundes zum Glühen.«

»Oh, ich war damals genauso! Ich habe mich so darauf gefreut, Mutter zu werden. Kaum, dass der Arzt es bestätigt hat, bin ich losgelaufen und habe kleine Strampler und Jäckchen geholt.« Sie sah nun wieder zu Calvin. »Dein Vater hat als erstes sein Arbeitszimmer geräumt, die Hände in die Hüften gestemmt und gesagt ›Das hier wird sein Zimmer‹ .« Lachend schüttelte sie den Kopf. »Er hat immer gesagt, er hat von Anfang an gewusst, dass du ein Junge wirst.« Cal musste schmunzeln, doch der Ausdruck, der nun in die Augen seiner Mutter trat, ließ ihn die Luft anhalten. »Es war so schön, dich aufwachsen zu sehen, das Trappeln kleiner Füße auf der Treppe und dein Lachen.«

Sie würde so gern Oma werden. Cal sah es ihr an, wann immer sie auf dieses Thema zu sprechen kamen. Der sehnsüchtige Blick, das kleine Lächeln, die stumme Bitte, die sie nie aussprechen würde. Sie wünschte es sich so sehr und sie wäre eine großartige Großmutter. Sie würde ihren Enkeln backen beibringen und vorlesen, würde sich auf ihre Phantasiespiele einlassen, wie sie es damals bei ihm gemacht hatte. Sie würde ihnen Wurzeln schenken und Flügel verleihen, würde sie aufrichtig lieben und ... Calvin senkte den Blick und griff schnell nach seinem Weinglas, spülte den Kloß in seiner Kehle mit prickelnder Schorle hinunter.

 

»Ich freue mich schon sehr darauf, meine Nichte oder meinen Neffen zu uns einzuladen, ihnen Donatello vorzustellen und mit ihnen zu spielen. Das wird großartig.«

Calvin hätte nie gedacht, einmal froh über Pauls Worte zu sein, aber jetzt retteten sie ihn vor Schlimmerem.

»Wie geht es Donatello? Hat er den Winter gut überstanden?«

Dankbar für den Themenwechsel nickte Cal. »Ja, das hat er wirklich. Er wird langsam aktiv. Ich muss noch sein Außengehege vorbereiten, bevor er wieder hinein kann.«

»Ist das wirklich so eine gute Idee, ihn den ganzen Tag auf dem Balkon zu lassen?«

Calvin lachte amüsiert. »Mum, das machen wir seit Jahren so. Bei warmen Temperaturen schläft er doch auch draußen. Erinnerst du dich, wir haben die Wohnung extra deshalb mit Balkon ausgesucht.«

»Ja, ich weiß schon. Trotzdem ...«

»Und er ist Grieche. Er ist an warme Temperaturen gewöhnt.«

»Schatz, er kommt aus dem Tierheim an der Dearborne und nicht aus Griechenland.«

»Ach was«, winkte Cal ab, »das liegt in seinen Genen, da bin ich mir sicher. Und er entwickelt sich prima. Er wird uns eh alle überleben.«

»Da hast du Recht«, pflichtete ihm seine Mutter bei.

»Zumindest ist das sehr wahrscheinlich. Jedenfalls kann er noch mit unseren Enkeln Sirtaki tanzen.«

Diese Aussage brachte Mary Farlane zum Lachen. Sie richtete ihren Blick auf ihren Sohn, während ihr Schwiegersohn - und als solchen betrachtete sie Paul seit Langem - weiter von seiner Schwester und deren früher Schwangerschaft berichtete. Ein Lächeln stand auf Calvins Gesicht, das seine Augen allerdings nicht erreichte. Es war ein Lächeln, das sie seit Längerem bei ihrem Sohn beobachtete. Sie kannte ihn wie niemand sonst ihn kannte und doch konnte sie nicht sagen, wo dieses Lächeln herrührte. Nicht direkt das Lächeln, sondern die Kälte darin, der Ausdruck dahinter.

