Der Heilungsweg des Schamanen im Lichte westlicher Psychotherapie und christlicher Überlieferung

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Auch die Wissenschaft entdeckt die Vernetztheit

Durch die Entdeckung der Atome machten uns die Physiker klar, dass alle Materie aus winzigen Teilen besteht, die sich im leeren Raum um einen Kern bewegen. Man könnte sagen, dass alle Materie aus Beziehung und Zusammenhängen besteht.

In der Psychoszene hat als erster C.G. JUNG ( z. B. in »Symbole der Wandlung«, 1995) jeden Menschen als »unbewusst vermischt mit anderen Individuen« beschrieben und das Konzept des »kollektiven Unbewussten« entwickelt, das sich aus Instinkten und Archetypen zusammensetzt und in dem sich die Spuren der Erfahrungen finden, die unsere Vorfahren mit der Tier- und Pflanzenwelt, mit Kräften und Wesen gemacht haben: »Die instinktiv-archaische Grundlage unseres Geistes bildet eine objektive, vorgefundene Gegebenheit, die weder von individueller Erfahrung noch von subjektiv-persönlicher Willkür abhängt.«

In der Humanistischen Psychologie spricht man von der »Fülle der Weisheit, die in uns wohnt« oder von der »Weisheit des Unbewussten«.

Der Biochemiker Rupert SHELDRAKE (1993) untersuchte u.a. die außergewöhnlichen Fähigkeiten von Tieren, z. B., wieso Tauben ihren Besitzer finden, auch wenn er sich gerade meilenweit von seinem Heimatort entfernt befindet, und ging unter anderem der Frage nach, warum man spürt, dass einen jemand von hinten anschaut. Er stellte die These strukturierender und organisierender Felder auf, die er »morphogenetisch« nennt, um die Entwicklung und die Zusammenhänge lebendiger Organismen zu erklären, und hat mit dem Theologen Matthew FOX (2001) sogar ein Buch über »Engel – Die kosmische Intelligenz« geschrieben.

Bert HELLINGER (1994) spricht von der »großen Seele«: »Was ich in meiner Arbeit versuche, ist, jemand in den Einklang zu bringen mit dieser Kraft. Ich selbst füge mich dieser Kraft, bin mit ihr im Einklang, und so arbeite ich also mit etwas, das durch mich nur hindurchgeht.«

SPARRER/VARGA VON KIBÈD (2002): »In den Systemischen Strukturaufstellungen zeigt sich das Wissen zwischen uns. Alle wesentlichen Gedanken fließen letztendlich aus der Quelle dieses Wissens. Wir sind nur Gefäße dafür.« Andere, wie Albrecht MAHR (2003) nennen es »Das wissende Feld«.

»Es gibt einen Traum, der uns träumt,« sagt man bei den Buschleuten in der Kalahari.

»Niemand kann das richtige Gefühl zum Denken haben, der glaubt, dass das Denken etwas sei, das sich nur innerhalb des Menschen, in seinem Kopf oder in seiner Seele abspiele ... Wenn ich durch Gedanken etwas ergründen kann über die Dinge, so müssen die Gedanken erst darinnen sein in den Dingen,« sagt Rudolf Steiner (†1925), zit. in Regina OBERMAYR-BREITFUSS (2005), die vom »intuitiven Speicher« spricht und auch den Philosophen und Weisheitslehrer Omraam Mikhael Aivanhov (†1986) erwähnt, der diese Erkenntnisquelle den »Kausalkörper« nennt und ihn mit einem Berg vergleicht, von dem aus man die ganze Landschaft überblicken kann.

In der Tradition des indianischen Medizinrades nach Harley Swift Deer und Hyemeyohsts STORM (1990) bedeutet die Position 15 im östlichen Zentrum »die Seele aller Menschen«, wo alles gespeichert ist, was je auf der Welt gedacht und getan wurde.

In den letzten Jahren entdeckten Neurowissenschafter wie G. Rizzolatti et al. (vgl. Joachim BAUER, 2006) als physischen Beleg für Intersubjektivität im Gehirn sogenannte Spiegelneuronen, die vermutlich die Einfühlung in andere ermöglichen. (Bei Schizophrenen, die fremde und eigene Regungen oft nicht mehr unterscheiden können, sind diese ebenso gestört wie bei Autisten, die sich kaum in andere hineinversetzen können.)

So verschieden die Wurzeln und Ausprägungen der genannten Auffassungen auch sein mögen: Diese systemische bzw. transpersonale Sichtweise gehört wesentlich zum schamanischen Weltbild.

Wobei auch diese im Wachzustand erfahrbare Welt, also jeder Stein, jede Pflanze, jedes Tier, natürlich auch jedes Haus und jede Maschine etc. (durch Naturgeister, Elfen u.Ä.) als belebt, »beseelt« und energetisiert aufgefasst werden, wie dies auch der letzte Universalgelehrte Gottfried Wilhelm LEIBNIZ (†1716) in seiner Monadenlehre ähnlich sah.

Interessanterweise sind in unserer Sprache noch immer Reste dieser schamanischen Sichtweise vorhanden, wenn man z. B. von »Eingebung« spricht. WER gibt mir hier etwas? Oder wenn jemand sagt: »Die Landschaft hat mich sehr berührt« oder »Dieses Bild hat mich sehr angesprochen«, »Ich bin ganz angetan«. Niemand hat mich materiell berührt oder mit den Ohren hörbar mit mir gesprochen oder etwas getan. Diese Ausdrücke stammen noch aus einer Zeit, wo man sich – wie in Märchen oder Träumen – sicher war, dass man z. B. mit Tieren oder Bäumen sprechen und von ihnen berührt werden kann. Diese Zeit erleben die meisten von uns als Kind. Die moderne Entwicklungspsychologie leitet die Genese der komplexen Erkenntnisprozesse von den frühen sensorischen Empfindungen ab, wobei die Sprache diese frühen sinnesnahen Erfahrungen metaphorisch nützt. (Über die Zusammenhänge zwischen den Entwicklungsphasen des einzelnen Menschen und der Menschheitsgeschichte siehe weiter unten meine Ausführungen zum Thema: »Ist das nicht Regression?«)

Auch die von uns als »anorganisch« bezeichnete Materie hat aus schamanischer Sicht eine Art von Gedächtnis.

Wie man nicht eine fremde Wohnung betritt und sich ungefragt etwas aus dem Kühlschrank nimmt, beginnt man jedes schamanische Ritual, besonders aber an einem Ort, an dem man noch nie gearbeitet hat, indem man nicht nur die Hilfe der mächtigen Geistwesen aus der Anderswelt, sondern auch die Zustimmung und das Wohlwollen der »Herren und Herrinnen der Gegend« erbittet.

Bei der schamanischen Behandlung eines Unternehmens, in dem es zu zwei Todes- und einer Menge von Unglücksfällen gekommen war, stellte sich heraus, dass es eine unglückliche Verbindung gab zu dem Herrn der Gegend nördlich der Firma, der von den Menschen nichts mehr hielt, seit auf seinem Boden immer wieder so furchtbare Unmenschlichkeiten und Verbrechen begangen worden waren. Eine sensitive Mitarbeiterin, die am Heilritual für das Unternehmen teilgenommen hatte, hatte dabei ebenso wie ich ein Schlachtfeld mit vielen liegen gelassenen Toten gesehen. Seither ist übrigens kein einziger Unfall mehr aufgetreten.

Ähnliche Erfahrungen berichtet auch Regina OBERMAYR-BREITFUSS (2005) aus ihrer Tätigkeit als systemische Supervisorin: »Auch unverarbeitete Kräfte aus der Vergangenheit eines Firmenortes können den Arbeitserfolg der Belegschaft beeinträchtigen, z. B. ein Gebäude, in dessen Keller noch ›verschlossene Kriegsgeschehnisse‹ sind.«

Das erinnert auch an die französische Psychodramatikerin und Aufstellerin Anne Ancelin SCHÜTZENBERGER (2003), die in ihrer Arbeit ebenfalls Zusammenhänge zwischen aktuellen Problemen und oft Jahrhunderte zurückliegenden Ereignissen fand.