Sie ahnte sehr wohl, dass ihren Sohn etwas beschäftigte, worüber dieser nicht mit ihr sprechen wollte. Nicht mit ihr und auch nicht mit ihrem Ex-Mann, mit dem sie darüber gesprochen hatte. Sie konnte nur hoffen, dass Calvin wenigstens mit Paul sprechen konnte. Wenn nicht mit ihnen oder mit seinem Freund, mit wem sollte er sonst reden? Calvin hatte nicht viele Freunde, das wusste sie. Er war nie der Typ für viele Freundschaften gewesen, aber er erzählte ab und an von einer Lucy und auch von einem Twin, der wohl so hieß, weil er angeblich irgendjemandem sehr sehr ähnlich sah, aber sie hatte vergessen, wem. Es war eine berühmte Persönlichkeit gewesen. Doch beide kannte er noch nicht so lange.

Als sie ihren Sohn zum Abschied umarmte, spürte sie die Anspannung seiner Muskeln. Seine Körperwärme drang zu ihr, die sanfte Duftmischung seines Deos, seines Aftershaves und des Waschpulvers, das er benutzte, stieg ihr in die Nase und sein Haar kitzelte ihre Wange.

»Geht es dir gut, Cally?«, fragte sie zärtlich. Sie spürte, wie er erst die Luft anhielt und dann langsam weiteratmete. Seine Antwort kannte sie, bevor er sie aussprach.

»Ja, Mum. Mir geht es gut.«

Sie nickte und entließ ihn aus der Umarmung, lächelte ihn liebevoll an. »Gut. Kommt gut nach Hause.« Mary umarmte auch Paul, strich ihm über den Rücken und sah den beiden dabei zu, wie sie in den Fahrstuhl einstiegen und davonfuhren. Seufzend schloss sie die Wohnungstür.

***

Für seine Beziehung hatte der Valentinstag vielleicht keine Bedeutung mehr, aber als er an diesem Freitagnachmittag das kleine Geschäft betrat, zwei Tage vor diesem Tag der Liebenden, wusste Calvin genau, für wen er hier etwas kaufen würde. Der letzte Besuch bei seiner Mum hatte ihn darin bekräftigt und so sah er sich nun lächelnd wieder den Regalreihen gegenüber.

Evelyn beriet gerade einen anderen jungen Mann, also wartete er, bevor er auf sie zutrat und ihr Lächeln erwiderte.

»Hallo, Mrs. Larkin.«

»Ach, ich bitte Sie. Sie entwickeln sich zu einem Stammkunden, sagen Sie ruhig Evelyn zu mir. Womit kann ich Ihnen denn heute behilflich sein?«

»Nun, der Valentinstag steht vor der Tür.« Calvin atmete tief ein. Der heimelige Kakao-Duft, den er jedes Mal gern in eine Dose sperren und mit nach Hause nehmen würde, hüllte ihn ein wie eine warme, weiche Bettdecke.

»Hm. Und für wen suchen Sie etwas?«

»Um ehrlich zu sein, für meine Mum.« Evelyns Augenbrauen flogen nach oben, was Calvin dazu veranlasste, sich verlegen lachend durchs Haar zu streichen. »Ist das so außergewöhnlich?«

»Außergewöhnlich vielleicht nicht, aber selten schon.«

»Hm.« Calvin deutete auf die Theke, hinter deren Glasscheibe die Auswahl an Pralinen lag. »Würden Sie mir wieder so eine Probierschachtel zusammenstellen? Nur nichts mit Nüssen, das mag sie nicht.«

»Gern.« Während sie begann, die Pralinen einzupacken, öffnete sich erneut die Ladentür. In diesen Tagen war deutlich mehr los im Laden.

»Mir haben die Pralinen mit den Kakaosplittern auch gut geschmeckt. Aber ich glaube, mein Favorit bleibt die Schokoschaum-Karamell-Praline.« Eine ältere Frau drängte hinter Calvin vorbei und blieb an seiner Umhängetasche hängen. Er entschuldigte sich und trat einen Schritt vor. »Du meine Güte. Unten muss ja die Hölle los sein, bei so vielen Kunden.«

Evelyn lächelte. »Sie verkriechen sich nach dem Aufstehen dort unten und kommen vor dem späten Abend nicht mehr heraus. Wie kleine Vampire.« Sie schob den Deckel auf die Schachtel. »Aber das gehört dazu. Wir beklagen uns nicht. Ohne Kunden würde das Geschäft ja nicht funktionieren.«

»Wem sagen Sie das?« Lächelnd tauschte Calvin die Papiertüte gegen Bargeld. »Es stimmt so. Dann wünsche ich noch einen umsatzreichen Tag und so liebe Kunden wie mich.« Er zwinkerte Evelyn zu.