Natürlich gibt es auch Plätze, die eine starke positive Energie ausstrahlen. Unsere Vorfahren wählten solche Plätze für ihre Rituale und auch die heutigen Gotteshäuser stehen oft auf diesen, schon vorher genutzten Kraftplätzen. Außerdem werden oft Quellen, Höhlen, bestimmte Berge, Bäume oder Tiere etc. als besonders geeignete Tore zum Übernatürlichen erlebt, verehrt und für Rituale genützt.

Schamanisch kann man also die Verbindung zu allen anderen Teilen der Natur herstellen, die man wie Geschwister – hervorgegangen aus dem gleichen unfassbaren Urgrund – auffasst, wobei man darauf achtet, dass in der Beziehung zu ihnen das Geben und Nehmen ausgeglichen ist. Wenn Uncle Les Kuloloio, ein hawaiianisch Ältester und traditioneller Heiler, sagt: »Wir sind Kinder des Meeres,« meint er das wörtlich. Nicht, dass unsere Wissenschafter nicht auch betonten, dass alles Leben aus dem Meer entstanden ist, aber wenn wir an unsere Vorfahren denken, kommen wir meist nicht über unsere Groß- oder Urgroßeltern hinaus. Wir denken nicht an die Unzahl unserer früheren Ahnen bis hin zu den ersten Menschenpaaren, von denen wir alle abstammen, schon gar nicht an unsere tierischen Vorfahren, die Pflanzen oder die sogenannte anorganische Materie, von der wir kommen; wir sehen daher auch die uns jetzt umgebende übrige Natur nicht als Geschwister und Cousins an und behandeln sie auch nicht entsprechend achtungsvoll – obwohl diese uralte Sichtweise auch der Evolutionstheorie entspricht, die 1859 erstmals von Charles Darwin (†1882) formuliert wurde.

Galsan Tschinag, ein Tuvinier aus der Mongolei (in: Amélie SCHENK 1998):

»Die Geister meiner Urahnen habe ich überall um mich herum, es ist der Wind, es ist der Sonnenstrahl, es ist die Erde, es sind die Steine, die Bäume, die Menschen, die Tiere, alles, was mich umgibt, ist jeweils Teil der Geister meiner Urahnen ... Bei uns ist die bekannteste Behandlungsmethode eigentlich die Berührung mit der Mutter Erde, die Berührung mit den Brüdern Bäumen, die Berührung mit den Freunden Steinen, die Berührung mit den Schwestern Gewässern. Wenn ich auf der Erde sitze oder liege, spüre ich eine Strömung durch mich hindurchgehen, und ich halte dies für die Kräfte der Geister.«

So wird man auch nicht gedankenlos essen, sondern sich bei dieser Pflanze/diesem Tier bedanken, das sein Leben hingegeben hat, um mich zu nähren. (Eine gute Einführung in diese Denkweise bietet Marlo MORGAN, 1995.)

Auf Grund dieser ganzheitlichen Sichtweise ist jede Krankheit (inkl. Unfälle) und jedes Problem als psychosomatospirituell anzusehen, nicht nur die heute als psychosomatisch anerkannten Krankheiten, wie verschiedene Formen von Magen-, Darm-, Herz- und Hautkrankheiten etc. Wiewohl freilich der Schwerpunkt und die Entstehung mehr auf der körperlichen, der seelischen oder der spirituellen Ebene liegen können und damit auch den ersten und vorrangigen Behandlungsansatz indizieren. Aber m.E. sind immer alle drei Faktoren im Spiel.

 

Der Theologe, Zen- und Yoga-Lehrer Michael VON BRÜCK (2004) drückt es so aus:

»Fast alle alten Kulturen betrachten Medizin, d.h. die Anschauung vom körperlichen und seelischen Befinden des Menschen und die Möglichkeiten des gezielten Eingriffs zur Verbesserung und Gesundwerdung im Falle von Störungen, im Kontext sozialer Systeme und spiritueller Balance.

Zu den sozialen Systemen gehören oft nicht nur die Menschen der nächsten Umgebung, sondern die gesamte Gesellschaft und die Geister der nicht mehr Lebenden, d.h. das soziale Universum umfasst die Umwelt bis in geistige, sinnlich nicht wahrnehmbare Bereiche, nicht selten auch die Tiere und Pflanzen.

Medizinisches Wissen bedeutet demnach, die Faktoren zu studieren, die zu Unausgewogenheit, Ungleichgewicht und Dominanz einzelner Aspekte gegenüber der Harmonie des Ganzen führen, um den Ausgleich wiederherzustellen.

Dabei wird auch den religiös-spirituellen Dimensionen größte Aufmerksamkeit zuteil, denn Krankheit wird häufig betrachtet als Störung des Verhältnisses des Menschen zu sich selbst, zur Gesellschaft und zum göttlich bestimmten Universum. Heilung ist dann Wiederherstellung und Ausgleich des harmonischen Zustandes in allen diesen Dimensionen zugleich. ...

So ist es nicht verwunderlich, dass Buddha wie Jesus die Funktion des Arztes zugeschrieben wurde, weil sie physisch-spirituell zu heilen beanspruchten.«

Und SHAMANISM AND HEALING (2005) ergänzt:

»Bei allen noch intakten Traditionen können auch Irrtümer oder Fehltritte – etwa das Versäumen eines Rituals oder ein Verstoß gegen die gesellschaftlichen Verhaltensregeln – die kosmischen Muster stören und werden als Krankheit betrachtet.

Der Begriff der Krankheit bezieht sich also nicht nur auf körperliche Leiden, sondern auch mangelndes Jagdglück, Unfälle, Probleme in der Familie bedeuten für die Mitglieder dieser Gesellschaften ein Zeichen, dass die kosmischen Kräfte in Disharmonie sind. Das verursacht die Krankheit.

Der Schamane versteht den menschlichen Körper als einen komplexen Organismus, in dem das Sein in allen seinen Manifestationen wohnt: dem Körperlichen, dem Emotionalen, dem Mentalen und dem Spirituellen.

Die schamanische Intervention in Heilungsprozessen ist daher immer holistisch. Sie unterscheidet sich dadurch grundsätzlich von der westlichen traditionellen Medizin und Psychologie, die bei den Patienten meist nur die für krank gehaltenen Teile behandelt.«

Stimmte die klare Trennung, wie sie heute bei uns gängig ist, mit der Wirklichkeit überein, wäre es nicht möglich, dass körperliche Krankheiten, wie z. B. Migräne, auch psychotherapeutisch ( z. B. mit Familienrekonstruktion) oder schamanisch erfolgreich behandelt werden können.

Wie geht man auf die schamanische Reise?

Das kann spontan vorkommen: Da ist man auf einmal weggetreten und findet sich in der anderen Welt vor. In unserer Kultur ist es allerdings empfehlenswert, Beginn, Ziel und Ende der Reise selbst zu bestimmen, um nicht als Verrückter in einer Nervenklinik zu landen.

Man geht also auf Visionssuche.

Noch im alten Griechenland war die Tempel-Medizin sehr verbreitet. Man suchte Heilung oder Hinweise durch die Inkubation: Ein Gott erschien dem Patienten im Traum und gab Hinweise zur Heilung der Krankheit, die dann von den Priestern gedeutet wurden. Bei der schamanischen Reise wartet man nicht auf einen Nachttraum. Man könnte sie als induzierten Traum sehen, wobei zwischen Botschaft und Botschafter unterschieden werden kann: Die Inhalte der meisten Nachtträume können als Botschaften der Weisheit des Unbewussten, resp. der guten Geister, verstanden werden. Nur in den »großen Träumen«, wie ich sie nenne, erscheinen einem die Botschafter selbst, z. B. in Form von Lichtwesen, Engeln oder weisen Tieren, die einem Hinweise geben oder Lösungen vermitteln. Über den schamanischen Weg des Träumens siehe Carlo ZUMSTEIN (2003).