Die lachte auf. »Danke. Das können wir immer gebrauchen.«

Lächelnd wandte sich Calvin zum Gehen, hielt aber noch einmal inne. »Bestellen Sie Leo einen Gruß von mir?«

»Natürlich, gern.«

»Danke.« Calvin schob sich durch zwei kichernde Teenager-Mädchen und trat nach draußen. Im Bus, die Papiertüte sicher auf dem Schoß, kam ihm der Gedanke, dass er wohl nie etwas online bestellen, sondern den Larkins immer persönlich einen Besuch abstatten würde.

Kapitel 6

Vollmilchschokolade. Warm, sanft und ... Calvin legte den Kopf schief, betrachtete das neueste Foto auf der Fanseite von Larkin Candys and Sweets und suchte nach einem weiteren passenden Wort. Einladend, schoss es ihm durch den Kopf. Wenn er zeichnen könnte, hätte er diesen Blick zu gern auf dem Papier festgehalten. Ihn nur für sich neu definiert. Doch er konnte nicht zeichnen und so blieb ihm nur der Anblick dieses Handyfotos. Leo sah von seinem Arbeitsplatz von unten in die Kamera, die behandschuhten Hände voller dunkler Schokolade.

Einladend. Wieder kam Calvin auf dieses Wort zurück. Ein leises Lachen hinter ihm riss ihn aus seinen Gedanken, das aber schnell verstummte. Lucy lehnte ihre Arme auf die Rückenlehne der Bank. Ihr Schatten verdunkelte das Bild auf dem Handy.

»Wer ist das denn?«

»Leo Larkin. Der Sohn der Larkins, die das Süßigkeitengeschäft haben.«

Und schon war das Lachen wieder da. »Sag nicht, sie haben schon wieder etwas gepostet? Hatten wir das Thema nicht erst vorgestern? Du wolltest weniger vor dem Handy hängen, das hast du dir an Silvester vorgenommen und ich sollte dich daran erinnern. Also noch einmal: Du wolltest weniger am Handy hängen, Calvin.«

Lächelnd drückte Cal den Home-Button und landete so im Startbildschirm seines Smartphones. »Ja, du hast ja Recht. Bist du fertig?« Calvin erhob sich und schob das Handy in die Tasche seiner Weste.

»Wir können weiter«, nickte Lu und so setzten sie ihren Weg durch den Park fort. Die Sonne schien an diesem Samstag vom Himmel, erstaunlich warm für den März und sie hatten diese Sonnenstrahlen ausnutzen und Vitamin D sammeln wollen.

Eine Weile schwiegen sie, lauschten dem Geschnatter der Enten auf dem Teich, die gerade von einer älteren Frau und einem kleinen Mädchen gefüttert wurden. Normalerweise stand Calvin dem Entenfüttern skeptisch gegenüber, aber heute hatte es etwas seltsam Tröstliches. Den Grund dafür kannte er genau. Aus demselben Grund empfand er auch Leo Larkins dunkle Augen heute als besonders beruhigend.

»Ist alles in Ordnung? Du bist so ruhig«, durchbrach Lucy schließlich die Stille.

»Ach, ich habe nur schlecht geschlafen.«

»Hast du was Schlechtes geträumt?«

»Ich konnte nur nicht einschlafen«, erklärte Calvin und hoffte, dass sie von diesem Thema schnell wieder abkommen würden.

»Warum nicht?«

»Mir ... Mir geht einiges durch den Kopf.«

Vom Wegesrand pflückte sich Lucy eine getrocknete Klette aus dem letzten Jahr, die den Mäharbeiten wohl entkommen war. »Und was?« Grinsend pappte sie Calvin das klebrige Pflanzenteil an den Pulli, was diesen zum Lachen brachte.

»Ach, nur das Leben, weißt du? Will ich für immer im Penmarket arbeiten? Geht es meiner Mum wirklich so gut wie sie sagt? Was wird aus Donatello, wenn ich sterbe?« Calvin zupfte sich die Klette vom Oberarm und heftete sie Lucy an den kleinen Rucksack, den sie trug.