Bei uns spricht man von Zentrieren, Kontemplation oder gemäß den fernöstlichen Traditionen von Meditation, was von der lateinischen Wortwurzel her bedeutet: nachsinnen, und was etwas Heilendes hat – wie es auch im Wort »Medizin« zum Ausdruck kommt. Meditierend gelange ich in das Zentrum des Seins, das in vielen spirituellen Richtungen gegenstandslos als Leere resp. Fülle erlebt wird. In der schamanischen Tradition lässt man Bilder und Botschaften aufsteigen und man spricht von Reise, weil man sich ja dazu von einer Welt (der diesseitigen) in eine andere (die jenseitige) begibt, um seinen mächtigen Verbündeten in der Anderswelt zu begegnen – Repräsentanten des unfassbaren Mysteriums, der Leere resp. der Fülle, die man dann auch sehen, hören oder spüren kann.

Der Pionier der modernen Heilkunde, Paracelsus (†1541), dem bereits Naturbeobachtungen und Experimente besonders am Herzen lagen, betonte: »Jedermann kann seine Vorstellungskraft so schulen und einrichten, dass er in Berührung mit Geistern kommt und von ihnen unterwiesen werden kann.« Ähnlich wie sich in der christlichen Tradition die Auffassung von einem Schutzengel eingebürgert hat, geht man auch in den Stammeskulturen davon aus, dass jedes Volk, jedes Dorf, jede Familie und jeder Einzelne lebenslang von ganz bestimmten Schutz- und Hilfsgeistern behütet und geführt wird, die man eben in einer schamanischen Reise aufsuchen kann.

Mancherorts begibt man sich hierzu – nach einer Vorbereitung – mit wenig zu essen und zu trinken für ein paar Tage in die Wildnis – mit der Bitte, seinen GeistführerInnen zu begegnen.

Meist geht man in Trance mit Hilfe von Tanz und Musik, z. B. von Trommeln, Rasseln, Didgeridoo, Gesängen etc.

»Ich fliege auf der Trommel zu den Geistern,« sagen sibirische Schamanen. »Wenn Dich einmal der Geist der Trommel berührt hat, wirst Du nie wieder derselbe sein,« heißt es bei den Comanchen in Nordamerika.

»Das Ritual ist der Tanz mit dem Geist, die Art der Seele, mit der anderen Welt zu sprechen. Dadurch wirken sie heilend und unseren menschlichen Horizont unendlich erweiternd,« sagt der Afrikaner Malidoma Patrice SOMÉ (2001).

Vermutlich ein Viertel der SchamanInnen nehmen zum schamanischen Reisen Halluzinogene ein, in Teilen Südamerikas z. B. einen Lianensaft, gemischt meist mit dem DMT-hältigen Chacruna-Kraut, der »Ayahuasca« genannt wird, was »Liane der Geister/Toten«, »Ranke der Seelen« oder »Trunk der wahren Wirklichkeit« bedeutet, weil er die Illusion des Alltagsbewusstseins zerreißt und den Blick für das Wesentliche öffnet. Oder in Mexiko wird z. B. der Peyote-Kaktus mit dem Wirkstoff Meskalin verwendet, den die Azteken »das Fleisch der Götter« nannten. Selbst bei der nach ca. 5.300 Jahren vom Eis freigegebenen Mumie des »Ötzi« wurde eine Schnur mit getrockneten Pilzen (Birkenporlingen) gefunden, die sich als psychoaktiv herausstellten.

Der Ethnopharmakologe Christian RÄTSCH (2006):

»In vielen Kulturen werden Pflanzen als Lehrer respektiert und dienen der Bewusstseinserweiterung, der persönlichen Vision, der Erfahrung des Sinnes des Lebens ... Ayahuasca wird nur für rituelle und medizinische Zwecke gebraut. Wenn die Jäger ausziehen wollen, um Wild zu erbeuten, trinkt der Schamane von dem psychedelischen Gesöff. Wenn der Trunk zu wirken beginnt, verfällt der Schamane in konvulsive Zuckungen. Seine Seele strampelt sich frei; sie will den menschlichen Körper verlassen. Sie entschlüpft schließlich durch den ›umgestülpten‹ Magen und nimmt die Gestalt eines mächtigen Jaguars an. Der Jaguar begibt sich nun auf die Reise zur Herrin der Tiere. Sie hält sich in der ›Blauen Zone‹ auf, einem Punkt jenseits von Raum und Zeit, einem ›Ort jenseits der Milchstraße‹.«

Manche führen durch körperliche Anstrengung, Tanzen, Hitze, Fasten, Rezitieren von Mantras oder Hyperventilation, eine Deprivation des Sensoriums herbei. Manche fügen sich sogar Schmerzen zu, um außer diesen nichts mehr zu spüren und so eine hohe Konzentration zu erreichen.

Ich vertrete ja die Auffassung, dass nicht nur wir von den VertreterInnen der Naturvölker viel lernen und Anregungen erhalten können, sondern auch umgekehrt: z. B., dass wir einfachere Formen kennen und praktizieren, das Denken loszulassen und empfänglich für die Botschaften der Spirits zu werden. Jeder Mensch hat in sich eine Andockstelle ans Unendliche. Ist man geübt, reicht es, nur die Augen zu schließen. Manche müssen nicht einmal das.

Die Foundation for Shamanic Studies hat eine vergleichsweise einfache, aber nicht weniger wirksame Form der Visionssuche entwickelt. Sie baut auf den Erfahrungen mit bei uns üblichen Meditationsformen auf:

Zur besseren Vorstellung beschreibe ich hier die Grundzüge einer solchen Reise. Um nicht versehentlich Falsches einzuüben, wird man sie aber wie alle Entspannungs- und Meditationsformen besser unter Anleitung, z. B. in einer Gruppe, lernen.

Anfangs mache ich meine Klienten darauf aufmerksam, dass die Sprache in diesen anderen Bewusstheitszuständen der entspricht, die sie aus Träumen und Märchen kennen. So sind sie dann weniger darüber verwundert, dass z. B. Tiere sprechen können.

Während ein gleichmäßiger, eintöniger Rhythmus auf der Trommel geschlagen wird (kann auch von einem Tonträger kommen), legt man sich auf den Rücken, schließt die Augen und lässt den Schlag der Trommel auf sich wirken. Darauf erscheint vor dem inneren Sensorium (sichtbar, hörbar oder einfach spürbar) ein wunderschöner Platz in der freien Natur, ein Kraftplatz. Dort verweilt man kurz und begibt sich dann – mit dem Wasser in die Erde einsinkend oder durch einen Gang, einen Tunnel oder Ähnliches, auch Beamen ist möglich – nach unten, bis man in der unteren Welt anlangt, in der meistens Landschaften wie auf der Erde mit Wäldern und Flüssen usw. erlebt werden. Dort erscheint das mächtige Tier – schamanisch erlebt man das Zentrum seiner Kraft üblicherweise als Tier. Man vertreibt sich die Zeit mit ihm und kann ihm auch Fragen stellen, bis ( z. B. nach einer halben Stunde) das Rückholsignal ertönt, woraufhin man sich bedankt und verabschiedet, auf den Kraftplatz oben und von dort wieder in die mittlere Welt zurückkehrt, den uns am meisten vertrauten Teil der Wirklichkeit.

Zwischendurch kann man sich immer wieder erneut das Ziel der Reise vor Augen halten, damit man genau bei den guten Mächten anlangt, die man kontaktieren wollte, und nicht woanders.