»Hey, das ist fies, da komme ich nicht ran!«, rief sie und angelte nach hinten, um die Klette doch irgendwie zu erreichen. »Ha!«, machte sie und mit einem kräftigen Schlag heftete sie Calvin die inzwischen reichlich gerupfte Klette auf den Rücken. Calvin zuckte unter dem Klaps zusammen und bog aus einem Reflex heraus den Rücken durch, biss sich kräftig auf die Unterlippe, um keinen Laut von sich zu geben. Doch Lucy bemerkte durchaus die Veränderung und das Lachen, das ihre Aktion zuerst hervorgerufen hatte, blieb ihr im Halse stecken. »Cal?«

»Ist schon gut.«

Lucy blieb stehen und zwang Calvin so, ebenfalls stehen zu bleiben. »Du siehst aus, als hättest du Schmerzen. Wieso hast du Schmerzen?«

»Das kommt von der Arbeit. Ich musste gestern so viel auspacken. Nichts Schlimmes, wirklich.«

»Das sieht aber ganz anders aus. Vielleicht solltest du mal in ein Massagestudio gehen.«

»Gib mir die Klette mal«, bat Calvin, anstatt auf ihre Worte einzugehen. Nur Lucys Sorge war es zu verdanken, dass sie seiner Bitte sofort Folge leistete. Kaum hatte Calvin die Klette in der Hand, drückte er ihr das Teil erneut auf den Rucksack, ein breites Grinsen auf dem Gesicht.

»Hey! Na warte!« Lachend jagte Lucy hinter Calvin her, der vor ihr weglief. Es dauerte keine fünf Minuten, als sie immer noch lachend und nach Luft japsend nebeneinander stehenblieben und die Hände auf die Knie stützten. »Das verlangt nach einer Racheaktion, das ist dir doch klar?«

»Oh ja«, beteuerte Calvin. »Aber bitte nicht heute. Der Tag gestern war wirklich anstrengend und ich bin noch ganz schön fertig.«

»Hmm«, machte Lucy langgezogen, die vom Lippenpflegestift glänzenden Lippen geschürzt. »Na gut. Ausnahmsweise. Dann später.« Calvin nickte, richtete sich auf und sie setzten grinsend und kopfschüttelnd ihren Weg durch den Park fort. »Hey, Cal?«

»Hm?«

»Das waren aber ziemlich düstere Gedanken da vorhin.«

»Ach, na ja.«

»Was passiert mit Donatello, wenn du stirbst? Also wirklich, das dauert doch noch ewig.« Lucy schob ihre Hände in die Taschen ihres dünnen Trenchcoats. »Vielleicht sollte ich dich mal wieder zum Shoppen mitnehmen, um dich auf andere Gedanken zu bringen.«

»Klingt gut. Ich brauche einen neuen Tischläufer fürs Esszimmer. Der alte hat einen Brandfleck.«

Lucy sah auf. »Was? Den, den wir zusammen ausgesucht haben?« Calvin nickte und kramte ein Taschentuch aus seiner Hosentasche hervor. Vom Rennen lief ihm die Nase. »Wie ist das denn passiert?«

Leise schnäuzte sich Calvin, bevor er Lucy von dem Pokerabend vor etwa zwei Monaten erzählte und wie die heiße Asche sich trotz seiner Rettungsmaßnahmen in den Stoff gebrannt hatte.

»Na toll!«, schnaubte Lucy als er geendet hatte. »Wie schade! Der hat so perfekt gepasst und so ein Teil finden wir bestimmt nicht noch einmal.«

 

Und dennoch würde sie es versuchen. Um seinetwillen, das wusste Calvin und dafür war er ihr sehr dankbar.

***

Leo mochte die Atmosphäre in Baumärkten. Den Geruch nach Holz. Nach Farben, die angemischt wurden. Nach Teppichen, die man hier von großen Rollen zuschneiden lassen konnte. Er mochte die Weitläufigkeit und die Ruhe. Wenn man nicht gerade in der Holzabteilung stand, neben der Zuschnittstation.

So schob er entspannt den Wagen vor sich her. Darauf befand sich eine neue Kloschüssel in glänzendem Weiß. Das hässliche cremefarbene Ding würde sobald wie möglich rausfliegen und damit der Badewanne und der Duschtasse folgen. In der Bettenabteilung hatte er eine passende kleine Bank gefunden, die vor seinem Bett Platz haben würde und dieser Karton stand zusammen mit zwei weiteren, in denen sich Nachtschränke befanden, ebenfalls auf seinem Wagen. Dazu Spachtelmasse. Mehrere Sorten Schrauben, Nägel und Dübel. Stuhlwinkel und Holzlatten.