Auf ähnliche Weise reist man in die obere Welt, steigt auf mit dem Rauch eines Feuers, springt, fliegt oder wird von einem Vogel hinaufgetragen, um seiner weisen Führung zu begegnen, die üblicherweise in menschlicher Form erlebt wird – psychologisch gesprochen: man nimmt Kontakt auf mit dem Zentrum der Weisheit in sich. Das spätere Auftreten zusätzlicher Krafttiere oder FührerInnen bringt oft Energie und Hilfe für neue Aufgaben.

Wenn man nichts sieht, hört oder spürt, ist dieses »Nichts« genau das Richtige. »Hat nicht funktioniert,« sagt man dann fälschlicherweise. Aber die Botschaft der Spirits ist dann eben, dass man sich mit dem Grau oder Schwarz anfreunden und es als Geschenk würdigen solle. Viele können sich gar nicht vorstellen, was es in einem auslöst, eine halbe Stunde das Nichts anzureisen. Diese Botschaft ergeht, meiner Erfahrung nach, vor allem an Leute, die sich zu viel Druck machen oder ohnehin häufig durch eine Bilderflut gequält werden.

Verwendet man zum Einstieg immer dieselbe Körperhaltung und Musik oder auch bestimmte Kleidung und sonstige Utensilien, wie Kerzen etc., bewirkt dies eine klassische Konditionierung, sodass die Anfangsrituale, die man sich angewöhnt hat, schnell den schamanischen Bewusstheitszustand auslösen. Da ich selbst schon seit meiner Jugendzeit meditiere, brauche ich nur mit der Absicht die Augen zu schließen und bin schon hinüber.

Es gibt viele verschiedene »schamanische Bewusstheitszustände«, nicht nur je nach Weltgegend, sondern auch bei ein und derselben Schamanin, oft während desselben Rituals: von der leichten Trance bis zu tiefgehenden »Besetzungen«, wo man sich nachher an nichts mehr erinnern kann.

Der experimentelle Psychologe Giselher GUTTMANN (2006) hat übrigens bei schamanisch Reisenden andere Gehirnstrom-Aktivitäten festgestellt, als wenn jemand z. B. gerade Zen meditiert: ein paradoxes Arrousal, einen Zustand hochgespannter Entspanntheit. Das liegt wahrscheinlich daran, dass man zwar einerseits in gleicher Weise weggetreten ist, aber andererseits zugleich aktiv seiner weisen Führerin eventuell Fragen stellt oder z. B. trommelnd in ihrem Auftrag rituelle Handlungen durchführt. Ähnliches fand der Mikrobiologe, Biochemiker und Anthropologe Erich ROTH (2005).

 

Wie beim luziden Träumen, beim katathymen Bilderleben oder der Oberstufe des Autogenen Trainings, geht es um eine Mischung von Passivität und Aktivität: Die Bilder, die kommen, sind nicht gesteuert und oft fremd und eigenartig. Man geht aber aktiv damit um und beginnt beispielsweise eine Blockade zu entfernen. Aber die Reaktion der Blockade liegt wieder außerhalb der eigenen Kontrolle.

Es ist angemessen, seine verlässlichen Verbündeten zu ehren und dankbar zu würdigen, indem man z. B. Masken anfertigt oder sich tanzend mit ihnen identifiziert. Auch als Psychologe würde ich sagen, dass es gut ist, seine eigenen Ressourcen nicht selbstverständlich zu nehmen, sondern sie dankbar zu würdigen. Als Theologe finde ich sowieso das Dankgebet und den Lobpreis viel angebrachter als das fragwürdige Bittgebet. Muss ich denn um die Schwerkraft bitten? Weiß denn Gott sonst nicht um meine Nöte? Oder verweigert er mir sonst etwa seine Hilfe? Ich bin es, der gebeten werden muss, die Fülle, die mir geschenkt ist, anzunehmen.

Auch in den Religionen werden Hierarchien angenommen, z. B. die verschiedenen Chöre der Engel. Obwohl ich dies früher eigenartig fand, erlebe auch ich in Trance verschiedene Instanzen, die auch für Verschiedenes zuständig sind. Es kommt vor, dass mich die Gruppe der Weisen, die mich üblicherweise wohlwollend, ernst und streng führt, weiterschickt, weil ein bestimmtes Problem ihre Kompetenzen übersteigt. In die höchste Ebene gelange ich persönlich übrigens nur, wenn ich absolut nichts will, auch nicht die Heilung des Klienten. Sonst komme ich gar nicht durch die Pforte.

Die Frage der Anfänger: »Ist das Bild bzw. die Antwort ungesteuert von selbst aufgestiegen oder habe ich es konstruiert?« ist sehr wichtig. Dadurch unterscheiden sich ja die schamanische Reise und ähnliche Methoden von gelenkter Visualisierung, wie sie z. B. im mentalen Training zur Problemlösung eingesetzt wird. Aber sie ist zum Lernen unbrauchbar. Am besten, man ignoriert die Frage einfach und tut so, als ob das Erlebte ungesteuert entstanden wäre: Mit der Zeit tritt die Frage nicht mehr auf, sondern es ist evident und man hat einen Schritt in Richtung »Unterscheidung der Geister« getan, die auch in den mystischen Traditionen, z. B. bei Ignatius von Loyola (†1556), eine wichtige Rolle spielt.

Normalerweise ist das Erste, das mir erscheint, gleich ernst zu nehmen und nicht wegzuschicken, weil ich z. B. etwas anderes sehen wollte oder erwartet habe. Man wertet nicht und deutet nicht und muss auch nicht verstehen. Nach Omraam Mikhael Aivanhov, schreibt OBERMAYR-BREITFUSS (2005), »verspüren Frauen oft die Schwierigkeit, ein Unterscheidungsvermögen zwischen einem persönlichen Gefühl und einer intuitiven Gefühlswahrnehmung zu entwickeln. In unserer westlichen Kultur haben Männer oft die Schwierigkeit, aus ihrem verstandesmäßigen, kritischen Denken heraus ein intuitives Denken zu entwickeln.« Und er gibt den praktischen Hinweis, »dass die Information laut Beobachtungen nur drei Mal empfangen werden kann. Wenn die intuitiven Informationen nicht registriert oder nicht beachtet werden, bleibt die sogenannte ›innere Stimme‹ still.«

Nach Gail Ferguson wird von OBERMAYR-BREITFUSS (2005) die Intuitionspraxis in ähnlicher Form wie die schamanische Reise angeleitet. Nachdem er bewusst Kontakt mit dem »intuitiven Kanal« aufgenommen und eine klare Frage gestellt hat, »nimmt der Intuierende die innere Haltung des ›Empfangens‹ ein und bleibt mit der Konzentration bei der Fragestellung. Das bedeutet, der Intuierende denkt nicht nach, er rät nicht, er erinnert sich nicht an Erfahrungen, er wünscht sich nichts und er fantasiert nicht ... Die intuitiven Informationen kommen zu ihm ... wie ›von Wellen gesendet‹ . Für den Übenden wird der Unterschied zwischen ›Selbst gedacht‹ und ›Empfangen‹ bald sehr deutlich ... Die übrigen Gedanken können kommen und gehen, steigen auf und wieder ab; sie erhalten jedoch keine größere Aufmerksamkeit und werden auch nicht abgelehnt oder verboten.«

Auch in das holotrope Atmen wird in ähnlicher Weise eingeführt. Sylvester WALCH (2002):

»Das Wichtigste, was ihr mitzubringen habt, ist die Bereitschaft loszulassen und der Mut, zuzulassen, was euch in der Atemsitzung begegnet. Veränderte Bewusstheitszustände mobilisieren die innere Heilenergie und lassen Bilder, Themen, Gefühle und Inhalte in bewusstes Erleben kommen, die uns zu einer breiteren und tieferen Sicht der Existenz verhelfen. Vertraut eurer inneren Weisheit, kooperiert mit dem, was passiert, und stellt euch nicht gegen die Erfahrung!«

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