Eine Leiste des Einbauschrankes im Schlafzimmer hatte sich gelöst, die Löcher der Schrauben waren ausgerissen und das Holz trocken und rissig. Die Türen hingegen waren einwandfrei und so würde er einfach nur den Rahmen erneuern müssen und die Türen wieder anschrauben können. Nicht, ohne sie vorher abzuschleifen und neu zu lackieren. Schleifpapier für den Schwingschleifer, schoss es ihm durch den Kopf. Das fehlte noch. Und Silikon für das Badezimmer. Er schlug sich vor den Kopf. Das Waschbecken hatte er total vergessen.

Doch auch das war schnell ausgesucht. Weg mit dem hässlichen cremefarbenen Ungetüm. Stattdessen würde er ein weißes, rechteckiges anbauen. Modern und schlicht. Sobald er alles fertig verfugt hatte. Die passende Armatur landete ebenfalls im Einkaufswagen, der nun ein bedächtiges Quietschen von sich gab, wenn er ihn vor sich her schob. Eines der Räder könnte einen Schuss Öl gebrauchen.

Er bog um eine Ecke und stand dann vor dem Regal mit Silikon. Und hier klappte ihm der Mund auf. Das war doch wohl ein Witz! Etwa fünf Meter Regalfläche voll mit Silikon. Badsilikon. Silikon. Acryl. Und sogar etwas, auf dem stand ›Wie Gummi‹ . Was auch immer das sein sollte. Die Preise bewegten sich zwischen 3 und 20 Dollar pro Kartusche. Verwirrt fuhr er sich durch das Haar und griff nach einer der Kartuschen, drehte sie um und begann zu lesen. Für das Bad und Feuchträume geeignet. Und was war jetzt der Unterschied zu Acryl? Er griff nach der nächsten Flasche. Und danach nach einer dieser ›Wie Gummi‹ -Dinger.

Er war handwerklich wirklich nicht unbegabt, ganz und gar nicht. Aber er war nun mal kein Sanitärfachmann und das hier war verwirrend. Noch dazu gab es von allen Sorten unterschiedliche Preisklassen. Er stellte die Flaschen zurück ins Regal, um sich auf die Suche nach einem Angestellten zu machen.

Etwa zehn Minuten und 20 Regalreihen später gab er es auf. Das war etwas, was er am Baumarkt nicht mochte. Die Menschen, die hier arbeiteten, schienen alle faszinierende Tarn-Fähigkeiten aufzuweisen. Vermutlich eine Einstellungsvoraussetzung. Ratlos stand er wieder vor dem Regal und griff erneut nach einer Flasche, dann nach einer anderen und versuchte das Geschriebene auf den Etiketten zu vergleichen.

Den skeptischen Blick des Mannes, der neben ihn getreten war, bemerkte er kaum, doch als sich dieser Mann schließlich räusperte, sah Leo doch auf. Neben ihm stand ein Mann, den er auf Ende 50 schätzte. Schütter werdendes Haar zeichnete den schlanken Kopf aus, die Wangen zierten Lachfalten, genau wie die Übergänge zu den Schläfen. Die dunkelblaue Latzhose verdeckte ein rot-schwarz-kariertes, mit weißer Farbe bekleckertes Hemd. Blaue Augen sahen freundlich in Leos.

»Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Nehmen Sie auf keinen Fall diesen Billigschrott, den sie hier als Acryl bewerben.« Die dunkle Stimme war basslastig und dröhnte beinahe in Leos Ohren.

Leo sah auf die Kartuschen in seiner Hand. »Kennen Sie sich damit aus?«

»Schon ein bisschen«, antwortete der Mann, selbst eine Silikonkartusche für den Außenbereich in der Hand. Sein blauer Blick fiel auf den Einkaufswagen. »Badumbau?«

Leo lächelte. »Hausumbau. Ich bin wirklich nicht unbegabt, was das alles angeht. Aber im Sanitärbereich ... Na ja. Da liegen meine Stärken sicher nicht.«

Die weiße Kartusche des Mannes landete schwungvoll in seinem eigenen Einkaufswagen, bevor er nähertrat. »Also wenn es fürs Bad sein soll und sie ein älteres Haus umbauen, dann schon mal Finger weg vom Acryl. Die Dichtungsmasse im Bad muss einiges aushalten. Acryl ist nur bedingt wasserfest und außerdem arbeitet es weniger. Mal sehen, wie ich erkläre ich das? Hm. Stellen Sie sich vor, Sie haben ein Kind, das sich auf Ihr Waschbecken dort«, er deutete auf das Waschbecken im Einkaufswagen, »lehnt, um in den Spiegel zu sehen. Acryl könnte bei diesem Unterfangen reißen. Außerdem müssten Sie genau die richtige Farbe treffen, weil es farbecht ist. Nein, nein, was Sie brauchen, ist Silikon.« Der Mann tippte auf die entsprechende Kartusche.

»Okay.« Leo stellte die andere Kartusche zurück ins Regal. »Und was zum Kuckuck ist dieses ›Wie Gummi‹

»Wenn Sie mich fragen, ist das ausgemachter Unsinn. Geldtrickserei. Ich hab's selbst nie verwendet, aber alle Internetbewertungen sprechen für sich.« Der Mann schüttelte den Kopf. »Die Farbe würde nicht lange halten, es würde sich stark zurückziehen.« Die blauen Augen sahen auf und an den langen Regalreihen entlang. Der Mann hakte dabei die Daumen unter die Träger seiner Latzhose. »Dass die das Zeug bei den Reklamationen noch verkaufen!« Ihm schien etwas einzufallen. »Sie machen das nur für Ihr Haus? Nicht professionell oder so? Nicht beruflich?«

»Nein. Absolut nicht beruflich«, schmunzelte Leo.

»Hm, verstehe.« Der Mann tat ein paar Schritte, blieb vor den Silikonkartuschen stehen. Auch die gab es in unterschiedlichen Farben. »Also das ganz teure brauchen Sie dann nicht zu nehmen, aber das billige lieber auch nicht, das trocknet zu schnell aus. Die Pilzresistenz ist bei Silikon übrigens auch höher als bei Acryl.« Lehrerhaft hob sich ein Zeigefinger in die Höhe. »Wichtig im Bad. Kein Schimmel und sie müssen nicht nach zwei Jahren alles abkratzen und neu machen. Das ist mit Verlaub eine Scheißarbeit.«

Ein Stöhnen am Ende des Ganges ließ den Mann aufsehen. »Dad! Ich suche dich überall! Kannst du mir verraten, wie du vom Holzschnitt hierher gekommen bist? Belästigst du schon wieder hilflose Menschen?« Calvin wandte sich an den Mann in den Bluejeans und dem Henley-Shirt. »Entschuldigen Sie bitte, ich ...« In diesem Moment drehte sich Leo um und Calvin, der eine Packung Schrauben, eine kleine Tüte mit Holzdübeln und eine Plexiglasscheibe trug, wäre um ein Haar gestolpert.

Und Leo ging es nicht anders. Sein Herz setzte einen Schlag lang aus und er konnte das Lächeln auf seinem Gesicht nicht aufhalten, als er in diese faszinierenden Augen blickte, die ihn erschrocken ansahen. In dem dunkelblonden Haar hing etwas, das verdächtig nach Holzspänen aussah, die dunkle Jeans war an einem Knie zerrissen und das Shirt war mit Farbe beschmiert. »Hallo.«

»Äh ...«

Roger Brewster stemmte die Hände in die Hüften. »Was soll das heißen, ich belästige Menschen? Ich helfe diesem jungen Mann dabei, sein Haus umzubauen«, erklärte er, während Calvin näher trat, langsamer jetzt.

»Ich ... Sie ...« Langsam ließ Cal die durch eine Folie geschützte Scheibe sinken. Sein Vater sah zwischen ihm und Leo hin und her.

»Gib das her«, sagte er dann und nahm seinem Sohn die Scheibe ab. »Wieso schleppst du das durch den ganzen Baumarkt?«

Schnaubend wandte sich Calvin an seinen alten Herrn. »Ist das dein Ernst? Weil du ... Ach!« Er winkte ab. »Lassen wir das.«

Es war genau wie beim letzten Mal. Leo hatte Mühe, den Blick von dem jungen Mann zu nehmen, dessen Haare aussahen, als hätte er nach dem Aufstehen vergessen, sie zu kämmen. Es gab ihm einen unheimlich jugendlichen Touch. Jetzt fing er den Blick wieder ein. »Übrigens vielen Dank für die Grüße.«